Das Rote Kinderheim

Vor 80 Jahren wurde das Kinderheim der Roten Hilfe in Elgersburg eröffnet.

Am 12. April 1925 versammelten sich auf dem Lindenplatz im kleinen thüringischen Kurort Elgersburg nahe Ilmenau über tausend Arbeiter unter roten Fahnen. Arbeitergesangsvereine stimmten Kampfgesänge an, und das Trommler- und Pfeiferkorps des Roten Frontkämpferbundes Arnstadt ging in Aufstellung.

Nach einer Rede des Vorsitzenden der Roten Hilfe Deutschlands Wilhelm Pieck, Mitglied des ZK der KPD, und dem Grußwort eines schwedischen Vertreters der Internationalen Roten Hilfe setzte sich die Demonstration in Bewegung. Ziel war das höchstgelegene Haus im Ort, die »Villa Bauer« unmittelbar am Waldrand. Trotz aller Manöver des Reichskommissars zur Überwachung der Öffentlichen Ordnung, einem Vorläufer des Verfassungsschutzes, war es der Roten Hilfe gelungen, mit Hilfe der Tarnvereinigung »Quieta Erholungsstätten GmbH« das Gebäude zu kaufen, um darin ein Ferienerholungsheim für Kinder proletarischer politischer Gefangener zu eröffnen. Als Luftkurort war das von Wäldern umgebene Elgersburg zur Erholung der häufig kranken Kinder ideal geeignet. Doch auch politisch schien das Klima günstig, galt Elgersburg doch in der ganzen Umgebung als „roter Ort“. Die KPD stellte als stärkste Partei in Elgersburg die Mehrheit im Gemeindeparlament und ab 1923 mit Albrecht Müller den Bürgermeister. Der Neubau des Elgersburger Gemeindehauses erhielt als erstes Gebäude in Deutschland im amtlichen Auftrag einen Sowjetstern auf die Fassade.

Im Beisein von 31 Kindern in blauen Blusen mit roten Halstüchern, einem Geschenk von Elgersburger Kommunistinnen, wurde das Heim von Wilhelm Pieck auf den Namen MOPR getauft. MOPR war die russische Bezeichnung für die Internationale Rote Hilfe, mit deren Geldern der Kauf des Hauses erst möglich wurde. Finanziert wurde das MOPR-Heim ausschließlich aus Spenden. Vietnamesische Kommunisten schickten Reis, während Moskauer Heimkinder mit Straßenputzarbeiten 50 Rubel verdienten, die sie zum Kauf des Heimes beisteuerten.

Umfangreiche Umbauten hatten ein mustergültiges Heim entstehen lassen. Im Wohngebäude der Villa boten sieben große, luftige Schlafzimmer Platz für 35 Betten. Im Erdgeschoss lagen Küche und Speisekammer, der Speisesaal, die Ankleideräume und der Wasch- und Duschraum. Dort lagen für jedes Kind ein Handtuch und ein Wasserglas mit Zahnbürste bereit - für viele Kinder ein ungewohnter Luxus. Im April 1926 wurde durch Wilhelm Pieck ein Erweiterungsbau mit einem Bade- und Waschraum für warme und kalte Bäder, weiteren Schlafzimmern und einem großen Aufenthaltsraum eröffnet. Aus Spenden der Arbeiterschaft wurden Spiele, Filmvorführapparat und ein Radio angeschafft sowie eine Werkstatt für Handwerksarbeiten eingerichtet. Das ganze Gebäude wurde zentralgeheizt.

Die häufig unterernährten und kranken Kinder aus proletarischen, von der Klassenjustiz geschlagenen Familien, wurden für mehrere Wochen in den Kinderheimen der Roten Hilfe mit nahrhaftem Essen, Sport und Spielen sowie modernen, für viele ungewohnten Sanitäreinrichtungen aufgepäppelt. „Für uns ist dieses MOPR-Kinderheim in Elgersburg die Grundschule des Internationalismus gewesen“, erinnerte sich Lore Richard, die nach der Verhaftung ihres Vaters, des Architekten und Rote-Hilfe-Funktionärs Richard Daniel 1927 über ein Jahr im MOPR-Heim leben durfte und dort mit einer bulgarischen Kindergruppe, deren Eltern von Faschisten ermordet worden waren, in Kontakt kam. „Wir waren noch Kinder, aber haben dennoch am eigenen Leibe so richtig erfahren, was proletarische Solidarität ist. Wir haben es erfahren, begriffen und uns eingeprägt - fürs ganze Leben!“

Die beiden Kindererholungsheime der Roten Hilfe in Deutschland - der Barkenhoff in der Künstlerkolonie Worpswede bei Bremen und das Elgersburger MOPR-Heim -  boten engagierten Reformpädagogen die Gelegenheit, neue Ansätze der Kindererziehung zu erproben. Schon die Heimordnung verdeutlicht das Ziel, den Kindern Werte wie Verantwortungsbewußtsein und Solidarität beizubringen. „Die Kinder wählen in ihrer ersten Heimversammlung aus sich heraus den Heimrat, der aus drei der besten Kinder bestehen soll. Die Gewählten können jederzeit mit Mehrheitsbeschluß zurückgerufen werden. Der Heimrat hat die Aufgabe, gemeinsam mit den Erwachsenen sämtliche Aufgaben und Spiele zu organisieren und die Heimdisziplin aufrechtzuerhalten. [...] Die Kinder werden in Altersgruppen eingeteilt, an deren Spitze ein größerer Junge oder Mädchen steht.“

Den Behörden war das proletarische Kinderheim, von dessen Dach die rote Fahne wehte, von Anfang an ein Dorn im Auge. Akribisch notierten Polizeispitzel selbst die Texte von Liedern, die im Haus gesungen wurden. Immer wieder wurden auch die Spendensammlungen für das Kinderheim verboten. Neben der polizeilichen und gerichtlichen Verfolgung machten der Roten Hilfe die hohen Unterhaltskosten von rund 75.000 Mark jährlich für die Kindererholungsheime zu schaffen. Daher gründete die Rote Hilfe 1926 ein Kuratorium, das die Heime nach außen hin vertrat. Die Kuratoriumsmitglieder warben in der liberalen Presse für die Kinderheime: „Die vom staatlichen Standpunkt aus begreifliche Bestrafung der Schuldigen darf nicht länger die Verelendung von Unschuldigen nach sich ziehen, von unbeteiligten Frauen und hilflosen Kindern. Gegen dieses erschütternde soziale Unrecht muss freie Fürsorge großzügig eingesetzt werden.“ Neben kommunistischen Funktionären der Roten Hilfe wie Wilhelm Pieck, Jacob Schloer, Otto Gäbel und Fritz Altwein gehörten dem ca. 50 köpfigen Kuratorium unter anderem die Schriftsteller Heinrich und Thomas Mann, Klabund, Salomo Friedländer, Kurt Hiller und Max Brod, die Verleger Gustav Kiepenheuer und Samuel Fischer, der Journalist Egon Erwin Kisch, die Maler Heinrich Zille und Heinrich Vogeler, der Rechtsanwalt Josef Herzfeld, der Physiker Albert Einstein, der Arzt Max Hodann sowie der Sexualreformer Magnus Hirschfeld an.

Erhalten geblieben ist ein Brief des Physiknobelpreisträgers Albert Einstein an eine Kindergruppe im Elgersburger Heim: „Liebe Kinder, Ihr habt mich durch eure Gratulation und die prächtigen Zeichnungen sehr erfreut. Gern möchte ich einiges besonders loben, aber das wäre nicht nett gegen die übrigen und nicht förderlich für den brüderlichen Geist, der das Allerwichtigste ist. Lasset Euch führen durch die Besten. Lest die Briefe von Rosa Luxemburg und verlieret nie aus dem Auge, daß die Menschen sich mehr durch ihr äußeres Schicksal als durch Gefühle und Handlungen voneinander unterscheiden!“

Das MOPR-Heim in Elgersburg wurde im Sommer 1928 durch ein Verbot der weit rechts stehenden Thüringer Landesregierung als Kinderheim geschlossen. Von nun an diente es als Schulungsstätte der KPD und Erholungsheim für ehemalige politische Gefangene. So brachte die Rote Hilfe die ZK-Mitglieder Ernst Schneller und Albert Kuntz zur Erholung von den Strapazen der Haft darin unter.

Ausgerechnet am traditionellen Rote-Hilfe-Tag am 18 März 1933 beschlagnahmten die Faschisten 1933 das Heim und übergaben es der Hitler-Jugend. Nach dem Krieg wurde das Haus von der SED-Bezirksleitung Suhl als Erholungsheim geführt. Da die ursprüngliche Kaufurkunde aus dem Jahr 1924 noch vorlag, wurde das Gebäude 1995 als ehemaliger KPD-Besitz als einzige Immobilie neben dem Berliner Karl-Liebknecht-Haus von der Treuhand an die PDS übergeben. In deren Auftrag wird das Haus heute als »Hotel am Wald« geführt. Bis heute erinnert dort ein Traditionskabinett an die Geschichte des Hauses und der Roten Hilfe Deutschland. Ergänzt wurde die im Jahr 2000 wiedereröffnete noch aus der DDR stammende Ausstellung unter anderem durch eine Gedenktafel für den Gründer der Elgersburger Ortsgruppe der Roten Hilfe, Karl Hager. Von 1923 bis 1927 leitete Hager die Ortsgruppe der RHD und saß auch für die KPD im Gemeinderat. Um zum Aufbau des Sozialismus beizutragen, ging der Thermometer-Facharbeiter Hager 1927 in die Sowjetunion. Während der großen Säuberung 1937 wurde er inhaftiert und 1940 an die deutsche Gestapo ausgeliefert. Nach kurzer Haft in Deutschland dürfe Hager unter Polizeiaufsicht wieder in Elgersburg arbeiten. Von 1946 bis 1948 war er Gemeinde- und Kreisrat, wurde dann aufgrund von falschen Anschuldigungen aus der Sowjetunion erneut inhaftiert. Erst 1960 wurde der 1957 verstorbene Hager von der SED rehabilitiert.

 

Nick Brauns

 

Zum Weiterlesen:

 

-         Nikolaus Brauns: Schafft Rote Hilfe! Pahl-Rugenstein Verlag, Bonn 2003, geb. 348 Seiten, rund 300 Abbildungen und Faksimiles, Großformat; 32 Euro

-         Der Barkenhoff: Kinderheim der Roten Hilfe, 192 Seiten, zahlreiche, z.T. farbige Abbildungen; 19,50 EUR

 

(beide über Literaturvertrieb der Roten Hilfe erhältlich)

 

aus: Die Rote Hilfe 2.2005