Das Rote Kinderheim

Vor 75 Jahren wurde das Kinderheim der Roten Hilfe in Elgersburg eröffnet.

Von Nick Brauns


Am 12. April 1925 versammelten sich auf dem Lindenplatz im kleinen thüringischen Kurort Elgersburg über tausend Arbeiter unter roten Fahnen. Arbeitergesangsvereine stimmten Kampfgesänge an, und das Trommler- und Pfeiferkorps des Roten Frontkämpferbundes Arnstadt ging in Aufstellung.

Nach einer Rede von Wilhelm Pieck, Mitglied des ZK der KPD und Vorsitzender der Rote Hilfe, und dem Grußwort eines schwedischen Genossen der Internationalen Roten Hilfe setzte sich die Demonstration in Bewegung. Ziel war das höchstgelegene Haus im Ort, die »Villa Bauer« unmittelbar am Waldrand. Trotz aller Manöver des Reichskommissars zur Überwachung der Öffentlichen Ordnung, einem Vorläufer des Verfassungsschutzes, war es der Roten Hilfe gelungen, mit Hilfe der Tarnvereinigung »Quieta Erholungsstätten GmbH« das Gebäude zu kaufen, um darin ein Ferienheim für proletarische Kinder zu eröffnen. Im Beisein von 31 Kindern in blauen Blusen mit roten Halstüchern, einem Geschenk der Elgersburger Kommunistinnen, wurde das Heim von Wilhelm Pieck auf den Namen MOPR getauft. MOPR war die russische Bezeichnung für die Internationale Rote Hilfe.

Die Rote Hilfe Deutschlands und die Internationale Rote Hilfe hatten die Aufgabe, sich um die Opfer des Klassenkampfes, die politisch Verfolgten und Gefangenen sowie deren Familien zu kümmern. Die Hilfe war ebenso materieller wie moralischer Art. Die ihres Ernährers beraubten Familien wurden mit Lebensmitteln versorgt, den Angeklagten und Gefangenen wurde Rechtshilfe erteilt, aber auch Zigaretten und revolutionäre Literatur in die Gefängnisse geschickt. Nach dem mitteldeutschen Aufstand 1921 wurden in Deutschland die ersten Rote-Hilfe-Komitees von der KPD gegründet. Ende 1924 wurde die Rote Hilfe Deutschlands dann als überparteiliche Mitgliederorganisation neu gegründet.

Bis Anfang der 30er Jahre konnte die RHD auf über eine Millionen Einzel- und Kollektivmitglieder anwachsen und war damit die neben den Gewerkschaften stärkste Arbeiterorganisation in Deutschland. Die Mehrzahl ihrer Mitglieder gehörte keiner Partei an, viele waren in der KPD und nur eine kleine Minderheit waren Sozialdemokraten, da die SPD ihren Mitgliedern offiziell die Mitgliedschaft in der RHD verbot. Selbst die Sammlungen der Roten Hilfe wurden von den sozialdemokratischen Behörden, denen das Haus mit der Rote Fahne ein Dorn im Auge war, mit Verweis auf die »kommunistische Beeinflussung« der Kinder häufig verboten.

Dafür gelang es der Roten Hilfe, die bekanntesten demokratischen Intellektuellen der Weimarer Republik als Unterstützer zu gewinnen. Der Anarchist Erich Mühsam gehörte lange zu den führenden Agitatoren der Organisation, Kurt Tucholsky war sogar Mitglied des Zentralvorstandes, Heinrich und Thomas Mann unterschrieben Amnestieaufrufe. Insbesondere im Kuratorium für die beiden Kinderheime der Roten Hilfe, das MOPR-Heim in Elgersburg und den Barkenhoff des Jugendstilmalers Heinrich Vogeler in Worpswede bei Bremen engagierten sich Intellektuelle von Käthe Kollwitz bis Albert Einstein. »Lest die Briefe von Rosa Luxemburg und verliert nie aus den Augen, daß die Menschen sich mehr durch ihr äußeres Schicksal als durch Gefühle und Handlungen voneinander unterscheiden«, schrieb Einstein den Kindern aus dem MOPR-Heim.

Die häufig unterernährten und kranken Kinder aus proletarischen, von der Klassenjustiz geschlagenen Familien, wurden für mehrere Wochen in den Kinderheimen der Roten Hilfe mit nahrhaftem Essen, Sport und Spielen sowie modernen, für viele ungewohnten Sanitäreinrichtungen aufgepäppelt. Finanziert wurde das MOPR-Heim ausschließlich aus Spenden aus aller Welt. Vietnamesische Kommunisten schickten Reis, während Moskauer Heimkinder mit Straßenputzarbeiten 50 Rubel verdienten, die sie zum Kauf des Heimes beisteuerten.

Das MOPR-Heim wurde ab 1928 auch als Erholungsstätte für entlassene politische Gefangene und für Schulungszwecke der KPD genutzt. Ausgerechnet am traditionellen Rote-Hilfe- Tag, dem Jahrestag der Pariser Kommune am 18 März, beschlagnahmten die Faschisten 1933 das Heim und übergaben es der Hitler-Jugend. Nach dem Krieg wurde das Haus von der SED-Bezirksleitung Suhl als Erholungsheim geführt. Da die ursprüngliche Kaufurkunde aus dem Jahr 1924 noch vorlag, wurde das Gebäude 1995 als ehemaliger KPD- Besitz als einzige Immobilie neben dem Berliner Karl- Liebkecht-Haus von der Treuhand an die PDS übergeben. In deren Auftrag wird das Haus heute als »Hotel am Wald« geführt.

Zum 75. Jahrestag der Eröffnung des MOPR-Heims hatten PDS-Bundes- und Landesvorstand Thüringen, die Rosa- Luxemburg-Stiftung und das Jenaer Forum für Bildung und Wissenschaft zu einer Woche der Begegnungen in das Hotel am Wald eingeladen. Die 1990 nach Worpswede ausgelagerte Traditionsausstellung wurde im Beisein der Thüringer PDS- Fraktionschefin Gabi Zimmer, von Zeitzeugen sowie Vertretern der heutigen Roten Hilfe e.V. neu eröffnet und eine Publikation zur 75jährigen Geschichte des Hauses vorgestellt.

Ergänzt wurde die Ausstellung unter anderem durch eine Gedenktafel an den Gründer der Elgersburger Ortsgruppe der Roten Hilfe, Karl Hager. Von 1923 bis 1927 leitete Hager die Ortsgruppe der RHD und saß auch für die KPD im Gemeinderat. Um zum Aufbau des Sozialismus beizutragen, ging der Thermometer-Facharbeiter Hager 1927 in die Sowjetunion. Während der großen Säuberung 1937 wurde er inhaftiert und 1940 an die deutsche Gestapo ausgeliefert. Nach kurzer Haft in Deutschland dürfe Hager unter Polizeiaufsicht wieder in Elgersburg arbeiten. Von 1946 bis 1948 war er Gemeinde- und Kreisrat, wurde dann aufgrund von falschen Anschuldigungen aus der Sowjetunion erneut inhaftiert. Erst 1960 wird der 1957 verstorbene Hager rehabilitiert.

Nach der Eröffnung der Traditionsausstellung berichteten Zeitzeugen von ihren Erlebissen. »1924 hatte ich noch einen Pfaffen an meinen Weihnachtsbaum gehängt«, berichtet ein aus Hamburg stammender Genosse, »und 1925 hängte ich zu Weihnachten im MOPR-Heim Lenins Roten Stern auf.« Die 80jährige Kommunistin Charlotte erzählt, wie sie als Mitglied des Jungspartakusbundes in Elgersburg Spenden für das Kinderheim sammelte. »Die ganze Bevölkerung stand hinter dem Heim, nicht nur die Kommunisten«. Kommunisten gab es im roten Elgersburg genug. Bis 1931 stellte die KPD den Bürgermeister. Das Elgersburger Rathaus war das erste Gebäude in Deutschland, daß amtlich den Sowjetstern an der Fassade anbringen ließ.

Einig sind sich alle Zeitzeugen, die einen Ferienaufenthalt in einem der Kinderheime der Roten Hilfe in Worpswede, Elgersburg oder dem russischen Iwanowo verbracht hatten, daß sie dort für ihr ganzes Leben geprägt wurden. Pädagogen der Roten Hilfe, wie Karl Ellrich in Elgersburg, versuchten, »dem Arbeiterkind systematisch die Augen zu öffnen für seine Klassenlage, für die proletarische Auffassung des Lebens, ... es selbst aktiv zu beteiligen an den bewußten Lebensäußerungen und Kampfhandlungen der proletarischen Klasse«. Ehemalige Heimbewohner bestätigen: »Wir lernten dort Verantwortung und Solidarität kennen.« Eindrucksvoll war für viele die Begegnung mit Kinder aus anderen Ländern.

»Seit meinem Aufenthalt im Kinderheim der Roten Hilfe verstehe ich mich als Internationalistin« berichtet eine Zeitzeugin. So beherbergte das MOPR-Heim 1926 zwei Gruppen bulgarischer Kinder, deren Eltern von den Faschisten ermordet worden waren. Andere kamen aus Österreich, Rumänien, Litauen oder der Tschechoslowakei. Sie verbrachten jeweils acht bis zwölf Wochen zur Erholung im MOPR-Heim und hatten viele Kontakte mit deutschen Kindern wie dem Jungspartakusbund.

Am kommenden Dienstag findet im Rahmen der Woche der Begegnung um 15 Uhr eine Lesung des Historikers Kurt Pätzold statt. Für Mittwoch lädt die AG Geschichte des Landesvorstands der PDS Thüringen ab 10 Uhr zu einer öffentlichen Gesprächsrunde mit Kurt Pätzold zum Thema »Die Sicht auf Faschismus und zweiten Weltkrieg in der DDR-Geschichtsschreibung« ein. Zum Abschluß wird am 20. 4. der PDS-Ehrenvorsitzende Hans Modrow um 16 Uhr aus seinem Buch »Ich wollte ein neues Deutschland« lesen.

*** Die Broschüre »MOPR-Heim Elgersburg 1925 - Zur 75jährigen Geschichte des Hauses« kann für DM 5,50 in Briefmarken beim Hotel Am Wald, Schmücker Strasse 20, 98716 Elgersburg, bestellt werden.

 

Junge Welt 17.04.2000