Junge Welt 02.11.2012
/ Thema / Seite 10
Von der Militärdiktatur zum
Polizeistaat
Vor zehn Jahren gewann die islamisch-konservative AKP
die türkischen Parlamentswahlen. Seitdem baut sie das Land streng religiös und
neoliberal um
Von Nick
Brauns
Diyarbakir
am Abend des 3. November 2002: Kurz nachdem im Fernsehen ein Erdrutschsieg der
seit knapp einem Jahr bestehenden islamisch-konservativen Partei für
Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) bei den Parlamentswahlen verkündet wurde,
gingen in unserem Stadtviertel in der kurdischen Metropole im Südosten der
Türkei die Lichter aus. Dort waren wir als unabhängige Wahlbeobachter
untergebracht. Dieser Stromausfall erscheint im Rückblick als dunkles Omen. Aus
dem Stand hatte die AKP (Adalet ve Kalknma Partisi) 34,43 Prozent
der Stimmen und – da bis auf die kemalistische Republikanische Volkspartei CHP
alle anderen Parteien an der Zehn-Prozent-Hürde gescheitert waren – die
absolute Mehrheit der Sitze erhalten. Damit konnte sie als erste religiöse
Partei in der Geschichte der Republik eine Alleinregierung bilden. Die
Kerngruppe ihrer Gründer, darunter der frühere Istanbuler Bürgermeister Recep Tayyip Erdogan, entstammte der radikalislamischen
Tugendpartei. Sie war im Juni 2001 als Nachfolgepartei der 1997 vom Militär aus
der Regierung verdrängten Wohlfahrtspartei verboten worden. Erdogan und seine
Anhänger hatten ihre bislang vertretenen antiwestlichen Auffassungen über Bord
geworfen und bekannten sich zu Demokratie, Marktwirtschaft, NATO-Mitgliedschaft
und EU-Beitritt der Türkei. Sie erhielten Zulauf von Politikern verschiedener
konservativer und nationalistischer Parteien.
Dem Wahlerfolg vorangegangen war im Februar 2001 die schwerste Wirtschaftskrise
in der Geschichte der Republik. Gegen die als korrupt verschrienen etablierten
Parteien präsentierte sich die AK-Partei (»ak«
bedeutet auf Türkisch »weiß«) als saubere Alternative. Unterstützung erhielt
die AKP durch das »grüne Kapital«. Diese frommen anatolischen Kapitalisten
hatten von der nach dem Militärputsch von 1980 eingeleiteten neoliberalen Wende
wirtschaftlich profitiert. Doch sie waren durch die laizistische
Staatsbürokratie und den von dieser repräsentierten staatlichen Kapitalsektor
von der politischen Macht ausgeschlossen. Der als »Mann aus dem Volk«
erscheinende Erdogan, der als junger Mann für einen Fußballverein in einem
Istanbuler Arbeiterviertel spielte und aufgrund des Zitierens eines bekannten
islamistischen Gedichts 1998 eine Gefängnisstrafe verbüßen mußte,
ist eine Identifikationsfigur für die aufstiegsorientierten anatolischen
Mittelschichten.
Wurde die AKP im Westen aufgrund ihrer islamischen Wurzeln anfangs noch
skeptisch betrachtet, gelang es Erdogan schnell, sich durch eine konsequent
wirtschaftsliberale Politik der Privatisierung öffentlichen Eigentums, der
Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und der völligen Marktöffnung für
ausländisches Kapital die Unterstützung von EU und USA zu sichern. In ihrer
ersten Legislaturperiode präsentierte sich die Partei dabei als Reformkraft,
die im Rahmen des EU-Beitrittsprozesses die Todesstrafe abschaffte und den Einfluß des Nationalen Sicherheitsrats beschnitt, der
bisher als militärisches Schattenkabinett gewirkt hatte.
Gwonnener Machtkampf
2007 kam es
zur offenen Machtprobe der AKP mit der alten laizistischen Staatsbürokratie.
Zuerst verbot das Verfassungsgericht eine Gesetzesänderung zur Aufhebung des
Kopftuchverbots an Universitäten. Als die AKP dann den bisherigen Außenminister
Abdullah Gül zum Staatspräsidenten wählen wollte, ließ die kemalistische
Opposition die Wahl mit einem Abstimmungsboykott scheitern. Der durch die Wahl
eines islamischen Politikers zum Oberbefehlshaber der Streitkräfte um seine
Machtstellung fürchtende Generalstab drohte in einem Memorandum mit
militärischem Eingreifen, während Millionen gegen eine Islamisierung der Gesellschaft
demonstrierten. In dieser Situation ließ die AKP-Regierung am 22. Juli
vorgezogene Neuwahlen durchführen, in denen sie ihren Stimmenanteil auf 46,6
Prozent steigern konnte. Insbesondere die vielen kurdischen Wähler, die der AKP
aufgrund der scheinbaren Gegnerschaft zum Militär ihre Stimmen »geliehen«
hatten, wurden schnell desillusioniert. Denn als Zugeständnis an die Generäle,
die sich der Wahl Güls zum Präsidenten nun nicht mehr
widersetzten, gab die AKP im Parlament grünes Licht für grenzübergreifende
Militäroperationen gegen kurdische Rebellen im Nordirak.
Der Machtkampf innerhalb des Staatsapparates spitzte sich 2008 erneut zu, als
das Verfassungsgericht ein Verbotsverfahren gegen die Regierungspartei als
»Zentrum antilaizistischer Aktivitäten« einleitete. Das Verbot scheiterte am
30. Juli 2008 nur knapp mit einer scharfen Verwarnung der damit an die lange
Leine des Staates gelegten AKP. Hatten juristische Kader der mit der AKP
verbündeten pantürkisch-islamischen Fethullah-Gülen-Gemeinde
(siehe jW-Thema vom 19.6.2009) bereits einen Großteil
der untergeordneten Gerichte unter ihre Kontrolle gebracht, so mußte die AKP zur Absicherung ihrer Macht noch die
leitenden Justizgremien gleichschalten. Diesem Ziel diente ein
Verfassungsreferendum zum symbolträchtigen 30. Jahrestag des Militärputsches
vom 12. September 1980, das die Besetzung der Justizaufsicht und des
Verfassungsgerichts der Parlamentsmehrheit und dem Staatspräsidenten
unterstellte. Kritiker dieser von 58 Prozent der Wähler angenommenen Justizreform
wurden von Erdogan pauschal als Putschbefürworter verleumdet.
Um den Einfluß des sich als Hüterin des Laizismus
gebärdenden Militärs zurückzudrängen, die 1960, 1971 und 1980 geputscht und
1997 den Rücktritt der islamischen Regierung von Ministerpräsident Necmettin
Erbakan erzwungen hatten, leiteten AKP-nahe Juristen im Januar 2008 eine
beispiellose Verhaftungsoperation ein. Hunderte Offiziere einschließlich des
früheren Generalstabschefs Ilker Basbug sowie
laizistische Akademiker und Journalisten wurden seitdem unter dem Vorwurf
festgenommen, einem geheimen Netzwerk namens Ergenekon
anzugehören. Sie sollen geplant haben, durch Anschläge Chaos hervorzurufen, um
so einen Militärputsch vorzubereiten, heißt es in der phantastisch klingenden
Anklageschrift, die kurzerhand sogar kurdische und kommunistische
Untergrundorganisationen zum Teil der Ergenekon-Verschwörung
erklärt.
Tatsächliche Kriegsverbrechen, die sich einige der Verhafteten in Kurdistan
zuschulden kommen ließen, stehen dagegen nicht zur Anklage. Der Ergenekon-Prozeß dient der AKP vielmehr zur generellen
Einschüchterung ihrer Kritiker. So wurden im März 2011 die militärkritischen
Journalisten Nedim Sener und Ahmet Sik unter Ergenekon-Vorwürfen inhaftiert, weil sie die Unterwanderung
der Polizei durch die Gülen-Gemeinde enthüllt hatten. Nachdem die US-Regierung
– die traditionelle Schutzmacht der türkischen Streitkräfte – zur Säuberung der
Truppe von den als unzuverlässig eingeschätzten Offizieren durch die AKP-Justiz
schwieg, erklärte der türkische Generalstab im August 2011 kollektiv seinen
Rücktritt. Anfang Oktober 2012 wurden schließlich in einem fragwürdigen Schauprozeß, der auf sichtlich konstruierten Beweisen
beruhte, sechs ehemalige und aktive Generale aufgrund eines angeblich gegen die
AKP-Regierung gerichteten Putschplans namens »Balyoz«
(Vorschlaghammer) zu Haftstrafen von 18 bis 20 Jahren verurteilt.
Autoritärer Kurs
Entmachtet
ist die Armeeführung, die mit der OYAK-Holding als einem der größten Konzerne
des Landes ihre wirtschaftlichen Privilegien behält, heute keineswegs. Unter
Verzicht auf ein direktes Eingreifen in die Politik haben die Generäle ihren
Frieden mit der AKP geschlossen, deren neoosmanische Visionen sie teilen.
Übereinstimmung besteht auch im militärischen Vorgehen gegen die für
Autonomierechte kämpfende kurdische Befreiungsbewegung. Für Kontinuität steht
hier insbesondere Generalstabschef Necdet Özel, der bereits Ende der 90er Jahre
einen Giftgaseinsatz gegen kurdische Guerillakämpfer befehligte. So stellte
sich Erdogan demonstrativ hinter die Armee, als diese im Dezember 2011 bei
einem Luftangriff auf vermeintliche Kämpfer der Arbeiterpartei Kurdistans PKK
im Grenzgebiet zum Irak 34 Dorfbewohner tötete.
Im Parlamentswahlkampf 2011, der in den kurdischen Landesteilen in einer
latenten Bürgerkriegsatmosphäre verlief, warb Erdogan mit einer chauvinistischen
und erstmals auch offen religiösen Demagogie um Stimmen aus dem
rechtsnationalistischen Lager. Damit verprellte er seine bisherigen liberalen
Unterstützer und trieb gleichzeitig selbst religiöse Kurden in die Arme eines
links-kurdischen Wahlblocks, der daraufhin zur stärksten Kraft in mehreren
kurdischen Provinzen wurde. Während andere konservative und religiöse Parteien
in der völligen Bedeutungslosigkeit versanken, gelang es der AKP nicht, die
erneut mit 13 Prozent gewählte faschistische Partei der Nationalen Bewegung MHP
unter die Zehn-Prozent-Hürde zu drücken. So gewann die AKP am 12. Juni 2011
zwar mit 49,9 Prozent abermals gegenüber der vorangegangenen Parlamentswahl
dazu, verfehlte aber Erdogans selbstgestecktes Ziel
einer verfassungsändernden Zweidrittelmehrheit deutlich.
Der nationalistischen Rhetorik entspricht eine zunehmend autoritäre Politik der
AKP. Es gibt heute kaum eine Demonstration von Gewerkschaftern, Sozialisten
oder Kurden, die nicht von der zur schwerbewaffneten Bürgerkriegstruppe
hochgerüsteten Polizei mit Gasgranaten und Wasserwerfern attackiert wird.
Staatsanwaltschaften mit Sondervollmachten haben Tausende kurdische Aktivisten,
Sozialisten, Gewerkschafter, Rechtsanwälte und regierungskritische Akademiker
auf Grundlage der Antiterrorgesetze in Haft genommen. Rund 100 Journalisten und
Medienmitarbeiter sitzen heute in der Türkei im Gefängnis – mehr als in jedem
anderen Land. In kafkaesken Schauprozessen drohen Gegnern der AKP-Regierung
langjährige Haftstrafen.
2009 hatten Gül und Erdogan die kurdische Frage noch zum dringendsten Problem
des Landes erklärt. Doch von der angekündigten »kurdischen Öffnung« blieb am
Ende kaum mehr als eine vom staatlichen Religionsamt Diyanet
vorgenommene Kurdischübersetzung des Koran – als
Symbol der von der AKP angestrebten Bindung der sunnitischen Kurden an den
Staat im Namen des Islam. Dagegen erfolgte eine bis heute andauernde
Verhaftungswelle von rund 9000 Politikern und Aktivisten der legalen Partei für
Frieden und Demokratie (BDP) und ihrer Ende 2009 verbotenen Vorgängerin DTP,
darunter 30 Bürgermeister, sechs Abgeordnete sowie Hunderte Stadträte und
Parteivorstände. Verhandlungen von Geheimdienstvertretern mit dem inhaftierten
PKK-Führer Abdullah Öcalan und der PKK wurden auf Druck von Hardlinern im
Staatsapparat vor den Parlamentswahlen im Mai 2011 abgebrochen. Seitdem pflegt
Erdogan wieder die nationalistische Rhetorik von »einer (türkischen) Nation,
einer Fahne, einer Sprache«, die kurdische Frage wird als »Terrorproblem«
definiert. Indessen offenbart die repressive Kurdenpolitik der AKP ihr
Scheitern. So begann die PKK im Sommer 2012 ihre seit den 90er Jahren stärkste
Offensive, bei der Hunderte Soldaten getötet und ganze Landstriche im Bergland
unter Guerillakontrolle gebracht wurden.
Regionale Großmacht
»Null
Probleme mit den Nachbarstaaten« nannte Außenminister Ahmet Davutoglu
seine Politik der verstärkten Hinwendung zu den islamischen Staaten. So schloß die Türkei unter anderem mit ihren früheren Feinden
Iran und Syrien Wirtschaftsverträge und Kooperationsabkommen gegen die PKK. Die
neoosmanische Außenpolitik der AKP-Administration findet in enger Abstimmung
mit den USA statt. In seiner Rede im Juni 2009 in Kairo benannte US-Präsident
Barack Obama den von der AKP repräsentierten gemäßigten Islam als strategischen
Partner. Mit Hilfe der AKP sollen solche Kräfte wieder in das US-Hegemonieprojekt des »Größeren Mittleren Ostens«
eingebunden werden, die aufgrund der israelischen Aggressionspolitik auf
Distanz zu den USA gegangen waren. Vor dem Hintergrund des »Arabischen
Frühlings« ist die Bedeutung der AKP als türkischer Zweig der nun in Tunesien
und Ägypten regierenden und in Syrien um die Macht kämpfenden
Moslembruderschaft weiter angewachsen.
Mit scharfer Kritik an Israel wie nach der Erschießung von neun türkischen
Aktivisten beim Angriff auf die Gaza-Flotte im Mai 2010 versucht sich Erdogan
als bester Verteidiger palästinensischer Interessen zu präsentieren. Da die
Türkei und Israel weiterhin wirtschaftlich eng verbunden sind und gegenseitige
Militärabkommen nicht gekündigt wurden, toleriert auch die ansonsten
israelfreundliche US-Administration diese verbalen Attacken gegen den
zionistischen Staat als Eintrittskarte des NATO-Mitglieds Türkei in die
islamische Welt. Während sich Erdogan im Sommer 2011 in Kairo als Held der
arabischen Straße feiern ließ, wurde in Ankara die Stationierung einer
Radaranlage in der südostanatolischen Provinz Malatya als Teil des vor allem
gegen Iran gerichteten NATO-Raketenschirms vereinbart. Nachdem sich das Verhältnis
zum Iran dadurch massiv verschlechtert hat, ist auch gegenüber Syrien die
Null-Probleme-Politik inzwischen offenen Kriegsdrohungen gewichen. Erdogan
fordert den Rücktritt seines ehemaligen Verbündeten Baschar
Al-Assad, während bewaffnete syrische Oppositionskräfte von türkischem
Territorium aus agieren und die türkische Armee mehrfach Ziele in Syrien unter Beschuß nahm. Für dieses Spiel mit dem Feuer hat die
Türkei, deren wichtigstes Exportprodukt nach einer Aussage des US-Finanzmoguls
George Soros ihre Armee ist, die Rückendeckung der NATO. Daß
die Türkei heute zunehmend selbstbewußt als regionale
Großmacht auftritt, steht dabei nicht im Widerspruch zu ihrer Rolle als verläßliches trojanisches Pferd der NATO in der islamischen
Welt.
In der laufenden Legislaturperiode soll eine neue Verfassung ausgearbeitet
werden. Eine Einigung der AKP mit der links-kurdischen und der kemalistischen
Opposition erscheint indessen in zentralen Punkten wie den kulturellen und
Minderheitenrechten für nicht-türkisch-sunnitische Bevölkerungsgruppen kaum
möglich. So deutet sich ein Bündnis der AKP mit den faschistischen Grauen
Wölfen für eine dann per Volksentscheid zu verabschiedende Verfassung an. Eine
solche AKP-MHP-Verfassung wird unterdessen kaum demokratischer als die
geltende, auf die Militärdiktatur zurückgehende Verfassung aus dem Jahr 1982
sein. Längst profitiert die AKP von den auf das Putschistenregime
zurückgehenden autoritären Institutionen wie dem Hochschulaufsichtsrat YÖK und
der Rundfunkzensurbehörde RTÜK, aber auch von der Zehn-Prozent-Hürde bei
Parlamentswahlen und restriktiven Gesetzen gegen Gewerkschaften. Erdogans erklärter Wunsch ist es, die Türkei zu einem
Präsidialsystem nach US-amerikanischem Modell umzugestalten. Da er föderale
Strukturen als Gegengewicht zu einem starken Präsidenten strikt ablehnt, würde
dies die bestehenden autoritären Tendenzen rapide verstärken. Es wird zudem
davon ausgegangen, daß Erdogan selber bei der
nächsten Präsidentschaftswahl im Jahr 2014 kandidieren will. Der zunehmend auf
verbale Distanz zur antidemokratischen Politik des Ministerpräsidenten gehende
bisherige Staatspräsident Gül sowie die millionenstarke Gülen-Gemeinde stehen
solchen Ambitionen Erdogans ablehnend gegenüber. Nach
der gemeinsam betriebenen Ausschaltung ihrer laizistischen Gegner im
Staatsapparat kommt es nun verstärkt zu Spannungen zwischen Erdogans
Anhängern in der AKP und den in Justiz und Polizei einflußreichen
Gefolgsleuten des im US-Exil lebenden pensionierten Imam Fethullah
Gülen. So ließen Gülen-nahe Staatsanwälte im Februar 2012 sogar
Geheimdienstchef Hakan Fidan per Haftbefehl jagen, da dieser in Erdogans Auftrag mit PKK-Kadern verhandelt hatte. Im
Gegenzug ließ Erdogan später Gülen-Anhänger im Justizapparat versetzten.
»Freiheit des Markts«
Zentral für
den Erfolg der AKP ist ihr Ruf als Partei des wirtschaftlichen Aufschwungs.
2023 – der 100. Jahrestag der Republikgründung durch Mustafa Kemal Atatürk –
wurde von Erdogan zu dem Jahr benannt, bis zu dem die Türkei von heute Platz 15
unter die zehn führenden Industrieländer aufgerückt sein soll. »Kalkinma (Entwicklung; d. Red.), wie es bereits der Name
der Partei nahelegt, wird zur Chiffre für linearen Aufstieg, chauvinistischen
Nationalstolz und unbegrenztes Wachstum, so als könne man die Türkei auf einen
zweiten Planeten auslagern«, schreiben die Sozialwissenschaftlerinnen Anne Steckner und Corinna Trogisch.
Mit ihrer marktradikalen Politik tritt die AKP bislang als Garant eines steten
Zustroms ausländischen Kapitals in die semiperiphere türkische Ökonomie auf,
das aufgrund niedriger Löhne, stark flexibilisierter Arbeitsverhältnissen und
gefesselter Gewerkschaften satte Profite realisieren kann. Inländische Gewinner
dieser neoliberalen Politik sind die Ober- und Teile der Mittelschicht, während
die Armen über Almosen religiöser Stiftungen an den AKP-Staat gebunden werden.
So hat sich zwar das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen seit 2002 verdoppelt.
Doch durch den – abgesehen vom staatlich subventionierten Bausektor – vor allem
auf ausländischen Investitionen beruhenden Aufschwung entstanden kaum neue
Arbeitsplätze, so daß die Arbeitslosigkeit nach
offiziellen Statistiken bei rund zehn Prozent liegt. Gleichzeitigt ist die
Schere zwischen Arm und Reich laut einer OECD-Studie in keinem Mitgliedsland
außer Mexiko so groß wie in der Türkei.
War die Türkei im vergangenen Jahr mit einer starken Wachstumsrate von 8,5
Prozent noch die am zweitschnellsten wachsende Volkswirtschaft der Welt, so hat
sich die Konjunktur als Folge der Exportabhängigkeit von der krisengeplagten EU
in diesem Jahr mit einem für ein Schwellenland eher bescheidenem Wachstum von
3,2 Prozent deutlich abgekühlt. Durch wachsende Auslandsverschuldung wurde das
Land der Abhängigkeit internationaler Finanzmärkte unterworfen. Ein plötzlicher
Abzug des in der Türkei als Durchlauferhitzer geparkten »hot
money« würde eine tiefe ökonomische Krise hervorrufen
und die AKP als Blenderin entlarven.
Zwar hat die AKP keine geheime islamistische Agenda zur Einführung der Scharia
in der Türkei, wie ihre kemalistischen Gegner befürchten. Doch die Partei
spielt die religiöse Karte zur Legitimierung ihrer neoliberalen Wirtschafts-
sowie ihrer autoritären Innen- und militaristischen Außenpolitik. »Es ist
richtig, die AKP ist fundamentalistisch – aber fundamentalistisch neoliberal«,
meint der Türkeiexperte der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Murat Cakir. Das
Religionsverständnis der AKP »sieht die private Kapitalakkumulation als
anstrebenswerte religiöse Tat, suggeriert die Akzeptanz von Armut als Prüfung
für das Jenseits, predigt die Unterwürfigkeit vor dem Arbeitgeber als ethnische
Pflicht eines jeden Muslims und propagiert ein paternalistisches
Staatsverständnis«. Ein deutlicher Gradmesser für das zunehmend reaktionäre
Klima ist die Situation der Frauen. So nahm selbst nach Angaben des
Justizministeriums unter der AKP-Regierung die Gewalt gegen Frauen massiv zu.
Gleichzeitig propagiert Erdogan das Gebären von mindestens drei Kindern als
patriotische Pflicht jeder Türkin und kündigt ein völliges Abtreibungsverbot
an.
Die zur neuen Staatspartei aufgestiegene AKP hat heute das autoritäre, von
rassistischer Staatsideologie geprägte Erbe des Kemalismus angetreten. Unter
ihrer Regierung fand dabei keine Demokratisierung statt. Vielmehr erfolgte ein
Wandel von der laizistisch geprägten Militärdiktatur zum religiös verbrämten
neoliberalen Polizeistaat.