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Aus: junge Welt Ausgabe vom 24.04.2015, Seite 12 / Thema

»Alle Tode der Erde«

Vor 100 Jahren verübte die jungtürkische Regierung des Osmanischen Reichs systematisch Völkermord an den Armeniern. Das Deutsche Reich hatte davon detaillierte Kenntnis, unterließ aber alle Schritte, den Kriegsverbündeten zum Einlenken zu bewegen.

Von Nick Brauns

»Ist dem Herrn Reichskanzler bekannt, dass während des jetzigen Krieges im verbündeten türkischen Reiche die armenische Bevölkerung zu Hunderttausenden aus ihren Wohnsitzen vertrieben und niedergemacht worden ist?« wollte der sozialistische Abgeordnete Karl Liebknecht am 11. Januar 1916 im Reichstag wissen.¹ Und welche Schritte die Reichsleitung bei der verbündeten türkischen Regierung unternommen habe, »um die gebotene Sühne herbeizuführen, die Lage des Restes der armenischen Bevölkerung in der Türkei menschenwürdig zu gestalten und die Wiederholung ähnlicher Greuel zu verhindern?« Der Reichsleitung sei bekannt, dass die osmanische Regierung, »durch aufrührerische Umtriebe unserer Gegner veranlasst, die armenische Bevölkerung bestimmter Gebietsteile des türkischen Reiches ausgesiedelt und ihr neue Wohnstätten angewiesen hat«, gab ein Vertreter des Auswärtigen Amtes in seiner Antwort die bis heute bei der türkischen Regierung gültige Lesart der Ereignisse wieder. Als Liebknecht in einer Nachfrage unter Berufung auf den Gründer des Armenischen Hilfswerks, Pfarrer Johannes Lepsius, von einer »Ausrottung der türkischen Armenier« sprach, wurde er von anderen Reichstagsabgeordneten unterbrochen und ihm dann unter »lebhaftem Bravo« vom Reichstagspräsidenten das Wort entzogen.

»Wucherer« und »Verschwörer«

Der am 2. August 1914 zwischen dem Deutschen Kaiserreich und dem Osmanischen Reich geschlossene Bündnisvertrag sicherte der deutschen Militärmission im Krieg, in den die Türkei mit der Beschießung russischer Schwarzmeerhäfen Ende Oktober 1914 eingetreten war, weitreichenden Einfluss auf die türkische Armee zu. Die deutsche Militärführung erhoffte sich von dem Bündnis eine Entlastung der europäischen Fronten durch die Eröffnung neuer Kriegsschauplätze im Kaukasus und Nordafrika. Dagegen verbanden die in Konstantinopel regierenden Jungtürken des »Komitees für Einheit und Fortschritt« (İttihat ve Terakki Cemiyeti, CUP) mit dem Kriegsbündnis nicht nur die Hoffnung auf neue Eroberungen, sondern auch innenpolitische Zielsetzungen. Die türkische Regierung wolle »den Weltkrieg dazu benutzen, mit ihren inneren Feinden – den einheimischen Christen – gründlich aufzuräumen, ohne dabei durch diplomatische Intervention des Auslandes gestört zu werden«,² meldete der deutsche Botschafter in Konstantinopel im Juni 1915 dem Reichskanzler unter Berufung auf den osmanischen Innenminister Talaat Pascha.

Die im Grenzgebiet zu Russland sowie verstreut im ganzen Land siedelnden christlichen Armenier hatten als Glaubensnation (millet) nach islamischen Recht den Status von rechtlich benachteiligten und mit einer hohen Sondersteuer belegten »Schutzbefohlenen«. Obwohl 80 Prozent von ihnen Bauern waren, dominierten die Armenier gemeinsam mit anderen christlichen Gruppen Handel, Finanzen und Handwerk. Deswegen sahen sie sich im 19. Jahrhundert mit ähnlichen stereotypen Vorurteilen als »heimatlose Wucherer« konfrontiert wie die europäischen Juden. Die armenischen Bauern litten zudem unter Überfällen kurdischer Räuberbanden, die als nomadische Viehzüchter im selben ostanatolischen Gebiet lebten. In den Jahren 1894 bis 1896 massakrierten die Sultan Abdul Hamid II. unterstehenden kurdischen Hamidiye-Reiter bei Pogromen mehr als 200.000 Armenier. »Nein, das armenische Volk darf nun und nimmer darüber zugrunde gehen, dass augenblicklich deutsches Kapital in Kleinasien Interessen wahrzunehmen hat«,³ beklagte der sozialdemokratische Politiker Eduard Bernstein unter Verweis auf den Bau der Anatolischen- und der Bagdadbahn durch ein von der Deutschen Bank geführtes Konsortium im Jahr 1902 das Schweigen der Reichsregierung zu diesen Greueltaten. Unter Berufung auf den 1878 geschlossenen Berliner Vertrag, mit dem die europäischen Großmächte ihre Interessen gegenüber der Türkei abgesteckt hatten, beschwor der am rechten Flügel der SPD stehende Bernstein eine Schutzverpflichtung der Reichsleitung gegenüber den Armeniern. Denn »vor nichts beugt sich der Orientale mehr als vor einem starken Willen, hinter dem eine Macht steht. Die Macht ist aber nun einmal bei Europa«. Solche Forderungen nach einer »humanitären Intervention« erwiesen den Armeniern allerdings einen Bärendienst. Denn die europäischen Mächte spielten sich zwar als Schutzpatrone der Christen in der Türkei auf. Doch dahinter verbargen sich imperialistische Interessen – wie etwa bei Russland, dessen erklärtes Ziel die Kontrolle über die Meerengen war. Je stärker Europa verbal die armenischen Hoffnungen auf rechtliche Gleichstellung oder Autonomie ermutigte, desto mehr erschienen die Armenier in den Augen muslimischer Türken als Agenten einer christlichen Verschwörung zur kolonialen Aufteilung des seit einem Staatsbankrott 1875 bereits unter internationaler Finanzkontrolle stehenden Reiches.

»Ausschließlich türkisch«

Seit 1908 herrschte das durch einen Militärputsch an die Macht gelangte »Komitee für Einheit und Fortschritt« (CUP), in dem sich reformorientierte Offiziere, Beamte und Intellektuelle zusammengeschlossen hatten. Nach dem Verlust der letzten europäischen Besitzungen während der Balkankriege 1912/13 setzte sich innerhalb des CUP die Überzeugung durch, die verbliebenen anatolischen Kerngebiete nur durch ethnische Homogenisierung sichern zu können. So hatte einer der CUP-Führer, der Arzt Mehmet Nazim, bereits 1909 gefordert: »Das Osmanische Reich muss ausschließlich türkisch sein, die Existenz fremder Elemente bietet einen Vorwand für europäische Interventionen. Diese Elemente müssen mit Waffengewalt türkisiert werden Dazu kamen ökonomische Ziele. Das CUP trat zudem für eine Beseitigung »nichtmuslimischer Elemente und Ausländer vom Markt« ein. Denn aufgrund des halbkolonialen Status des Osmanischen Reichs hatte sich bislang keine türkisch-muslimische nationale Bourgeoisie, sondern lediglich die christliche Kompradorenbourgeoisie in den Küstenstädten entwickeln können. Dazu kam der Landhunger Hunderttausender in die Türkei geströmter und von Revanchegedanken gegenüber Christen erfüllter muslimischer Flüchtlinge vom Balkan und aus dem Kaukasus, den das CUP mit armenischem Eigentum zu stillen hoffte.

Waren Jungtürken und armenische Nationalrevolutionäre im Kampf gegen den Absolutismus noch enge Verbündete gewesen, so kollidierten diese Pläne zur Türkisierung zwangsläufig mit armenischen Emanzipationsbestrebungen. Den äußeren Anlass zur Umsetzung eines im Zentralkomitee des CUP ausgearbeiteten Geheimplanes zur »Ausmerzung des armenischen Volkes in seiner Gesamtheit« lieferte die katastrophale Niederlage des von Kriegsminister Enver Pascha persönlich geleiteten Winterfeldzuges im Südkaukasus. 90 Prozent der 100.000 Soldaten der III. Armee hatten die Großoffensive im Januar 1915 nicht überlebt, die Mehrzahl von ihnen war im schneebedeckten Hochland erfroren, verhungert oder Krankheiten zum Opfer gefallen. Um von ihrem Versagen abzulenken, schoben Enver und sein deutscher Generalstabschef Friedrich Bronsart von Schellendorf die Schuld auf beiderseits der Grenze lebende Armenier, die der Truppe in den Rücken gefallen seien. Damit war die türkische Dolchstoßlegende geboren.

Die Order zur »kriegsbedingten« Deportation der Armenier – die in den Händen der jungtürkischen Junta zum Vernichtungsinstrument wurde – geht möglicherweise sogar auf deutsche Militärs zurück. In seinen Memoiren berichtet Innenminister Talaat über ein von Generalstabschef Schellendorf für Ende 1914 einberufenes Geheimtreffen. Auf türkischer Seite nahmen das regierende Triumvirat aus Enver, Talaat und Marineminister Cemal sowie der Großwesir teil, auf deutscher Seite Schellendorf, dessen Operationsleiter im türkischen Großen Hauptquartier, Otto von Feldmann, sowie der Leiter der Militärmission Otto Liman von Sanders. Schellendorf habe armenische Sabotagetätigkeit hinter den Frontlinien beklagt und von der türkischen Regierung Maßnahmen zum Schutz der Truppe gefordert. Für diese Darstellung Talaats spricht, dass General Feldmann nach dem Krieg freimütig eingestand, er und andere deutsche Offiziere hätten den osmanischen Bündnispartnern geraten, »zu bestimmten Zeiten gewisse Gebiete im Rücken der Armee von Armeniern freizumachen«.

 

»Verschickung ins Nichts«

Zuerst wurden Ende Februar 1915 die 200.000 armenischen Soldaten der osmanischen Armee entwaffnet, in Arbeitsbataillonen konzentriert und im Laufe des Jahres exekutiert. Im nächsten Schritt erfolgte am 24./25. April die Verhaftung, Verschleppung und Ermordung von Hunderten Angehörigen der armenischen intellektuellen, politischen, religiösen und wirtschaftlichen Elite in Konstantinopel. Zwei Tage danach verkündete Talaat das Deportationsgesetz. »In der Befürchtung, dass die Armenier, ihrer Gewohnheit gemäß, sich zu Aufständen, Tumulten und Empörungen hergeben könnten, hat die Regierung beschlossen, dass alle Armenier vereinigt und nach den Vilajets von Mossul und Syrien gebracht werden sollen (…) und dass sie in diesen Gebieten bis zur Beendigung des Krieges Aufenthalt zu nehmen haben.« Zur Rechtfertigung dieser Maßnahmen konnte die Regierung auf einen kurz zuvor in der ostanatolischen Stadt Van ausgebrochenen Aufstand bewaffneter Armenier verweisen. In Wirklichkeit handelte es sich dabei um einen Akt der Selbstverteidigung gegen die Drangsalierung und Massakrierung der Armenier durch Banden des Gouverneurs.

Die Umsetzung des Deportationsgesetzes und seiner tödlichen Intention lag bei einer dem Zentralkomitee des CUP unterstellten Spezialorganisation (Teskilat-i Mahsusa), die aus kurdischen Stammeskriegern, muslimischen Flüchtlingen vom Balkan und aus dem Kaukasus sowie entlassenen Gewaltverbrechern gebildet wurde. Dass gleichzeitig eine Behörde zur »Verwaltung herrenloser Güter« geschaffen wurde, verdeutlicht die Absicht des CUP die Armenier, rund zehn Prozent der osmanischen Bevölkerung, zu berauben.

Bei landesweiten Dorfrazzien wurden zuerst Waffen eingesammelt, anschließend die armenischen Männer außerhalb der Dörfer massakriert und dann Frauen, Kinder und Alte auf Todesmärschen nach Mesopotamien getrieben. Dabei waren sie Angriffen von Todesschwadronen der Teskilat-i Mahsusa und Räuberbanden ausgesetzt. Unzählige Armenierinnen wurden vergewaltigt, versklavt und zum Übertritt zum Islam gezwungen. »Die Armenier wurden auf dem Weg in die Wüste von Kurden erschlagen, von Gendarmen beraubt, erschossen, erhängt, vergiftet, erdolcht, erdrosselt, von Seuchen verzehrt, ertränkt, sie erfroren, verdursteten, verhungerten, verfaulten, wurden von Schakalen angefressen. Kinder weinten sich in den Tod, Männer zerschmetterten sich an den Felsen, Mütter warfen ihre Kleinen in die Brunnen, Schwangere stürzten sich mit Gesang in den Euphrat. Alle Tode der Erde, die Tode aller Jahrhunderte starben sie«, beschrieb der deutsche Sanitätsoffizier Armin Wegner den von ihm unter hohem persönlichen Risiko fotografisch dokumentierten Todesgang des armenischen Volkes.

Die Verbannten würden kreuz und quer durch die Wüste geführt, um sie »zu Tode zu wandern«, meldete der deutsche Konsul Walter Rößler, der sich in Aleppo im Rahmen eines Untergrundnetzwerkes europäischer und amerikanischer Hilfsgesellschaften aktiv an der Rettung von Armeniern beteiligte, nach Berlin.¹ Gegenüber dem Bürgermeister von Aleppo, der seine Sorge über das Schicksal Zehntausender in den Vororten der Stadt zusammengepferchter Armenier ausgedrückt hatte, sprach Talaat in einem Telegramm Klartext: »Das Ziel der Verschickung ist das Nichts.«¹¹ Dieses Nichts war Deir-es-Zor in der mesopotamischen Wüste. Dort massakrierten Todesschwadronen im Juli 1916 diejenigen Armenier, die nicht zuvor in der glühenden Hitze verdurstet oder an Seuchen zugrunde gegangen waren.

»Die armenische Frage existiert nicht mehr«,¹² erklärte Talaat am 31. August 1916 gegenüber einem deutschen Botschaftsvertreter. Innerhalb von nur eineinhalb Jahren waren zwei von 2,5 Millionen Armeniern im Osmanischen Reich aus ihrer Heimat vertrieben worden. Bis zu 1,5 Millionen – einschließlich Hunderttausender Assyrer-Aramäer – hatten dabei den Tod gefunden.

»Hart, aber nützlich«

Die Führung des deutschen Kaiserreichs hatte über ihre diplomatischen Vertretungen detaillierte Kenntnis von den Vorkommnissen im Osmanischen Reich. »Dieser Umstand und die Art, wie die Umsiedlung durchgeführt wird, zeigen, dass die Regierung tatsächlich den Zweck verfolgt, die armenische Rasse im türkischen Reiche zu vernichten«,¹³ meldete Botschafter Hans von Wangenheim am 7. Juli 1915 nach Berlin. Doch eine Clique deutscher Offiziere und Diplomaten unterstützte sogar die explizite Vernichtungsabsicht der jungtürkischen Führung. »Die Armenier werden – aus Anlass ihrer Verschwörung mit den Russen – jetzt mehr oder weniger ausgerottet, das ist hart, aber nützlich«, vermerkte Marineattaché Hans Humann, ein enger Freund Envers.¹ Der Chef der osmanischen Flotte, Admiral Wilhelm Souchon, notierte in seinem Tagebuch, »für die Türkei würde es eine Erlösung sein, wenn sie den letzten Armenier umgebracht hat, sie würde dann die staatsfeindlichen Blutsauger los sein«.¹ Oberstleutnant Sylvester Boettrich unterzeichnete als Leiter des Verkehrswesens im türkischen Großen Hauptquartier persönlich Deportationsbefehle für Tausende beim Bau der Bagdadbahn eingesetzte armenische Arbeiter – während deutsche Ingenieure versuchten, einige von ihnen mit gefälschten Personallisten zu retten. Stabsoffizier Eberhard Graf Wolffskeel von Reichenberg, der bereits im März 1915 in Zeitun im Bezirk Maras Tausende Armenier aus ihren Dörfern deportieren ließ, ordnete im Oktober 1915 den Artilleriebeschuss des Armenierviertels von Urfa an. Dessen Bewohner hatten sich gegen ihre drohende Deportation verbarrikadiert.

Dass das Deutsche Reich durchaus Möglichkeiten gehabt hätte, seinen osmanischen Verbündeten zum Schutze der Armenier in den Arm zu fallen, beweist das Beispiel von General Liman von Sanders. Der Leiter der Militärmission untersagte im November 1916 aus militärischen Gründen die Deportationen der Armenier aus Smyrna (Izmir), und selbst Talaat musste sich dieser Weisung fügen. Doch die Reichsführung unterließ es, Druck auszuüben. »Die vorgeschlagene öffentliche Koramierung (zur Redestellen; N.B.) eines Bundesgenossen während laufenden Krieges wäre eine Maßnahme, wie sie in der Geschichte noch nicht dagewesen ist. Unser einziges Ziel ist es, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht Mit diesen Worten wies Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg im Dezember 1915 den Vorschlag des neuen – und bald auf Druck der deutschen Militärs wieder abberufenen – Botschafters in Konstantinopel, Paul Graf Wolff-Metternich, zurück, zumindest in der deutschen Presse »den Unmut über die Armenierverfolgung zum Ausdruck kommen zu lassen und mit Lobhudeleien der Türken aufzuhören«.¹

Staatsräson bis heute

Mit dem Diktatfrieden von Sèvres vom August 1920 drohte die Aufteilung des Osmanischen Reiches unter den Ententemächten. Der niemals ratifizierte Vertrag sah zudem die Bildung eines armenischen Staates und die juristische Verfolgung der Genozidverantwortlichen vor. Im von Ententetruppen besetzten Konstantinopel verurteilten osmanische Kriegsgerichte 1920 rund 20 führende CUP-Mitglieder wegen der Armeniermassaker teilweise in Abwesenheit zum Tode. Ein deutsches U-Boot hatte schon nach dem Waffenstillstand von Mudros Anfang November 1918 acht jungtürkische Führer außer Landes gebracht. Dahinter stand die Sorge, diese könnten Deutschland im Falle ihrer Gefangennahme durch die Alliierten belasten. Aus diesem Grund gewährte ihnen die Weimarer Reichsregierung Asyl in Berlin. Dort fiel Talaat 1921 nahe seiner Wohnung in der Hardenbergstraße einem Anschlag zum Opfer. Der in einem vielbeachteten Prozess freigesprochene Attentäter Soghomon Tehlirian gab an, seine Familie während der Massaker verloren zu haben. Das war nur die halbe Wahrheit. Denn in Wirklichkeit gehörte Tehlirian dem armenischen Rächerkommando »Operation Nemesis« an, das auf eigene Faust die Todesurteile gegen die geflohenen Genozidverantwortlichen vollstreckte. Enver Pascha fiel 1922 in Kampf für ein zentralasiatisches Kalifat während eines Reitergefechts gegen die Rote Armee in Tadschikistan.

Viele CUP-Mitglieder hatten sich aus Angst vor Verfolgung in die Reihen der gegen die Besetzung Anatoliens kämpfenden Nationalbewegung unter Mustafa Kemal geflüchtet. Den Kader dieser Nationalen Streitkräfte bildeten wiederum die Teskilat-i Mahsusa mit ihren geheimen Waffenlagern im ganzen Land.

Zwar war Mustafa Kemal durch seinen Einsatz an anderen Fronten nicht selbst in die Armenierverfolgung 1915/16 involviert. Doch nun wurden im Kampf gegen die auf alliierte Ermutigung hin entstandene armenische Republik 1920 weitere Hunderttausende Armenier von den Nationalen Streitkräften abgeschlachtet. »Es ist unverzichtbar, dass Armenien politisch und physisch vernichtet wird«,¹ lautete der Geheimbefehl der kemalistischen Führung an den Kommandanten der östlichen Front, Kazim Karabekir.

Die Verantwortlichen für den Genozid wurden nach Gründung der Republik 1923 amnestiert und erlangten vielfach Schlüsselstellungen im neuen Staat. Die von ihnen propagierte Politik ethnischer Homogenisierung richtete sich jetzt auch gegen Bevölkerungsgruppen wie die sunnitischen Kurden, die zuvor noch vielfach auf der Täterseite zu finden waren. Per Beschluss der türkischen Nationalversammlung wurde ein Großteil des geraubten armenischen Vermögens als Startkapital für die Republik konfisziert während viele der kleinen Vollstrecker armenisches Land- und Immobilieneigentum übertragen bekamen. Bis heute sind Straßen und Schulen nach Massenmördern wie Talaat und Enver benannt. Diese politischen, personellen und materiellen Wurzeln der modernen Türkei haben die armenische Frage zum gesellschaftlichen Tabu werden lassen, das erst in den letzten Jahren langsam aufbrach. Die Leugnung des Völkermordes gehört allerdings bis zum heutigen Tage zur Staatsräson einer jeden türkischen Regierung.

Anmerkungen

1 Karl Liebknecht: Gesammelte Reden und Schriften, Bd. VIII. Berlin 1972, S. 438 f.

2 Botschafter Wangenheim an Reichskanzler Bethmann Hollweg, 16.6.1915, A 19744, PA AA–Türkei, 183, Bd. 37. Die Dokumente aus dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes bezüglich der Armenier sind veröffentlicht auf www.armenocide.de

3 Eduard Bernstein/Otto Umfried: Armenien, die Türkei und die Pflichten Europas, Bremen 2015, S. 48 f.

4 Zit. nach Klaus Hemmo: Warum sie Feinde wurden. Völkerhass vom Balkan bis zum Nahen Osten. Düsseldorf 2001, S. 68

5 Cemal Kutay. Şehit sadrıazâm Talât Paşaʾnın gurbet hatıraları, 3. cilt, 1983, S. 1197.

6 Deutsche Allgemeine Zeitung Nr. 301 vom 30.6.1921

7 Zit. nach Artem Ohanddjanian: Armenien – Der verschwiegene Völkermord. Wien 1989, S. 95

8 Zit. nach: Wolfgang Gust: Der Völkermord an den Armeniern. Die Tragödie des ältesten Christenvolks der Welt. München 1993, S. 12-13

9 A 2888, PA AA–Türkei, 183, Bd.41

10 Zu Rößlers Anstrengungen siehe die neu erschienene Biographie von Kai Seyffarth: Entscheidung in Aleppo – Walter Rößler (1871–1929). Bremen 2015

11 Zit. nach Jürgen Gottschlich: Beihilfe zum Völkermord – Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier. Berlin 2015, S. 28

12 Zit. nach: Klaus Kreiser: Atatürk – Eine Biographie. München 2008, S. 102

13 Bericht Botschafter Wangenheim an Reichskanzler Bethmann Hollweg, 7.7.1915, A 21257, PA AA–Türkei, 183, Bd. 37

14 Zit. nach: Gottschlich, S. 197

15 Ebda., S. 206

16 Botschafter Wolff-Metternich an Reichskanzler Bethmann Hollweg, 7.12.1915, A 36184, PA AA–Türkei, 183, Bd. 40, handschriftliche Notiz Bethmann Hollwegs

17 Zit. nach: Perry Anderson: Nach Atatürk – Die Türken, ihr Staat und Europa, Berlin 2009, S. 45

Neuere Literatur zum Thema

Yetvart Ficiciyan: Der Völkermord an den Armeniern im Spiegel der deutschsprachigen Tagespresse 1912–1922. Donat Verlag, Bremen 2015, 448 Seiten, 19,80 Euro

Kai Seyffarth: Entscheidung in Aleppo – Walter Rößler (1871–1929). Donat Verlag, Bremen 2015, 352 Seiten, 16,80 Euro

Werner Röhr: Der türkische Völkermord an den Armeniern 1915/16 – Zur Kasuistik seiner Leugnung in der Gegenwart. Supplement der Zeitschrift Sozialismus 4/2015, 49 Seiten