Nationalistische Welle in der Türkei

Schweiz setzt Wirtschaftsinteressen vor Menschenrechte


Von Nick Brauns


Unter türkischen Fahnen und Bildern des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk demonstrieren seit Wochen Hunderttausende Menschen in der Türkei gegen eine angeblich drohende Islamisierung des Landes. Auslöser der Massenproteste war die anstehende Neuwahl des Staatspräsidenten. Da dieser vom Parlament zu bestimmen ist, galt als sicher, dass ein Kandidat der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP das Rennen machen würde. Das Militär, dass bereits 1960, 1971 und 1980 die Macht ergriff und 1997 den islamischen Regierungschef Erbakan zum Rücktritt zwang, drohte für diesen Fall unverhohlen mit einem Putsch: „Die türkischen Streitkräfte beobachten die Lage mit Sorge“, kündigte die Militärführung an. Man werde keinen Angriff auf die Grundwerte der Republik und den Säkularismus tolerieren. Die kemalistische Opposition boykottierte die Wahl und ließ diese anschließend vom Verfassungsgericht wegen zu geringer Beteiligung für ungültig erklären. Daraufhin rief die Regierung vorgezogene Parlamentswahlen für den 22. Juli aus.


Es stehen sich heute drei große politische Lager in der Türkei gegenüber. Die islamische Regierungspartei AKP gilt als Vertretung der aus der anatolischen Provinz stammenden Bourgeoisie, der Kleinhändler und Handwerker. Sie vertritt einen proeuropäischen Kurs und verfügt über die Unterstützung der USA. Im Namen des Islam versucht die AKP, die Unterdrückung der Kurden zu übertünchen und die Dominanz der kemalistischen Bürokratie im Staatsapparat und Teilen der Wirtschaft aufzubrechen. Eine solche neoliberale Öffnung des türkischen Marktes liegt auch im Interesse des ausländischen Großkapitals.


Rote-Apfel-Koalition


Das vorwiegend von den west- und mittelanatolischen städtischen Mittelschichten und Staatsbediensteten unterstützte Oppositionslager wird von der sogenannten Roten-Apfel-Koalition gebildet, einem Bündnis aus der kemalistischen Republikanischen Volkspartei CHP, sozialdemokratischen Parteien, der ex-maoistischen Arbeiterpartei und den faschistischen Grauen Wölfen. Zusammengehalten wird diese heterogene Allianz durch einen radikalen Nationalismus, der sich gegenüber den USA antiimperialistisch gibt, doch sich gleichzeitig gegen die christliche Minderheit und die Kurden richtet. Diese Hetze entlud sich im Januar in den tödlichen Schüssen auf den zuvor wegen „Beleidigung des Türkentums“ verurteilten armenischen Journalisten Hrant Dink in Istanbul sowie den barbarischen Morden an drei Mitarbeitern eines Bibel-Verlages drei Monate später in Malatiya durch eine islamisch-nationalistische Gruppierung.


Das nationalistische Lager profitiert von einem Einbruch der pro-EU-Stimmung unter der Bevölkerung von anfänglich 74 Prozent vor fünf Jahren auf nur noch 57 Prozent im vergangenen Jahr. Aufgrund der Hinhaltetaktik der EU setzt sich die Erkenntnis durch, dass ein EU-Beitritt vor allem soziale Härten und Fremdbestimmung bedeuten würde. Dies führt allerdings nicht zu fortschrittlichen Schlussfolgerungen. Vielmehr gelingt es den Nationalisten, mit Verschwörungstheorien von der trotz Wirtschaftsaufschwunges fortbestehenden sozialen Misere der Massen ablenken. Als Universalfeindbild dienen dabei die Kurden.


Zusammen mit der schwachen sozialistischen Linken bildet die kurdische Partei für eine Demokratische Gesellschaft DTP ein drittes Lager, das sich im Gegensatz zu Nationalisten und Regierung für Frieden, Menschenrechte, Völkerfreundschaft und soziale Gerechtigkeit einsetzt. Nachdem kurdische Parteien in der Vergangenheit an der landesweiten 10 Prozenthürde scheiterten, obwohl sie in den kurdischen Gebieten eine Mehrheit haben, beschloss die DTP, mit unabhängigen Kandidaten anzutreten. Mindestens 20 kurdische Kandidaten könnten so ins Parlament kommen. Dies versucht der Staat mit verstärkter Repression zu verhindern. Seit Februar wurden rund 400 DTP-Mitglieder verhaftet, darunter elf Provinzvorsitzende. Mit Razzien und Verhaftungen ging die Polizei Ende letzten Jahres auch gegen türkische Linke vor. Zahlreichen Redakteuren, Gewerkschaftern und Frauenaktivistinnen drohen langjährige Haftstrafen. Nach Informationen des türkischen Menschenrechtsvereins IHD sind Festgenommene immer wieder schweren Misshandlungen und Folter durch die Sicherheitsorgane ausgesetzt.


Tal der Wölfe


Als Ende Mai eine Bombe in Ankara sechs Menschen zerriss, bezichtigte das Militär umgehend die Arbeiterpartei Kurdistans PKK als Urheber. Diese distanzierte sich von dem Anschlag und warnte dass so die Stimmung für einen Militäreinmarsch in den kurdischen Nordirak geschaffen werden solle. Es wäre nicht das erste Mal, dass der sogenannte „tiefe Staat“ zu solchen Provokationen griffe. Gerade erst waren zwei Offiziere des Militärgeheimdienstes vom Obersten Gerichtshof freigesprochen worden, die im November 2005 mit einen Handgranatenanschlag auf eine Buchhandlung in der kurdischen Kleinstadt Semdinli den Krieg gegen die PKK anheizen wollten. Generalstabschef Yaser Büyükanit hatte einen der Attentäter als „guten Jungen“ in Schutz genommen.


Während die Frühjahrsoffensive gegen die Guerillakämpfer der PKK bereits zu weit über hundert toten Soldaten und Dutzenden gefallenen Guerillakämpfern geführt hat, droht Büyükanit mit einem Einmarsch in den Irak. Offizielles Ziel ist die Zerstörung der dortigen PKK-Lager. Tatsächlich richten sich die Einmarschdrohungen gegen Unabhängigkeitsbestrebungen der irakischen Kurden und eine von diesen geforderte Eingliederung der Erdölstadt Kirkuk in das kurdische Autonomiegebiet. Die US-Besatzungsmacht lehnt einen Militäreinmarsch strikt ab, da dieser die irakischen Kurden als ihre engsten Verbündeten aufbringen würde. Der Erfolg von Filmen wie dem Actionthriller „Tal der Wölfe “ spiegelt die Spannungen zwischen den NATO-Partnern seit Beginn des Golfkrieges.


Schweizer Interessen


Seit Gründung der Türkischen Republik besteht eine enge Beziehung zur Schweiz. Der Friedensvertrag, der als Geburtsurkunde der modernen Türkei gilt, wurde 1923 in Lausanne unterzeichnet. 1926 übernahm die Türkei das schweizerische Zivilgesetzbuch. Heute ist das Verhältnis der Schweiz zur Türkei vor allem durch Exportinteressen bestimmt. „Die Türkei ist ein wichtiger Handelspartner und ein zukunftsträchtiger Markt für die Schweiz“, heißt beim Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten. Die Schweiz ist der sechstgrößte ausländische Investor in der Türkei mit über 320 Firmen.


Mit Alstom, Stucki, Colenco und Maggiawerken sind vier Schweizer Firmen im Konsortium zum Bau des Ilisu-Großstaudammes am Oberlauf des Tigris in der Osttürkei vertreten. Obwohl der Damm zur nahezu entschädigungslosen Vertreibung von rund 55.000 Kurden sowie der Zerstörung der antiken mesopotamischen Stadt Hasankeyf führen würde und der Irak durch die Sperrung des Wassers politisch erpressbar wäre, genehmigte der Schweizer Bundesrat Ende März 2007 ebenso wie die österreichische und deutsche Regierung Exportrisikogarantien in Höhe von 225 Millionen Franken.


Seitdem der Nationalrat im Dezember 2003 den türkischen Völkermord an den Armeniern während des ersten Weltkrieges anerkannte, sind die bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und der Türkei angespannt. Für türkischen Unmut sorgt insbesondere die strafrechtliche Verfolgung des Vorsitzenden der Arbeiterpartei Dogu Perincek und des Historikers Yusuf Halacoglu, die auf Veranstaltungen in der Schweiz den Genozid geleugnet haben. Hier versuchte Bundesrat Christoph Blocher im Oktober 2006 wieder Land zu gewinnen, als er im Gespräch mit Justizminister Cicek die Schweizer Rassismus-Strafnorm als Verstoß gegen die Meinungsfreiheit kritisierte.


Während die PKK von den USA und der EU als terroristisch eingeschätzt wird, weigerte sich Blocher allerdings, dem Wunsch Ankaras nach einem PKK-Verbot auch in der Schweiz nach zu kommen. Der Weg der Schweiz sei die individuelle Strafverfolgung und die fallbezogene Rechtshilfe. Mehrfach wurden türkische und kurdische politische Flüchtlinge in Auslieferungshaft genommen. Es ist zu befürchten, dass die Schweizer Regierung wie schon bei der Vergabe der Bürgschaften für den Ilisu-Staudamm Wirtschaftsinteressen vor Menschenrechte stellt und einer Auslieferung zustimmt, um die guten Beziehungen nach Ankara nicht zu gefährden.




Nick Brauns ist Historiker und Journalist in Berlin. Er bereist regelmäßig die Türkei und die kurdischen Gebiete.


aus: antidot – Wochenzeitung der widerständigen Linken / antidotincl.03/07 Fluchtzeiten – Fluchtseiten Beiträge aus der antirassistischen Bewegung