Junge Welt 08.09.2012 / Geschichte / Seite 15

»Ägypten den Ägyptern«

Vor 130 Jahren begann die britische Kolonialherrschaft am Nil

Von Nick Brauns

 

Der Sieg britischer Truppen über aufständische ägyptische Offiziere am 13. September 1882 leitete die jahrzehntelange direkte Kolonialherrschaft Großbritanniens über Ägyptens ein. Doch der Weg des Landes am Nil in die ökonomische und politische Versklavung hatte bereits rund 40 Jahre zuvor mit der Niederlage des ägyptischen Vizekönigs (Khedive) Muhammad Ali Pascha gegen eine Allianz des osmanischen Sultans und der europäischen Großmächte begonnen. Unter Ali Pascha, der 1807 die britische Armee geschlagen und zum Abzug aus der osmanischen Provinz Ägypten gezwungen hatte, wurde ein staatliches Modernisierungs- und Industrialisierungsprogramm des Agrarlandes eingeleitet. Doch mit der unter dem Druck einer anglo-türkischen Flottendemonstration vor Alexandria erzwungenen Aufkündigung des staatlichen Handelsmonopols im Jahr 1838 wurde dieser nationalen Entwicklungspolitik die Grundlage entzogen.

Auf der Londoner Konferenz 1840 stellten sich Großbritannien, Rußland, Österreich und Preußen hinter den Sultan als Oberherren über Ägypten, europäische Truppen intervenierten gegen die Streitkräfte des nach Eigenständigkeit strebenden ägyptischen Stadthalters Ali. Zwar wurde dessen Erbmonarchie anerkannt. Doch sein Versuch der Gründung des ersten unabhängigen Staates im arabischen Osten war gescheitert. Das Land mußte in den Weltmarkt integriert werden, so daß es in zunehmende Abhängigkeit von Europa – insbesondere von Großbritannien – geriet.

Nationale Protestbewegung


Das Wechselspiel zwischen dem verschwendungssüchtigen feudalen Herrscherhaus und europäischen Banken, die Anleihen zu Wucherpreisen vergaben, trieb Ägypten in die Schuldenfalle. Mehr als zwei Drittel seiner Exporte, die zu über 80 Prozent aus Baumwolle bestanden, gingen nach Großbritannien. Aufgrund des ab 1865 einsetzenden Preisverfalls für Baumwolle konnte die Regierung 1875 ihre Auslandsschulden, von denen Großbritannien den größten Posten hielt, nicht mehr bezahlen. Mit Hilfe des Londoner Bankhauses Rothschild erwarb der britische Premierminister Benjamin Disraeli nun den ägyptischen Anteil von 40 Prozent der Aktien für den Suez-Kanal, zu dessen Bau 1859 bis 1869 Zehntausende ägyptischer Fellachen in Zwangsarbeit beigetragen hatten. Die britische Regierung wurde so zum Haupteigentümer dieser direkten Seeverbindung zu ihrer Kronkolonie Indien. Aufgrund der ägyptischen Zahlungsunfähigkeit wurde im folgenden Jahr eine anglo-französische Zwangsschuldenverwaltung eingesetzt, 1878 rückten zwei europäische Minister in den ägyptischen Ministerrat ein. Ein Liquidationsgesetz von 1880 schrieb vor, daß die Hälfte aller Staatseinnahmen zur Schuldentilgung dienen sollte.

Die den Tod Tausender Menschen durch Hunger und Krankheit bedingende Auspressung des Landes durch das europäische Kapital führte zur Entstehung einer nationalen Protestbewegung. Diese umfaßte nahezu alle Klassen und Schichten – außer der zumeist turko-tscherkessischen Feudalklasse und einer kleinen Kompradorenschicht. Zu ihrem Kern wurden rund 3000 vor allem aus der Bauernschaft stammende ägyptische Offiziere um Oberst Ahmad Urabi Pascha, die sich gegen eine von Frankreich und Großbritannien erzwungene radikale Truppenverkleinerung und die Dominanz der Turko-Tscherkessen im Offizierskorps wehrten. Im Februar 1879 erzwang die Garnison von Kairo den Rücktritt des Kabinetts und die Ernennung des liberalen Großgrundbesitzers Sarif Pascha zum Ministerpräsidenten. Unter der Losung »Ägypten den Ägyptern« legte die sich nun als Nationalpartei konstituierende Bewegung in ihrem Manifest vom 4. November 1879 ihre Forderungen nach Befreiung des Landes aus finanzieller Abhängigkeit vom Ausland, der Entfernung aller Ausländer aus dem Staatsapparat, einer Schul- und Verwaltungsreform, der Verstärkung der Armee sowie der Einsetzung einer demokratischen Verfassung dar.

Die Zurückweisung dieser Forderungen durch den neuen, auf europäischen Druck eingesetzten, Khediven Taufiq, sowie dessen Dekret, ägyptische Soldaten auf Dauer von der Offizierslaufbahn auszuschließen, führten ab Sommer 1880 zur offenen Revolte der ägyptischen Offiziere. Diese erzwangen im Februar 1881 mit einer gewaltsamen Demonstration die Entlassung des Kriegsministers und die Zusage einer Gleichbehandlung von ägyptischen und turko-tscherkessischen Offizieren. Im folgenden Jahr mußte der Khedive der Ernennung Urabis zum Unterstaatssekretär im Kriegsministerium sowie der Einberufung einer Deputiertenkammer zustimmen. Diese von der Nationalpartei dominierte Kammer beanspruchte das Budgetrecht und geriet damit in direkten Widerspruch zu den Hauptgläubigerländern Großbritannien und Frankreich.

In einer diplomatischen Note erklärten die Regierungen dieser beiden Staaten am 8. Januar 1882 ihre Entschlossenheit, den internen und externen Status quo in Ägypten einschließlich ihrer direkten Finanzkontrolle zu wahren. Während ein Block konservativer Großgrundbesitzer, Großkaufleute und höherer Beamter um Ministerpräsidenten Sarif Pascha angesichts dieses Ultimatums die nationale Bewegung verließ, bildete sich ein neues »Kabinett der nationalen Revolution« unter Mahmut Sami al-Barudi als Premier und mit Urabi als Kriegsminister.

Angesichts der breiten Zustimmung, die das von dieser Regierung entsprechend dem Manifest der Nationalpartei eingeleitete Reformprogramm fand, sah sich der Khedive außerstande, die Forderung der mit Kriegsschiffen vor Alexandria aufgefahrenen Großmächte nach Auflösung des Revolutionskabinetts durchzuführen. Im ganzen Land wurde unterdessen der Ruf nach Absetzung des Khediven laut.

Es sei der Wunsch der britischen Regierung, erklärte der britische Außenminister Lord Granville am 11. Juli 1882, »daß die Schiffahrt durch den Suezkanal frei und ungehindert bleibt, daß Ägypten (…) gut und ruhig regiert wird, daß internationale Vereinbarungen eingehalten werden und daß die britischen kommerziellen und finanziellen Interessen, die sich in Ägypten herausgebildet haben, angemessenen Schutz erhalten und keinen Ausschreitungen ausgesetzt sind«. Im Vordergrund standen die finanziellen Interessen der britischen Finanzaristokratie, während der Schutz des zu keinem Zeitpunkt bedrohten Suez-Kanals nur ein öffentlicher Vorwand für die kommende, von Deutschland und Österreich-Ungarn diplomatisch unterstützte Militärintervention darstellte.

Nachdem sich die ägyptische Regierung weigerte, auf ein Ultimatum hin die Artilleriegeschütze im Hafen von Alexandria zu demontieren, begannen britische Kriegsschiffe am Morgen des 11. Juli »zur Selbstverteidigung« mit dem Beschuß der Stadt. Der Khedive, der sich nach Landung britischer Truppen dem Schutz der Angreifer unterstellt hatte, wurde von den Rechtsgelehrten der Al-Azhar-Universität zum Landesverräter erklärt, während Urabi in Kairo ein Nationales Verteidigungskomitee bildete. Zwar kam es auch in anderen arabischen Provinzen des Osmanischen Reiches zu Sympathiebekundungen für die ägyptische Befreiungsbewegung. Doch gegen die modernen Waffen der Briten kamen die schlecht gerüsteten Rebellen nicht an. Nach der militärischen Niederlage Urabis bei Tel el-Kebir auf dem Weg zum Suez-Kanal, zogen die britischen Truppen am 14.September in Kairo ein. 29000 Aufständische wurden inhaftiert, die neu ausgearbeitete Verfassung für ungültig erklärt, das Parlament aufgelöst und die Nationalpartei verboten. Urabi wurde nach Ceylon in die Verbannung geschickt, von wo er erst 20 Jahre später wieder in seine Heimat zurückkehren durfte.

Britische »Ratgeber«


Formell blieb Ägypten Teil des Osmanischen Reiches. Doch der britische Generalkonsul war der wahre Herrscher des Landes, und in die Ministe­rien zog ein Heer britischer »Ratgeber« ein, die hinter einer kleinen Schicht von eng mit den Großgrundbesitzern verbundenen ägyptischen Politikern die Geschicke des Landes lenkten. Die ägyptische Armee wurde einem britischen General als Oberbefehlshaber unterstellt. Ägypten wurde nun fest als Rohstofflieferant, Absatzmarkt und Kapitalanlageplatz der Londoner City in das britische Empire integriert. Die Landwirtschaft des einstigen Getreideexporteurs wurde dabei so auf Baumwolle monopolisiert, daß Ägypten Nahrungsmittel einführen mußte.

Offiziell wurde Ägypten in den 30er Jahren in die Unabhängigkeit entlassen, doch die letzten britischen Okkupanten wurden erst 70 Jahre nach ihrem Einmarsch durch den Aufstand der Freien Offiziere im Jahr 1952 vertrieben. Deren führender Kopf, Oberst Gamal Abdel Nasser, rehabilitierte Ahmad Urabi als Patrioten, dessen Erbe er mit der Gründung der Republik Ägypten antrat.