Im
Guerillagebiet
Notizen
von einer Reise durch die kurdischen Gebiete der Türkei vom 15. bis 23.
September mit den Stationen Amed, Şirnex, Elkê, Kato-Gebirge, Colemêrg und
Wan
von
Nick Brauns, freier Journalist
In den kurdischen Landesteilen der Türkei finden seit dem
Sommer die schwersten militärischen Auseinandersetzungen zwischen der Guerilla
der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der türkischen Armee und Polizei seit
den 90er Jahren statt. Gemeinsam mit der Rechtsanwältin Brigitte Kiechle aus
Karlsruhe und der Journalistin Gül Güzel aus Stuttgart informierte ich mich auf
einer Reise durch Nordkurdistan vom 15. bis 23. September vor Ort über die
aktuelle Situation.
Seit Juli ist die PKK dazu übergegangen, neben
Hit-and-Run-Attacken auf Armee und Polizei auch Gebietskontrolle auszuüben.
Nach eigenen Angaben kontrolliert die Guerilla ein 400 km² großes Gebiet um die
Kleinstädte Semdinli, Cukurca und Beytüssebap in den Provinzen Hakkari und
Sirnak im türkisch-irakisch-iranischen Grenzgebiet. Nach unseren Recherchen vor
Ort handelt es sich bei dieser Kontrolle nicht um die Schaffung befreiter
Gebiete, da sich weiterhin zehntausende Soldaten in der Region befinden und
auch die Städte selber weiter unter sichtbarer Kontrolle der Sicherheitskräfte
stehen. Vielmehr meint PKK-Kontrolle, dass sich hunderte Guerillakämpfer im
gebirgigen und – bis auf einige Hirten und Bauern – weitgehend unbewohnten Gebiet
rund um diese Städte befinden und von dort bislang nicht vertrieben werden
konnten. Aus diesem Rückzugsgebiet erfolgen regelmäßig Angriffe auf Armee- und
Polizeiposten, so dass sich die Sicherheitskräfte außerhalb der Städte nicht
mehr frei bewegen können. Mehrere Armeestützpunkte innerhalb der von der Guerilla kontrollierten Gebiete können nach PKK-Angaben
nur aus der Luft versorgt werden. Insbesondere um Semdinli kommt es täglich zu
schweren Gefechten selbst nahe dem Stadtgebiet. Bislang ist es der Armee nicht
gelungen, die Region zurückzuerobern. Ziel
der Guerillakontrolle ist offenbar weniger die angesichts einer halben Million
in den kurdischen Gebieten stationierten Soldaten illusionäre militärische
Befreiung des Landes. Vielmehr soll gleichzeitig mit einer Steigerung der
Angriffe und Anschläge in anderen Landesteilen eine Erhöhung des Drucks auf den
Staat ausgeübt werden, um zu Friedensverhandlungen zu kommen bzw. den
abgebrochenen Oslo-Prozess (also die bis 2010 geführten Verhandlungen zwischen
dem Geheimdienst und der PKK in Oslo bzw. mit Abdullah Öcalan auf Imrali)
wieder aufzunehmen. Gleichzeitig soll durch die „revolutionären Operationen“ , wie die Gebietsübernahme von der PKK genannt wird, der
Druck durch die Sicherheitskräfte von der Bevölkerung genommen werden. Die sich
als „Volksverteidigungskräfte“ bezeichnende Guerilla beantwortet Angriffe der
Sicherheitskräfte auf die Zivilbevölkerung sowie Verhaftungen von Politikern der
Partei für Frieden und Demokratie (BDP) mit Angriffen auf den Staat. So folgte
auf die Verhaftung von rund 30 Zivilisten in Bingöl am 17. September in dieser
Provinz ein Anschlag auf einen Polizeibus mit acht Toten.
Die Sicherheitskräfte haben seit Begin der
„revolutionären Operation“ inzwischen einen Großteil ihrer langjährigen
Checkpoints in der Region, an denen die Zivilbevölkerung kontrolliert und
oftmals misshandelt wurde, aufgegeben oder vorbeifahrende Autos werden einfach
durch gewunken. Wie BDP-Politiker bestätigen herrscht bei den
Sicherheitskräften große Verunsicherung aufgrund der zahlreichen Angriffe. Im
Stadtzentrum von Sirnak (außerhalb der von der PKK kontrollierten Gebiete)
wurde im August die Polizeiwache von der Guerilla
angegriffen. Seitdem ist die sichtbare Polizeipräsenz in der Stadt vor allem Abends deutlich zurückgegangen, selbst die Panzerwagen
werden in die Kasernen gefahren. BDP-Demonstrationen werden hier aber weiterhin
von der Polizei angegriffen.
Dagegen finden regelmäßig Guerillakontrollen
vorbreifahrender Autos statt, bei denen die Bevölkerung über die aktuelle
Situation aufgeklärt wird. Kollaborateure (Dorfschützer, AKP-Politiker, am Bau
von Kasernen beteiligte Arbeiter und Unternehmer) werden dabei von der Guerilla festgenommen, aber in der Regel nach einem
kurzen Verhör und der Zusicherung, nicht mehr für den Staat zu arbeiten, wieder
freigelassen. Die PKK droht aber mit der „Verhaftung“ von AKP-Politikern, wenn
BDP-Abgeordneten die Immunität entzogen würde. Bei den Guerillakontrollen
werden Fahrzeuge, die Baumaterial für Kasernen oder Staudämme transportieren,
angezündet.
In der BDP-regierten 5200-Einwohnerstadt Beytüssebap
(Provinz Sirnak) marschierten Anfang September Dutzende Guerillaoffen in das
Stadtzentrum ein und blieben drei Tage in der Stadt, während andere
Guerillaeinheiten gleichzeitig die zahlreichen Militärstützpunkte rund um die
Kleinstadt überrannten und unter ihre Kontrolle brachten. Während dieser Zeit
trauten sich Armee und Polizei nicht mehr aus ihren Kasernen in der Stadt.
Mittlerweile ist die Stadt wieder völlig unter Kontrolle von Polizei und
Militär, auch an den Stützpunkten an den Berghängen rund um die Stadt sind
wieder türkische Fahnen aufgezogen. Innerhalb weniger Minuten wurden wir
zweimal von der mit Panzerwagen ständig die Straßen entlang fahrenden
Polizei kontrolliert. Nach acht Uhr abends traut sich die Bevölkerung aus Angst
vor Gefechten nicht mehr auf die Straße. Allerdings gibt kaum jemand der
Guerilla die Schuld an dieser Situation, sondern dem Staat. Das gebirgige
Umland von Beytüssebap ist weiterhin unter Kontrolle der Guerilla, die in
diesem Gebiet schätzungsweise 400 Kämpfer hat. Versuche der Armee Teile des
Umlandes zurückzuerobern, wurden bislang zurückgeschlagen. Auch eine von der Guerilla gesprengte Brücke bzw. die inzwischen erbaute
Behelfsbrücke auf dem Weg nach Beytüssebap würde nachts von der PKK kontrolliert,
berichtet der Bürgermeister Yusuf Temel. Fast jede Nacht kommt es zudem zu
Guerillaangriffen auf die Militärstützpunkte rund um die Stadt, wie wir
beobachten konnten. Auch während unseres Aufenthaltes in der Stadt Hakkari, die
außerhalb des von der Guerilla kontrollierten Gebietes liegt, fand nachts ein
stundenlanges Gefecht statt, als die Guerilla einen Polizeikontrollposten
beschoss und daraufhin Cobra-Kampfhubschrauber die Berge bombardierten. Die
Schüsse waren in der ganzen Stadt zu hören und die Geschoßbahnen am nächtlichen
Himmel zu sehen.
Wenige Autominuten außerhalb von Beytüssebap sind auf der
Hochweide die auf Felsen gemalten Guerillafahnen zu erkennen. Auf einer
Hochweide treffen wir mehrere Guerillakämpfer, die regelmäßig zu den Hirten
kommen, um Tee zu trinken und über die aktuellen Ereignisse zu sprechen. Die Guerilla hat hier genug Vorräte für drei Jahre,
versichert ein Kämpfer. Ihre Lebensmittel, die sie von der Bevölkerung bezieht,
bezahlt die Guerilla mit Geld. Von November bis April
(wenn die Region durch hohen Schnee weitgehend von der Außenwelt abgeschnitten
ist) werden die PKK-Kämpfer sich hier in Winterlager zurückziehen und diese
Zeit für intensive Schulungen nutzen. Jeder Guerillakämpfer liest in der Zeit
außer den gemeinsam diskutierten Öcalan-Werken rund 40 selbst gewählte Bücher. Zwischen
der Guerilla und den Hirten und Bauern in den Bergen herrscht ein herzliches
Verhältnis, wie wir beobachten konnten. Da viele Familien Söhne oder Töchter
„in den Bergen“ haben, wird die Guerilla aus der
Bevölkerung nicht nur moralisch unterstützt sondern auch mit Lebensmittel,
Zigaretten etc. beliefert. Die Verbundenheit der Bevölkerung mit der Guerilla zeigt sich auch bei Begräbnissen gefallener
Guerillakämpfer, an denen sich jeweils zehntausende Menschen beteiligen.
Anfang September kam es auf einer Hochweide am Kato-Berg
zu einem dreitätigen Gefecht zwischen Dutzenden Guerillakämpfern und der Armee,
die Bodentruppen und Kampfhubschrauber einsetzte. Während dieses Gefechtes
fielen 33 Soldaten. Ein Dutzend dieser Soldaten wurde durch friendly fire der
Cobra-Hubschrauber getötet, wie an dem Gefecht beteiligte Guerillas versichern.
Wir sahen noch blutverschmierte Uniformstücke, einen Helm, Munitionsreste und
Sanitätsmaterial der Soldaten. Am 4. September warfen die Kampfhubschrauber
Bomben mit einer chemischen Substanz – vermutlich Napalm – ab, durch die sieben
Guerillas getötet wurden. Guerillakämpfer sowie die an der Bergung der Leichen
beteiligten Hirten und der Bürgermeister von Beytüssebap Yusuf Temel berichten
von völlig verbrannten Körpern, deren innere Organe geplatzt waren. An anderen
Orten kamen in den letzten Jahren offenbar außer Napalm auch Nervengifte zum
Einsatz. Guerillakämpfer berichten von chemischen Kampfstoffen, die wehrlos
machen, so dass die Armee die Guerillas lebend gefangenen nehmen und
anschließend exekutieren konnte.
Repression gegen zivile Aktivitäten
Zwar zeigten sich BDP-Funktionäre und PKK-Kämpfer
gleichermaßen zuversichtlich, dass auf die „revolutionären Aktionen“ der
Guerilla ein Volksaufstand folgen werden. Doch
entspricht der massiven Zunahme von Guerillaaktionen ein der staatlichen
Repression geschuldeter Rückgang der Beteiligung an zivilen Aktivitäten wie
Demonstrationen. Da alle legalen Aktivitäten sofort unter staatliche Repression
geraten und selbst die Teilnahme an einer Demonstration zu einer langjährigen
Haft führen kann, entschließen sich insbesondere Jugendliche lieber gleich in
die Berge zu gehen, um nicht wehrlos den Kopf hin zu halten. Durch Massenverhaftungen
wird zudem der Kontakt der BDP zur Bevölkerung eingeschränkt. Für alle
Verhafteten rücken zwar neue Leute nach, doch befinden sich die erfahrensten
Kräfte im Gefängnis. So haben nahezu alle unsere Gesprächspartner von der BDP,
dem Menschenrechtsvereins IHD und der prokurdischen Presse haben zahlreiche
Festnahmen, längere Gefängnisaufenthalte und schwere Folter erfahren. Ebenso
haben fast alle von ihnen weiterhin laufende Verfahren mit der Drohung
langjähriger Haftstrafen.
Seit dem Erfolg der BDP-Vorgängerpartei DTP bei den
Kommunalwahlen im Frühjahr 2009 setzte eine bis heute andauernde
Massenfestnahme- und Verhaftungswelle gegen Aktive der kurdischen
Zivilgesellschaft ein. Betroffen sind gewählte Mandatsträger (über 30 von der
BDP gestellte Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, zahlreiche Stadträte, sechs
Parlamentsabgeordnete), Mitglieder der BDP-geführten Stadtverwaltungen,
Parteivorstände, Menschenrechtsaktivisten, Journalisten, Anwälte und
Gewerkschafter. Die Verhaftungen wurden mittlerweile auch auf türkische Linke,
Gewerkschafter und Intellektuelle ausgeweitet, die unter anderem beim Aufbau
einer türkeiweiten Dachpartei aller Unterdrückten (Demokratischer Kongress der
Völker) mit der BDP zusammenarbeiten. Die Anklage nach dem Antiterrorgesetz
besteht in der Regel aus dem Vorwurf der Mitgliedschaft oder Rädelsführerschaft
in der Gemeinschaft der Kommunen Kurdistans (KCK), eines aus der PKK
entstandenen Dachverbandes. Im Falle einer Verurteilung drohen zwischen 8 ½
Jahren (Mitgliedschaft) und 26 Jahren (Rädelsführerschaft). Die Anklage beruht meist
auf wilden Konstrukten aus abgehörten Telefonen und Gemeindeverwaltungen und
geheimen Zeugenaussagen. Gewalttaten werden keinem der Angeklagten vorgeworfen.
Ein weiterer Vorwurf nach dem Antiterrorgesetz ist „Propaganda für eine
verbotene Organisation ohne deren Mitglied zu sein“, worauf 7 ½ Jahre Haft
stehen. Als solche „Propaganda“ werden beispielsweise Zeitungsartikel, die
Teilnahme an Pressekonferenzen, Demonstrationen oder Guerillabegräbnissen
gewertet. Durch das kürzlich verabschiedete 3. Justizreformpaket kamen einige
wenige der z.T. seit Jahren in Untersuchungs- oder Strafhaft sitzenden
Gefangenen frei. Betroffen sind vor allem Propagandadelikte, wobei es in der
Entscheidungsfreiheit der Gerichte liegt, hier Haftstrafen zu verkürzen. So ist
Vedat Kursun, der zu 166 Jahren verurteilte ehemalige Chefredakteur der
kurdischsprachigen Tageszeitung Azadiya Welat kürzlich freigekommen. Bei
Fortsetzung seiner journalistischen Tätigkeit droht ihm nach eigener Aussage
erneute Festnahme. Einige wenige Gefangene sind in den letzten Monaten aus der
Untersuchungshaft freigekommen, ihre Verfahren laufen weiter und ihnen droht
jederzeitige erneute Inhaftierung. Betroffen sind von unseren Gesprächspartnern
beispielsweise der Vorsitzende des Menschenrechtsvereins IHD von Hakkai, Ismail
Akbulut, dem u.a. seine Kontakte zu ausländischen Journalisten und deutschen
Parlamentariern vorgeworfen werden, sowie die Journalistin Hamdiye Ciftci aus
Hakkari. Während unseres Aufenthalts beim Bürgermeister von Beytüssebap, Yusuf
Temel, überbrachte ihm die Polizei eine Vorladung zur Sonderstaatsanwaltschaft
in Diyarbakir. Diese ermittelt gegen ihn wegen „Propaganda für eine verbotene
Organisation ohne deren Mitglied zu sein“,. Innerhalb
von drei Tagen muss Temel dieser Vorladung in die mehr als eine Tagesreise
entfernte Stadt antreten. Untersuchungshaft und die Verurteilung zu einer
langjährigen Haftstrafe drohen.
Wie die nach 23-monatiger U-Haft kürzlich freigekommene
Journalistin Hamdiye Ciftci aus Hakkari schildert, kommt die Untersuchungshaft
bereits Folter gleich. Die Zellen sind zum Teil dreifach überbelegt. In ihrer
auf 12 Personen angelegten Zelle im Gefängnis von Bitlis waren 18 Personen
gefangen, darunter auch zwei zwei- und dreijährige Babys, deren Mütter in Haft
sind sowie eine 70-jährige. Ein Teil der Gefangenen muss auf dem Boden schlafen
und im Stehen Essen. Trotz dieser Zustände organisieren die Gefangenen jeden
Tag ein Schulungsprogramm. In mehreren Gefängnissen kam es aufgrund der
Überfüllung in diesem Jahr bereits zu Aufständen und Bränden, bei denen
Gefangene verletzt oder getötet wurden.
Als besondere Folter dienen die Gefangenentransporte der
politischen Gefangenen zu den Prozessterminen. Die Gefangenen werden dazu
gefesselt in enge Zellen in Gefangenentransporter zusammengepfercht. Der Wagen
ist völlig unterkühlt und wird darum und wegen der Enge der Zellen von den
Gefangenen als Kühlschrank bezeichnet. Auf der 5-6 stündigen Fahrt erhalten die
Gefangenen weder Essen noch Trinken noch dürfen sie Toiletten aufsuchen. Viele
Gefangene übergeben sich und werden dann in den verdreckten Kleidern vor
Gericht vorgeführt. Dort müssen auch die angeklagten Frauen in Begleitung
männlicher Soldaten und mit Handschellen auf die Toilette gehen. Sexistische
Beleidigungen durch die für die Bewachung zuständige Militärpolizei sind an der
Tagesordnung.
In den kurdischen Landesteilen der Türkei werden nahezu
alle Demonstrationen kurdischer zivilgesellschaftlicher Kräfte von der Polizei
angegriffen und mit exzessiver Gewalt auch gegen Kinder und alte Menschen
aufgelöst. Dabei ist es egal, ob die Veranstalter die BDP, Gewerkschaften oder
Frauenverbände sind. Auch das Thema der Demonstrationen ist für den
Polizeieinsatz unerheblich. Durch den massiven Einsatz von Reizgas sind in
diesem Jahr bereits mehrere Demonstranten und Passanten getötet worden, z.T.
auch als sie von den Gasgranaten getroffen wurden.
In Sirnak wurden wir am Montag 17. September Zeugen, wie
die Polizei eine aus ca. 200 Teilnehmern bestehende Demonstration der BDP für
muttersprachlichen (kurdischen) Schulunterricht massiv mit einem Wasserwerfer
und Gasgranaten auflöste. Entgegen anderslautender Meldungen in der deutschen
Presse gibt es weiterhin keinen muttersprachlichen Schulunterricht, lediglich
freiwilliger kurdischsprachiger Ergänzungsunterricht ab der Mittelstufe ist ab
diesem Schuljahr eingeführt worden. Ohne Rücksicht auf die Kinder – Dutzende
Grundschüler standen in den vorderen Reihen der Demonstration - wurden die
Gasgranaten mit einem zu Erstickungszuständen führenden Reizgas abgeschossen
und der Wasserwerferstrahl auch auf die Kinder gerichtet. Es gab zahlreiche
Verletzte. Der Einsatz dieses Reizgases muss als vorverlegte Form der Folter
gewertet werden. Ich und eine weitere Journalistin wurden dabei vorübergehend
festgenommen. Die Polizei löschte Aufnahmen des Polizeieinsatzes von unserer
Kamera. Die Polizisten begründeten den Polizeieinsatz uns gegenüber damit, dass
die Demo nicht erlaubt wäre und Kinder dafür bezahlt würden, Steine zu schmeißen.
In Sirnak, wo die BDP den Bürgermeister stellt, werden von Seiten des
staatlichen Gouverneurs aber generell keine Demonstrationen der BDP erlaubt.
Am Freitag 21. September wurden wir in Van Zeugen, wie
die Polizei eine Demonstration von mehreren hundert Lehrern der
Bildungsgewerkschaft Egitim-Sen gegen eine neoliberal-islamische Bildungsreform
und für mehr Lehrerwohnungen mit der Drohung unmittelbarer Gewalt daran
hinderte, vor den Gouverneurssitz zu ziehen. Die Polizei begleitete die
Lehrerdemonstration von Anfang an mit Robocops, die Sturmgewehre trugen. Dass
es nicht zum Wasserwerfer- und Gaseinsatz kam, war wohl der Besonnenheit der
Gewerkschafter einerseits aber auch der Anwesenheit von Politikern der
kemalistischen Oppositionspartei CHP andererseits zu verdanken. Am gleichen Tag
wurde in Silopi eine Frauendemonstration gegen Vergewaltigungen mit äußerster
Polizeigewalt aufgelöst, es gab zahlreiche Verletzte.
Friedenswunsch
Alle Gesprächspartner – von BDP-Vorständen über
Bürgermeister und Guerillakämpfern bis hin zu einfachen Soldaten an
Kontrollposten - drückten ihren Wunsch
nach einem Ende des Krieges aus. Alle Gesprächspartner auf kurdischer Seite machten
deutlich, dass sie das Blutvergießen ablehnten, aber nach der Zurückweisung
aller Friedensinitiativen von kurdischer Seite durch die AKP-Regierung nun eine
Lösung erzwungen werden müsse. Sowohl von der BDP als auch der PKK wird die
Aufnahme eines Dialogs zwischen der Regierung und dem inhaftierten
PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan als Repräsentant der kurdischen Seite
befürwortet. Immer wieder wurde in diesem Zusammenhang die große Sorge vieler
Menschen über den Gesundheitszustand des seit Juli letzten Jahres von jedem
Kontakt mit seinen Anwälten abgeschnittenen Abdullah Öcalan deutlich. Das
erklärte Ziel der kurdischen Seite ist es, innerhalb der türkischen
Staatsgrenzen durch eine demokratische Autonomie mit dem türkischen Volk auf
gleicher Augenhöhe leben zu können.
Ende September 2012
Kurdistan Report Nr. 164, November/Dezember 2012