Amnestie!

Vor 80 Jahren erkämpfte die Rote Hilfe die Freilassung zahlreicher proletarischer politischer Gefangenen.

Die Mitte der 1920er Jahre gelten in der bürgerlichen Geschichtsschreibung als die „Goldenen Zwanziger“. Doch die wirtschaftliche und politische Stabilisierung kam vor allem dem besitzenden Bürgertum zu Gute, während die Verfolgung revolutionärer Arbeiterinnen und Arbeiter andauerte. Auch nach der Auflösung des für seinen rabiaten Antikommunismus berüchtigten „Staatsgerichtshofes zum Schutze der Republik“ im Jahre 1926 wurde die harte Rechtsprechungspraxis des Reichsgerichts gegenüber Aktivistinnen und Aktivisten der Linken beibehalten. Schon die bloße Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei wurde als Vorbereitung zum Hochverrat ausgelegt. Zwischen 1924 und 1927 wurden insgesamt 1680 Personen zu zum Teil hohen Zuchthausstrafen wegen Verstößen gegen das von seiner Intention eigentlich gegen faschistische Attentäter erlassene Republikschutzgesetz verurteilt. Am 17. August 1925 hatte der Reichstag zwar ein unter dem Namen Hindenburg-Amnestie bekannt gewordenes Gesetz zur Straffreiheit erlassen. Doch ausgenommen von der Amnestierung waren neben schweren Straftaten wie Tötungsdelikte auch Zuchthausstrafen, die sich nach Aussage des Rote-Hilfe-Anwalts Kurt Rosenfeld fast ausschließlich gegen links und „nur in seltensten Fällen gegen rechts“ wendeten. So gingen durch die Hindenburg-Amnestie die bislang weder inhaftierten noch verurteilten militärischen Führer des monarchistischen Kapp-Putsches von 1920 General von Lüttwitz, Kapitän Erhard, Major Papst und Oberst Bauer straffrei aus, während 29 Aktivisten der Bayerischen Räterepublik von 1919 weiterhin im Zuchthaus Straubing inhaftiert blieben. Berücksichtigt wurden zudem nur Straftaten bis zum 1. Oktober 1923. Diesen Stichtag hatte der rechtskonservative Hans Reichskanzler Luther gewählt, um das nach dem Hamburger Aufstand 1923 eingeleitete Hochverratsverfahren gegen die Mitglieder der KPD-Zentrale von der Amnestierung auszuschließen. So drohte den kommunistischen Reichstagsabgeordneten Stocker, Koenen, Heckert, Remmele, Hörnle und Pfeiffer weiterhin im Falle einer Auflösung des Reichstages der Verlust ihrer parlamentarischen Immunität und damit die Verhaftung als Hochverräter.

Die Forderung nach einer Generalamnestie für alle proletarischen politischen Gefangenen und Verfolgten blieb damit für die Rote Hilfe zentral. Ein Anfang 1927 von der KPD eingebrachter Amnestieantrag stieß bei der „Bürgerblockregierung“ auf Ablehnung. Der deutschnationale Justizminister Oskar Hergt wies die Amnestieforderung mit der Begründung ab, in der Frage der politischen Gefangenen wäre eine Beruhigung eingetreten. Auch in den Länderparlamenten scheiterten entsprechende Anträge der KPD. „Um die Unruhe zu schaffen, die Herr Hergt als Vorbedingung für die Gewährung einer Amnestie ansieht“ startete die Rote Hilfe 1927 eine neue Kampagne für die Generalamnestie. Damals machte das Schlagwort von der „Vertrauenskrise der Justiz“ die Runde. Dazu beigetragen hatte die steigende Zahl ungesühnter Überfälle der faschistischen SA auf Angehörige von Arbeiterorganisationen und die gleichzeitige harte Strafpraxis des Reichsgerichts gegen KPD-Mitglieder. Aber auch außenpolitische Ereignisse wie die Hinrichtung der Anarchisten Sacco und Vanzetti in den USA im August und die Wiener Juli-Kämpfe nach der Begünstigung wegen Mordes angeklagter rechtsgerichteter Heimwehrmänner durch ein österreichisches Gericht erschütterten die Rechtsstaatsgläubigkeit vieler Bürgerinnen und Bürger. Die Roten Hilfe meinte, unter der deutschen Bevölkerung „eine große, gegen die bürgerliche Klassenjustiz gerichtete Stimmung“ zu erkennen. Als sich der Zentralvorstand der Roten Hilfe Deutschlands Anfang September 1927 mit einer Eingabe zur Vollamnestie an die Mitglieder des Reichstages und der Landtage wandte, war die Stimmung in der Öffentlichkeit günstig, um Gehör für die Amnestieforderung zu finden. Dies äußerte sich in Hunderten von Zuschriften an die Rote Hilfe, in denen Rechtsanwälte, Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler ihre Zustimmung zur Amnestieforderung aus sprachen. „Ich bin für die von Ihnen geforderte Vollamnestie; denn ich bin gegen die Parteilichkeit der Justiz, gegen Willkürakte des Staates gegen seine Bürger und ich verlange menschliche Anständigkeit auch im öffentlichen Leben“, erklärte der Schriftsteller Heinrich Mann. Der „Literaturpapst“ der Weimarer Republik Alfred Kerr nannte die „umfassende Haftbefreiung der Linksgefangenen“ eine Pflicht, „da die Hochverräter der Rechtsparteien (auch die inoffiziellen) sich einer behaglichen Freiheit mehr als uns erfreuen.“ Der pazifistische Publizist und Aktivist der Schwulenbewegung Kurt Hiller forderte: „Heraus aus Zuchthauskäfigen und Gefängnissen mit denen, die ehrlich, wenn auch erfolglos, in wüster Zeit sich für die Verwirklichung einer Staats-, einer Produktions-, einer Gesellschaftsform einsetzten, die ihnen vernünftiger und menschenwürdiger schien als die, die herrscht. Heraus mit ihnen in die Freiheit (diese höchst problematische Freiheit!) schon deshalb, weil ein fragwürdiges Gesetz und eine noch fragwürdigere Justiz sie in den Kerker gestoßen hat. Diese Kapitalistenrepublik kann niemals gerecht handeln; umso mehr müsste ihr darum zu tun sein, endlich einmal zu zeigen, dass sie wenigstens nobel handeln kann. Sonst stünde sie ihrem Charakter nach noch unter den Selbstherrschern der Feudalzeit.“


Mit einzelnen Gnadenakten zu Reichspräsident Hindenburgs 80.Geburtstag im Oktober 1927 versuchte die Regierung, der Stimmung in Teilen der Bevölkerung entgegen zu kommen und gleichzeitig die Forderung nach Vollamnestie aus zu bremsen. Neben einer Anzahl von Rechtsextremisten wurden auch einige proletarische politische Gefangene begnadigt. Frei kam unter anderem der anarchistische Metzgergeselle Alois Lindner, der am 21.Februar 1919 aus Rache für die Ermordung des sozialistischen bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner im Bayerischen Landtag zwei konservative Abgeordnete erschossen und den Vorsitzenden der bayerischen SPD Georg von Vollmar schwer verletzt hatte. Diese partielle Begnadigungsaktion trug nicht zu der gewünschten Entschärfung der Stimmung in der Öffentlichkeit bei. Groß war die Enttäuschung, dass beispielsweise der als „deutscher Robin Hood“ in breiten Bevölkerungskreisen beliebte Max Hoelz weiterhin in Haft blieb. Der Partisanenführer aus dem Mitteldeutschen Aufstand von 1921, der wegen eines von ihm nachweislich nicht begangenen Mordes an einem Gutsbesitzer zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt worden war, stand als Symbolfigur im Mittelpunkt der Amnestiekampagne. Durch Hoelz` Schicksal und die offensichtliche Willkürjustiz in seinem Fall war es möglich, breite Kreise der Bevölkerung auf zu rütteln und selbst wenn sie der Arbeiterbewegung fern standen, bei ihren Gerechtigkeitssinn anzusprechen.


Die Rote Hilfe nutzte den Wahlkampf vor den Neuwahlen des Reichstages am 20.Mai, um in den Wahlversammlungen der Parteien ihre Forderungen zu stellen: „Für eine bedingungslose Generalamnestie aller proletarisch-politischen Gefangenen! Für ein freiheitliches Asylrecht! Für die Ablehnung des neuen Strafgesetzentwurfes, des Strafvollzugsgesetzes und des Asylrechts-Gesetzentwurfs der Bürgerblockregierung!“ Rote-Hilfe-Generalsekretär Jacob Schlör betonte, dass bislang nur die Kommunistische Partei sich hinter diese Forderungen gestellt habe. Unter diesen Umständen dürfte den Roten Helferinnen und Helfern am 20.Mai die Wahl nicht schwerfallen. „Sie dürfen sich aber nicht darauf beschränken, nur geeignete Vertreter in die Parlamente zu entsenden. Die Parlamente werden von sich aus weder den politischen Gefangenen die Gefängnistore öffnen, noch den barbarischen Strafvollzug einer Änderung unterziehen, wenn sie nicht von den breitesten Massen der Werktätigen dazu gezwungen werden. Diese breiten Massen für die Forderungen der Roten Hilfe in Bewegung zu bringen, sie für unseren Kampf zu mobilisieren, das ist die wichtigste Aufgabe der kommenden Wahlbewegung.“


Tatsächlich zwang der öffentliche Druck die SPD zum Wahlversprechen eines weitgehendes Straffreiheitsgesetz. Die nach der Wahl gebildete Große Koalition aus SPD, katholischem Zentrum sowie Rechts- und Linksliberalen unter dem Sozialdemokraten Hermann Müller machte den Weg für ein solches Amnestiegesetz frei. Das am 14.Juli 1928 vom Reichstag mit verfassungsändernder Mehrheit verabschiedete Gesetz schloss erstmals auch politische Delikte ein, die bisher unter die Zuständigkeit der Ländergerichtsbarkeit gefallen waren. Es bezog sich auf alle bis zum Zeitpunkt der Gesetzesverkündung verübten Delikte. Voraussetzung war lediglich die politische Motivation einer Straftat. Ausgenommen von der völligen Straffreiheit waren Tötungsdelikte. Hier wurden die Haftstrafen halbiert und Todesstrafe sowie lebenslängliche Zuchthausstrafen in Gefängnisstrafen zu 7 1/2 Jahren umgewandelt. Diese Ausnahme wurde von den Vertretern der Regierungsparteien mit der besonderen Grausamkeit der rechten Fememorde, die nicht ungesühnt bleiben dürften, begründet.


Durch die Amnestie vom Juli 1928 kamen die letzten der seit 1919 inhaftierten bayerischen Räterepublikaner ebenso frei wie Max Hoelz und der „mitteldeutsche Bandenführer“ Karl Plättner. Auch das Verfahren gegen die KPD-Zentrale wegen der Umsturzversuche von 1923 war damit endlich vom Tisch. Die aus den Kerkern befreiten Revolutionäre wurden von Tausenden Arbeiterinnen und Arbeitern auf großen Kundgebungen vor Gefängnissen und Bahnhöfen begeistert empfangen. Einige Räterepublikaner wurden anschließend von der Roten Hilfe zur Erholung von den jahrelangen Strapazen der Haft zur Kur in die Sowjetunion geschickt.


Nick Brauns


Der Autor ist Vorsitzender des Hans-Litten-Archivs e.V.

www.Hans-Litten-Archiv.de


erschienen in: 18.03.2008 – Tag der politischen Gefangenen (Sonderausgabe der Roten Hilfe)