Berufsverbote statt Kurdischunterricht in der Osttürkei

 

Trotz Gesetzesänderung kann die kurdische Sprache in der Türkei nicht unterrichtet werden

 

„Ich war 16 Jahre lang Lehrer. Niemals habe ich einen Menschen umgebracht. Aber man nennt mich einen Terroristen“, erzählt Abdullah Demirbas. Seit kurzem ist er Vorsitzender der Lehrergewerkschaft Egitim Sen in Diyarbakir, der heimlichen Hauptstadt Türkisch-Kurdistans.

Weil er sich auf einer Pressekonferenz den Forderungen seiner Schüler nach Kurdischunterricht anschloss, hat er im September 2002 seine Arbeit als Lehrer verloren. Einen Monat zuvor hatte das türkische Parlament auf Drängen der EU weitreichende Gesetzesänderungen verabschiedet, die privaten Sprachunterricht auf kurdisch legalisierten. Zuvor galt dies noch als „separatistische Propaganda“ und wurde als terroristisches Delikt verfolgt. Während die Prozesse gegen hunderte von Schülern und Studenten, die mit einer Unterschriftenkampagne für das Recht auf einen kurdischsprachigen Ergänzungsunterricht eingetreten waren, inzwischen eingestellt wurden, geht der Staat weiterhin gegen die an der Kampagne beteiligten Lehrer vor.

Nachdem der türkische Staat unbequeme Lehrer jahrelang in andere Teile der Türkei – bevorzug in faschistisch dominierte Dörfer – verbannt hatte, werden nun Berufsverbote verhängt. Außer Demirbas haben noch fünf weitere Lehrer in Diyarbakir Berufsverbot erhalten. Ihr Verbrechen: sie haben mit ihren Schülern kurdische Lieder gesungen. Obwohl sie vom Staatssicherheitsgericht vom Vorwurf des Terrorismus freigesprochen wurde, dürfen sie nicht mehr als Lehrer tätig sein. „Das Kultusministerium hat mich wegen meiner Meinung zum schlechten Lehrer erklärt. Allein wegen meiner Ideen lässt der Staat mich und meine vier Kinder hungern und ohne Gesundheitsversorgung“, meint Demirbas.

Kurse in kurdischer Sprache, die das Türkische Parlament genehmigt hat, existieren nur auf dem Papier. Auch für Privatschulen müssen die Lehrer ein Zertifikat vorlegen, dass sie als Kurdischlehrer ausweist. Doch keine staatliche Stelle in der Türkei ist bereit, ein derartiges Zertifikat auszustellen. Während viele Deutsch- und Englischlehrer in der Türkei aus anderen europäischen Ländern stammen, gilt für die Kurdischlehrer, dass sie türkische Staatsbürger sein müssen. Geprüfte Kurdischlehrer aus dem Nordirak oder Europa fallen somit als Lehrkräfte aus. Während so das Recht auf Kurdischunterricht besteht, können keine Lehrer eingestellt werden. Dazu kommt, dass Privatunterricht für die meisten Bewohner der kurdischen Gebiete unerschwinglich wäre. „Die Menschen sind nach 15 Jahren Krieg verarmt und zum großen Teil arbeitslos. Jetzt sollen sie noch dafür viel Geld zahlen, ihre eigene Muttersprache zu erlernen“, kritisiert Demirbas. „Doch gegenüber der EU kann der Türkische Staat behaupten, das offensichtlich kein Interesse an Kurdischunterricht besteht, da niemand Kurdischkurse anbietet.“

In einer Eingabe an das Kultusministerium hat die Gewerkschaft Egitim Sen gefordert, dass Schulgebäude sollen am Wochenende für kostenlosen Ergänzungsunterricht in kurdischer Sprache zur Verfügung gestellt werden und Kurdischlehrer vom Staat ausgebildet und mit Zertifikaten ausgezeichnet werden. Vom Ministerium gibt es seit Monaten keine Reaktion auf  das Schreiben der Gewerkschaft.

Jetzt drohen weiteren 148 Lehrern aus der Osttürkei Berufsverbote. Der Staat hat diese Lehrer dazu verpflichtet, in Flüchtlingslagern im Nordirak irakisch-kurdischen Flüchtlingen Türkischunterricht zu erteilen. Alle 148 Lehrer weigern sich bislang, dieser Arbeit nach zu kommen. Die Angst vor möglichen Giftgasangriffen Saddam Husseins auf die irakisch-kurdischen Gebiete ist nur ein Grund für die Weigerung. Vor allem sind die Lehrer nicht bereit, sich an der staatlich verordneten Zwangsassimilation der Kurden zu beteiligen.

Über Demirbas Schreibtisch hängt ein Foto aus dem Jahr 1991. Es zeigt türkische Soldaten in einem kurdischen Flüchtlingslager im Nordirak. Irakisch-kurdische Kinder werden von den Soldaten gezwungen, an die Tafel eine Parole Kemal Atatürks zu schreiben: „Welches Glück, dass ich sagen kann, ich bin ein Türke.“

 

Nikolaus Brauns, Diyarbakir Ende März 2003