Aus: junge Welt Ausgabe
vom 23.05.2019, Seite 10 / Feuilleton
Die Anarchos vom Berg
Alternative Globalisierer:
Eine Dissertation erhellt die Geschichte der anarchistischen Schweizer
Uhrmacher im 19. Jahrhundert
Von Nick Brauns
»Als ich die Berge nach gut einer Woche
Aufenthalt bei den Uhrmachern wieder hinter mir ließ, standen meine
sozialistischen Ansichten fest: Ich war ein Anarchist«, beschrieb Pjotr
Kropotkin in seinen Memoiren einen Besuch im Berner Jura im Jahr 1872 als
Erweckungserlebnis. Beeindruckt hatten den russischen Fürsten nicht die heute
noch im Tal von Saint-Imier hergestellten Luxusuhren
der Marke Longines. Angetan hatten es ihm vielmehr
die dort bereits in modernen Fabriken tätigen Uhrmacher, die sich
zusammengeschlossen hatten um ein Programm der gegenseitigen Hilfe in
Gegnerschaft zu Staat, Kapital und Nationalismus zu verwirklichen.
Mit »Anarchistische Uhrmacher in der
Schweiz« hat Florian Eitel, Historiker am Neuen Museum in Biel, eine – so der
Untertitel – »mikrohistorische Globalgeschichte zu den Anfängen der
anarchistischen Bewegung im 19. Jahrhundert« vorgelegt. Seine Dissertation ist
die erste Untersuchung der 1871 gegründeten anarchistischen Juraföderation seit
rund 40 Jahren. Für Eitel ist insbesondere der Kongress von Saint-Imier am 15./16. September 1872 wichtig – er sei ein
Verdichtungsmoment und Knotenpunkt der internationalen anarchistischen Bewegung
gewesen. Hier formulierten die von Karl Marx und Friedrich Engels wegen ihres
Widerstandes gegen Beschlüsse des Zentralrates aus der Internationalen
Arbeiterassoziation gedrängten »antiautoritären« Strömungen um Michail Bakunin
ein Programm des kollektivistischen Anarchismus und Anarchosyndikalismus.
Produkt
der Globalisierung
»Der Schlüssel zur Geburt der
anarchistischen Bewegung war die Begegnung zwischen Bakunin und den
Uhrenarbeitern im Tal von Sant-Imier«, meint daher
etwa die Historikerin Marianne Enckell vom
Internationalen Zentrum für Anarchismusforschung in
Lausanne. Im Gegensatz zu einer solchen Darstellung hält Eitel den Einfluss des
russischen Revolutionärs, der lediglich zweimal für ein paar Tage im Tal von
Saint-Imier weilte, für die Herausbildung der
anarchistischen Bewegung im Jura für überschätzt. So geht es Eitel darum, die
bislang namenlosen Aktivisten der Juraföderation, die in ihrer zwölfjährigen
Existenz rund 400 Mitglieder in 30 Sektionen umfasste, aus dem Schatten der
»große Männer« treten zu lassen. Das ist durchaus wörtlich zu nehmen: Denn
allen Beteuerungen zum Trotz, nicht nur der »Ausbeutung des Menschen im
Staate«, sondern auch der »Ausbeutung der Frau in der Familie« ein Ende
bereiten zu wollen, fanden sich abgesehen von einigen russischen
Anarchistinnen, die in Zürich Medizin studierten, nur drei weitere Frauen in
den Reihen der Juraföderation.
Eitel zeigt auf, dass die anarchistische
Bewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mitnichten als Bewegung
gegen die Globalisierung, sondern vielmehr als deren Produkt verstanden werden
kann. Als »alternative Globalisierer« von unten
bedienten sich die Anarchisten moderner technischer Mittel, um die Welt nach
ihren Vorstellungen zu ändern. So war die Beschleunigung des Personentransports
durch die Eisenbahn eine Voraussetzung dafür, dass anarchistische Arbeiter, die
ja neben der Lohnarbeit nicht viel Zeit für die politische Aktivität hatten,
auf Kongressen mit Gleichgesinnten aus anderen Städten oder Ländern
zusammentreffen und Netzwerke knüpfen konnten. Die damals in Europa üblichen
Abteilwaggons kamen den Geheimbündlern entgegen, konnte doch bereits die Fahrt
zu einem Kongress zur ungestörten Beratung im kleinen Kreis genutzt werden.
Schnelle Nachrichtenübermittlung per Telegraph und die Möglichkeit der
Vervielfältigung in Form von Zeitungen und Flugblättern ermöglichten es den
anarchistischen Uhrmachern im beschaulichen Saint-Imier,
mit Streiks und Barrikadenkämpfen auf fernen Kontinenten mitzufiebern.
Ihrerseits konnten die jurassischen Anarchisten mit Grußworten oder Sammlungen
zugunsten der von Klassenjustiz bedrängten »Compagnons« in der Ferne
Solidarität demonstrieren.
Bis
zum Jüngsten Gericht
»Die Anarchisten strebten der sozialen
Revolution ebenso wie die Christen dem Jüngsten Gericht entgegen«, sieht Eitel
in der Frühphase der anarchistischen Bewegung trotz ihres Atheismus eine
Parallele zu religiösen Gemeinschaften. Den Zeitpunkt der ersehnten Revolution
versuchten die jurassischen Anarchisten zugleich mit Statistiken zur
Wirtschaftsentwicklung so wissenschaftlich vorherzusagen, wie die Zeugen
Jehovas gestützt auf Bibelstellen den Weltuntergang. Das Ausbleiben der
Revolution in der unmittelbaren Zukunft führte dazu, dass sich die Reihen der
Anarchisten im Jura Ende der 1870er Jahre zu lichten begannen. Führende Köpfe
wie James Guillaume und Adhémar Schwitzguébel zogen
sich zurück. Schwitzguébel, der einer der wenigen
auch international vernetzten Akteure der Schweizer Arbeiterbewegung des 19.
Jahrhunderts war, wandte sich nun der Sozialdemokratie zu und nahm eine Stelle
als hauptamtlicher Gewerkschaftssekretär an.
Von der Juraföderation geblieben ist das
in viele Sprachen übersetzte Lied von der roten Fahne »Le Drapeau
Rouge«, auch wenn es schon von Rosa Luxemburg, die den Text ins Polnische
übertrug, für ein kommunistisches Lied gehalten wurde. Vorübergehend fand der
Anarchismus in die »Liste der lebendigen Traditionen des Kantons Bern« Eingang,
und bis heute ist die Erinnerung an die Anarchisten Bestandteil des offiziellen
touristischen Rundgangs durch Saint-Imier. Während
die Vergangenheit so folkloristisch verklärt wird, kennt die Schweizer Justiz
kein Erbarmen mit Militanten der Gegenwart. Dies zeigt der Fall des als
»Ökoterroristen« gescholtenen Marco Camenisch, der
nach 26jähriger Haft erst vor zwei Jahren frei kam.
Leider hat Eitel die zahlreichen im Buch
verwendeten französischsprachigen Zitate aus Flugblättern und Zeitungen der
jurassischen Anarchisten nicht ins Deutsche übersetzt. Während die gedruckte
Ausgabe des Buches mit einem Preis von rund 70 Euro wohl nur für Bibliotheken
in Frage kommt, kann es als PDF in guter anarchistischer Tradition kostenlos von der Website des Bielefelder
Transcript-Verlages heruntergeladen werden.
Florian Eitel: Anarchistische Uhrmacher
in der Schweiz. Mikrohistorische Globalgeschichte zu den Anfängen der
anarchistischen Bewegung im 19. Jahrhundert, Transcript-Verlag,
Bielefeld 2018, 630 Seiten, 69,99 Euro