Der neue Mensch

Leo Trotzki äußert sich zu Kultur und Moral. Von Nick Brauns


»Weißt du nicht, was Trotzki über Pünktlichkeit gesagt hat«, empfing mich Anfang der 90er Jahre regelmäßig der Leiter meiner trotzkistischen Ortsgruppe. Des Russischen nicht mächtig, konnte ich es tatsächlich nicht wissen. Solcherlei Ausflüchte für Unpünktlichkeit sind dank des Arbeiterpresseverlags nun nicht mehr möglich. Nicht nur Trotzkis Haltung zur Pünktlichkeit, auch seine Ansichten über das unachtsame Wegwerfen von Zigarettenstummeln und den Gebrauch von Schimpfworten kann man jetzt in einem Sammelband nachlesen. Lag die Artikelserie zu diesen Fragen, die Trotzki 1923 in der Prawda veröffentlicht hatte, bereits auf deutsch vor, so wurde eine Anzahl weiterer Reden und Texte aus den Jahren 1921 bis 1927 erstmals ins Deutsche übertragen.

In »Fragen des Alltagslebens« präsentiert sich der Gründer der Roten Armee als Kulturrevolutionär. »Der Mensch lebt nicht von Politik allein«, so seine Erkenntnis. War der Eifer der Bolschewiki vor der Oktoberrevolution primär auf die Frage der Machteroberung gerichtet, so rückten nach dem siegreichen Bürgerkrieg die sozialistische Umgestaltung der Ökonomie sowie kulturpolitische Aufgaben in den Vordergrund. Das Paradox der Situation bestand darin, daß das kulturell rückständigste Land Europas als erstes eine siegreiche Revolution im »Bewegungskrieg« (Gramsci) vorweisen konnte.

Um dort eine sozialistische Gesellschaft zu errichten, sah Trotzki zwei Hebel. Zum einen galt es, die Revolution in den entwickelten Ländern Europas voranzutreiben, um Sowjetrußland aus der Isolation zu befreien. Innerhalb des Landes war gleichzeitig die Hebung des kulturellen Niveaus, eine Kulturrevolution, notwendig, um die Massen zu aktiven Trägern des sozialistischen Aufbaus zu machen.

Dieses in den ersten Jahren der Sowjetmacht von Trotzki und den Bolschewiki vertretene Konzept von der Schaffung des »neuen Menschen« unterschied sich gewaltig von der »Umgestaltung des Menschen«, wie sie in den 30er Jahren unter Stalin propagiert wurde. Dabei wendet sich Trotzki sowohl gegen diejenigen Utopisten, die vertreten, daß sich als Voraussetzung für den Sozialismus zuerst die egoistische Psyche des Menschen ändern müsse, wie auch gegen das später unter Stalin praktizierte Modell einer Erziehungsdiktatur durch die »Schreckensgestalt des Gebieters mit dem großen Knüttel«.

Trotzkis Schlußfolgerung lautete im Sinne der Marxschen Erkenntnis, wonach das gesellschaftliche Sein das Bewußtsein bestimmt, daß die Schaffung sozialistischer Lebensbedingungen die Voraussetzung einer sozialistischen Psychologie des Menschen ist. »Die Entwicklung der Produktivkräfte ist kein Selbstzweck. Nicht zuletzt benötigen wir sie, um eine Persönlichkeit heranzubilden, einen bewußten Menschen, der keinen Herren auf der Erde über sich hat und keinen Herren, aus der Furcht geboren, im Himmel; einen Menschen, der alles Schöne und Gute, das die verflossenen Jahrhunderte schufen, in sich aufnimmt, der solidarisch mit allen anderen vorwärts schreitet, neue kulturelle Kostbarkeiten schafft, neue persönliche Beziehungen anknüpft und die bestehenden in der Familie neu orientiert, höhere, vornehmere als die, die auf dem Boden der Versklavung der Klassen entstanden sind.«

Lenins Feststellung, Sozialismus sei Sowjetmacht plus Elektrifizierung, ist bekannt. Darauf aufbauend benennt Trotzki zwei weitere Errungenschaften, die das Arbeiterleben tiefgreifend revolutioniert haben: der Achtstundentag und die Einstellung des Schnapsverkaufs. Trotzki sieht den Kampf gegen den Alkoholismus in einer Ebene mit dem Kampf gegen die Religiosität. Gegen Kirche und Kneipe setzt er das Kino und auch die Einrichtung von Bücherhütten in den Dörfern. Indem das Kino anziehend und zerstreuend wirke, konkurriere es mit der Kneipe und dem Gottesdienst und sei zugleich ein hervorragendes Instrument der Propaganda und zudem finanziell einträglich, schwärmt Trotzki. »Das Kino, das keine weitverzweigte Hierarchie, kein Brokat usw. braucht, entfaltet auf der weißen Leinwand eine viel packendere Theatralik, als selbst die reichste, durch die theatralische Erfahrung von Jahrtausenden gewitzte Kirche, Moschee oder Synagoge es vermag.«

Die Attraktivität der Kirche bestand in Rußland in ihrem kulturellen Angebot von Geselligkeit. Da ein Bedürfnis nach Feiern und Bräuchen vorhanden ist, gelte es, auch die Festkultur mit neuen Inhalten zu füllen. So empfiehlt Trotzki, zukünftig den Geburtstag eines Menschen zu feiern und nicht mehr den an einen Heiligen geknüpften Namenstag. Rote Fahnen ersetzten auf diesen Feiern zunehmend die christlich Kreuze. Doch auch mit der rapide ansteigenden Fahnenproduktion ist Trotzki nicht glücklich. Statt dessen sollte lieber Geld für den Druck von Landkarten ausgegeben werden, die in jeder Bücherhütte und auf öffentlichen Plätzen zur internationalistischen Bildung beitragen. »Die Landkartenfrage ist unter unseren Verhältnissen, d.h. unter den Verhältnissen der imperialistischen Einkreisung und des Herannahens der Weltrevolution, eine sehr wichtige Frage der öffentlichen Erziehung.«

Während Trotzkis Überlegungen zu Fragen des Alltagslebens seine Tätigkeit als Sowjetfunktionär widerspiegeln, entstand der letzte Text des vorliegenden Sammelbands 1938 im mexikanischen Exil. In der relativ bekannten Schrift »Ihre Moral und unsere« beschäftigt sich Trotzki mit den Moralausdünstungen jener sozialdemokratischen oder liberalen Intellektuellen, die eine Gleichung zwischen Trotzkismus und Stalinismus ziehen wollen. »Die Lieblingsmethode des moralisierenden Philisters besteht darin, das Verhalten der Reaktion mit dem der Revolution zu identifizieren. Dabei erzielt er nur Erfolg, indem er sich auf formale Analogien stützt.«

Eine solche Gleichsetzung geschieht nach der Logik der Totalitarismustheorie. Gegen das idealistische Postulat dieser »höheren Moral« oder »des gesunden Menschenverstandes« zeigt Trotzki, daß jede Moral die Moral einer Klasse sein muß. Auf den Vorwurf, sich die jesuitische Maxime »Der Zweck heiligt die Mittel« zueigen gemacht zu haben, antwortet er mit einigen Zeilen aus Lassalles Drama »Franz von Sickingen«: »Das Ziel nicht zeige, zeige auch den Weg. Denn so verwachsen ist hienieden Weg und Ziel, daß eines sich stets ändert mit dem andern. Und andrer Weg auch andres Ziel erzeugt.« Das Ziel ergibt sich naturnotwendig aus dem historischen Prozeß. Die Mittel sind dem Ziel organisch untergeordnet, und das unmittelbare Ziel wird selber zum Zweck eines entfernteren Ziels.

Wer in die letztgenannte Fragestellung tiefer einsteigen möchte, dem sei der kürzlich erschienene Band »Politik und Moral« von Ulrich Kohlmann empfohlen. Neben einer problemgeschichtlichen Einordnung der Zweck-Mittel- Debatte in der neueren Philosophie und Politik enthält dieses Auszüge aus dem »Anti-Kautsky«, den Trotzki während des russischen Bürgerkriegs zur Rechtfertigung des »Roten Terrors« verfaßt hat. Dem wird Kautskys antibolschewistisches Werk »Terrorismus und Kommunismus« sowie ein Text des amerikanischen Philosophen John Dewey gegenübergestellt. Dewey, ein herausragender Vertreter des Pragmatismus, leitete übrigens 1938 die unabhängige Untersuchungskommission zur Klärung der in den Moskauer Prozessen gegen Trotzki erhobenen Vorwürfe.

*** Leo Trotzki: Fragen des Alltagslebens, Arbeiterpresseverlag, Essen 2001, 268 S., DM 33,80 sowie

·        Ulrich Kohlmann (Hg.): Dewey - Kautsky - Trotzki: Politik und Moral, Zu Klampen Verlag, Lüneburg 2001, 176 Seiten, DM 38

 

Junge Welt 23.07.2001