Junge Welt 24.07.2010
/ Geschichte / Seite 15
Friedliche Durchdringung
Am 29. Juli 1910 erteilte der Ministerrat des
Osmanischen Reiches die Genehmigung zum Weiterbau der Bagdadbahn
Von Nick
Brauns
Ob am 29.Juli 1910 die Sektkorken im
Auswärtigen Amt und in der Chefetage der Deutschen Bank knallten, ist nicht
überliefert. Doch aufgeatmet haben die führenden Vertreter des deutschen
Finanzkapitals mit Sicherheit, als der Ministerrat des Osmanischen Reiches an
diesem Tag die Genehmigung zum Weiterbau der Bagdadbahn
erteilte. Nach mehrjähriger Baupause aufgrund finanzieller Engpässe und
politischer Wirren schien das symbolträchtigste Projekt für das Streben des
deutschen Imperialismus nach einem »Platz an der Sonne« gerettet.
Nachdem die von der Deutschen Bank geführte Anatolische Eisenbahngesellschaft
bereits eine vom europäischen Bahnnetz bis ins mittelanatolische Konya
reichende Strecke gebaut hatte, erteilte Sultan Abdulhamid II. dem Konsortium
1903 die Konzession zur Weiterführung der Bahn über Bagdad bis an den
Persischen Golf. Durch die so gegebene Möglichkeit schneller
Truppenverschiebungen erhoffte sich der Sultan Stabilität für sein vom Zerfall
bedrohtes Großreich. Die Deutsche Bank verfolgte das Ziel der »friedlichen
Durchdringung« des Osmanischen Reiches. Nicht nur die Bahn – für die die
türkische Regierung eine Kilometergarantie leisten mußte
– sollte Gewinn abwerfen, sondern weitergehende Betätigungsfelder für die
deutsche Industrie geschaffen werden. So war für den Bahnbau die Philipp
Holzmann GmbH in Frankfurt am Main verantwortlich, der Löwenanteil der
Zulieferaufträge ging an deutsche Firmen wie Krupp und Maffei, ebenso
Hafenbaukonzessionen und Landwirtschaftsprojekte. Kaiser Wilhelm II. und das
Auswärtige Amt verbanden ebenso wie der Vordenker der deutschen
Kolonialpolitik, Paul Rohrbach, weitreichende imperialistische Ziele mit der
Bahnverbindung Berlin–Bagdad, durch die das britische Imperium an seiner
Achillesferse auf dem Landweg nach Indien getroffen werden sollte. Die Bagdadbahn wurde als ein Instrument zur »Verbreitung
deutschen Wesens« begriffen, um bei einer absehbaren Aufteilung des Erbes des
»kranken Mannes am Bosporus« unter den Großmächten nicht zu kurz zu kommen. Das
Projekt rief so von Anfang an den Widerstand Großbritanniens, aber auch Rußlands und Frankreichs auf den Plan.
Sultan entmachtet
Nachdem die britische Krone auf diplomatischem Weg den Bahnbau nicht verhindern
konnte, kam ihr 1908 die jungtürkische Revolution zur Hilfe. Am 2. Juni 1908
war der Vertrag über den Weiterbau der Bagdadbahn bis
nach Tell Halaf im Norden Mesopotamiens unterzeichnet
worden, als einen Monat später in Saloniki eine Militärrevolte gegen das
absolutistische Regime ausbrach. Die anfangs noch an liberaldemokratischen
Vorstellungen orientierte Oppositionsbewegung der Jungtürken erzwang die
Wiederinkraftsetzung der 1878 suspendierten Verfassung. Dadurch wurde das Osmanische Reich zu einer konstitutionellen
Monarchie und der Sultan als enger Freund des deutschen Kaisers weitgehend
entmachtet. Über den englandfreundlichen jungtürkischen Großwesir Kiamil Pascha leitete nun faktisch der britische
Botschafter die osmanischen Regierungsgeschäfte. Britische Offiziere und Beamte
wurden zur Reorganisierung der osmanischen Flotte,
des Finanz- und Verwaltungswesens eingeladen, und britische Firmen erhielten Schiffahrtskonzessionen. Daß der
deutsche Kaiser sich im Oktober 1908 auf die Seite seines
österreichisch-ungarischen Bundesgenossen stellte, als dieser die osmanischen
Provinzen Bosnien und Herzegowina annektierte, verschlechterte die deutsche
Position am Bosporus abermals. Jungtürkische Politiker stellten nun den Bau der
Bagdadbahn durch ausländische Firmen und
Kapitalgesellschaften insgesamt in Frage. Vor der Krupp-Vertretung in
Konstantinopel demonstrierten Studenten gegen die Korruptionspraxis des
deutschen Rüstungstrusts. Arbeiter der Anatolischen Eisenbahngesellschaft
traten in den Streik für höhere Löhne und forderten die Absetzung des
Generaldirektors Eduard Huguenin. »Der Traum der
›deutschen Bagdadbahn‹ bis zum Golf ist ausgeträumt«,
meldete Deutsche-Bank-Direktor Karl Helfferich
resigniert Ende 1908 aus Konstantinopel dem Generaldirektor der Bank, Arthur Gwinner.
Neue Konstellationen
Doch schon 1909 begann sich die Situation für das deutsche Finanzkapital wieder
zu verbessern. Nach einer niedergeschlagenen Gegenrevolution islamischer Kräfte
hatte das jungtürkische Komitee für Einheit und Fortschritt (Ittihat ve Terakki)
im April 1909 direkt die Macht übernommen und Abdulhamids
altersschwachen Bruder Mohamed V. als nur noch symbolisch amtierenden neuen
Sultan eingesetzt. Innerhalb der Jungtürken war es angesichts der
rücksichtslosen britischen Raubpolitik mittlerweile zu einer Kräfteverschiebung
gekommen. Die aus der liberalen Londoner und Pariser Emigration stammenden
Jungtürken wurden von nationalistischen Offizieren wie Mahmud Schewket Pascha und Enver Bay verdrängt, die an die Spitze
des Kriegsministeriums und Generalstabs vorrückten. Ein Großteil dieser
Offiziere war während der vorangegangenen 25 Jahre auf preußischen
Kasernenhöfen ausgebildet worden und hatte größte Hochachtung für den
preußisch-deutschen Militarismus. Deutlich wurde dies, als im Mai 1909 auf
Wunsch des türkischen Generalstabschefs Izzet-Pascha der preußische
Generaloberst Colmar von der Goltz als Militärberater in den türkischen
Armeedienst berufen wurde. Bereits zwischen 1883 und 1895 hatte Goltz im Rahmen
einer deutschen Militärmission in der Türkei gewirkt. Während damals eine
Armeereform durch den paranoiden Sultan aus Angst vor einem Putsch
hintertrieben wurde, akquirierte Goltz als Rüstungslobbyist umfangreiche
Aufträge für die deutsche Industrie. Zu seiner erneuten Berufung an den
Bosporus erteilte Reichskanzler Bernhard von Bülow den Auftrag: »Er darf sich
nicht bloßstellen, soll uns aber die Türken militärisch, politisch und
wirtschaftlich halten, gewinnen und an uns ketten.«
Goltz gelang es, nicht nur Krupp&Co erneut
umfangreiche Rüstungsaufträge zu verschaffen, sondern auch die jungtürkische
Regierung von der Dringlichkeit des Weiterbaus der Bagdadbahn
zu überzeugen. Im November 1909 wurde auf der asiatischen Seite von Konstantinopel
der Bahnhof Haydarpascha eröffnet. Das im
neoromanischen Stil gestaltete Gebäude erscheint vor dem Panorama einer
nahegelegenen Moschee geradezu symbolisch für die in Berlin geplante
Unterwerfung des Osmanischen Reiches unter das »Deutschtum«.
Zur Finanzierung des weiteren Streckenabschnitts wurde im Sommer 1910 eine
»Kaiserlich-Ottomanische Vier-Prozent-Anleihe der Bagdadbahn-Serie
II« in Höhe von 108 Millionen französischen Francs aufgelegt. Vergeblich hatte Gwinner versucht, die Briten zu beteiligen. Doch zu
durchschaubar war der Versuch, durch eine solche »Internationalisierung« des Bagdadbahnbaus zwar den Widerstand gegen das Großprojekt zu
schwächen und das finanzielle Risiko zu verteilen, aber weiterhin die Führung
bei Deutschland zu belassen. Zudem hatten Goltz und der deutsche Botschafter in
Konstantinopel, Adolf Marschall von Bieberstein, auf Weisung höchster deutscher
Regierungsstellen im Hintergrund die Fäden gezogen, um durch die alleinige
Unterbringung der Anleihe auf dem deutschen Markt die in einer schwierigen
finanziellen Lage befindliche Türkei noch fester an den deutschen Imperialismus
zu ketten. Damit wurden die weiteren Weichen für das verhängnisvolle
Kriegsbündnis zwischen dem preußisch-deutschen Militarismus und der jungtürkischen
Militärjunta gestellt, das schließlich zum Untergang des Osmanischen Reiches
führte.
Quellentext: Der Kolonialpolitiker Paul Rohrbach über
die Bagdadbahn
England kann
von Europa aus nur an einer Stelle zu Lande angegriffen und schwer verwundet
werden: in Ägypten. Mit Ägypten würde England nicht nur die Herrschaft über den
Suezkanal und die Verbindung mit Indien und Asien, sondern wahrscheinlich auch
seine Besitzungen in Zentral- und Ostafrika verlieren. Die Eroberung Ägyptens
durch eine mohammedanische Macht wie die Türkei könnte außerdem gefährliche
Rückwirkungen auf die 60 Millionen mohammedanischen Untertanen Englands in
Indien, dazu auf Afghanistan und Persien haben. Die Türkei aber kann nur unter
der Voraussetzung an Ägypten denken, daß sie über ein
ausgebautes Eisenbahnsystem in Kleinasien und Syrien verfügt, daß sie durch die Fortführung der anatolischen Bahn einen
Angriff Englands auf Mesopotamien abwehren kann, daß
sie ihre Armee vermehrt und verbessert, und daß ihre
allgemeine Wirtschaftslage und ihre Finanzen Fortschritte machen.
Aus: Paul Rohrbach: Die Bagdadbahn, 2.Aufl., Berlin
1911, S. 19