Junge Welt 07.06.2008 / Geschichte / Seite 15

Mit eiserner Faust

Die Niederschlagung des Aufstandes der Dersim-Kurden vor 70 Jahren

Von Nick Brauns

 

»Der Türke ist der einzige Herr dieses Landes«, verkündete der türkische Justizminister Mehmut Esat Bozhurt nach der Niederschlagung eines kurdischen Aufstandes am Berg Ararat im Jahr 1930. »Wer nicht rein türkischer Herkunft ist, hat hier nur ein einziges Recht, das Recht, Sklave zu sein Mit Massendeportation und Zwangsassimilation hoffte die türkische Regierung, weitere Unabhängigkeitsbestrebungen der kurdischen Bevölkerung zu unterdrücken.

Das berüchtigte Gesetz Nr. 2510 zur Verbreitung der türkischen Kultur vom 14. Juli 1934 unterteilte die Türkei in drei Regionen: »1. Diejenigen Regionen, in denen die türkische Kultur in der Bevölkerung sehr stark verankert ist; 2. diejenigen Regionen, in denen die Bevölkerung angesiedelt werden soll, die zu türkisieren ist (das sind die Gebiete im Westen, besondere am Mittelmeer, der Ägäis, dem Marmara-Meer und Trakya); 3. diejenigen Regionen, die aus gesundheitlichen, ökonomischen, kulturellen, militärischen und sicherheitstechnischen Gründen entvölkert werden müssen und in denen sich niemand mehr ansiedeln darf (das sind Agri, Sason, Tunceli, Van, Kars, der südliche Teil von Diyarbakir, Bitlis, Bingöl und Mus).« Zur Umsetzung dieses Plans überfiel die Jandarma (Militärpolizei) kurdische Dörfer, folterte die Bauern und zerstörte ihre Ernte.

80000 Partisanen

Ein »Krebsgeschwür« war in den Augen von Staatspräsident Mustafa Kemal Atatürk insbesondere die Bergregion Dersim an der nordwestlichen Außengrenze des kurdischen Siedlungsgebiets. Dersim galt Mitte der 30er Jahre als »letzte freie Burg« der Kurden. In unzugänglichen Berghöhen waren die kleinen Bauerndörfer der Kontrolle des türkischen Staates weitgehend entzogen. Von anderen Kurden unterschieden sich die Bewohner Dersims durch den dort gesprochenen Zaza-Dialekt und ihren alevitischen Glauben, der islamische und vorislamisch-orientalische Elemente zu einer humanistisch geprägten Lehre verbindet. Schon im Osmanischen Reich hatte Dersim seine Autonomie bewahren können. Die Dersim-Kurden kämpften weder im russisch-türkischen Krimkrieg noch im Ersten Weltkrieg und dem anschließenden türkischen Unabhängigkeitskrieg. Doch sie schwiegen auch, als die türkische Armee in den 20er Jahren gegen sunnitische Kurden als »islamische Reaktionäre« vorging.

1936 wurde der Belagerungszustand über Dersim verhängt. Über Radio forderte Militärgouverneur General Alp Dogan die Bevölkerung zur Ablieferung von 200000 Gewehren auf. Da die Dersimer von den Massendeportationen in anderen kurdischen Regionen wußten, verweigerten sie die Waffenabgabe. Statt dessen wurden im Juni 1937 Polizisten aus einem Hinterhalt erschossen. Dies war der Startschuß zum Volkswiderstand. Innerhalb weniger Tage schlossen sich bis zu 80000 Bauern zu Partisaneneinheiten zusammen, die der anrückenden Armee schwere Verluste zufügten. Nun rief die türkische Armee in der Westtürkei alle 26- bis 28jährigen zu den Waffen.

Der angesehene alevitische Geistliche Seyid Riza bot General Alp Dogan an, die Kurden würden ihre Waffen niederlegen, »wenn ihre nationalen Rechte anerkannt werden«. Doch die türkische Regierung war nicht bereit, die geforderte Autonomie zu gewähren, sondern verlangte die bedingungslose Kapitulation. Selbst der Name »Dersim« wurde durch das türkische »Tunceli« ersetzt. Dies kann mit »Eiserner Faust« übersetzt werden, der Faust des Staates, die ab Sommer 1937 gegen Dersim zu wüten begann.

Kompromißlose Regierung

Vergeblich bat Seyid Riza in einem Schreiben vom 30. Juli 1937 den britischen Außenminister um Beistand: »Seit Jahren versucht die türkische Regierung, die kurdische Bevölkerung zu assimilieren, indem sie sie unterdrückt. Sie verbietet, ihre Zeitungen und Bücher in kurdischer Sprache zu lesen, verfolgt jene, die ihre Muttersprache sprechen und organisiert so die systematische Vertreibung von den fruchtbaren kurdischen Ländern in das unkultivierte Anatolien, wo ein großer Teil der Flüchtlinge umkommt. Drei Millionen Kurden leben in diesem Land und bitten nur darum, in Frieden und Freiheit leben zu können, um ihr Volk, ihre Sprache, ihre Traditionen und Zivilisation zu erhalten. Im Namen des kurdischen Volkes bitte ich Eure Exzellenz, das kurdische Volk mit Ihrem großen moralischen Einfluß zu unterstützen, damit diese grausame Ungerechtigkeit bald ein Ende hat Dieser Hilferuf verhallte ungehört.

Mit Luftbombardierungen und Kanonen ging die türkische Armee gegen die Dersim-Kurden vor. Tausende Frauen und Kinder, die sich in Berghöhlen an den Hängen des Berges Tujik gerettet hatten, wurden mit Giftgas ermordet oder lebendig eingemauert. Nach der durch Verrat erfolgten Verhaftung und Hinrichtung von Seyid Riza am 18. November 1937 in Elazig erklärte Ministerpräsident Ismet Inönü das »Problem Dersim« für gelöst. »Wir haben alle militärischen Aktivitäten der Bergtürken in Dersim zerschlagen

Tatsächlich war der Widerstand in den bis zu 3000 Meter hohen Bergen von Dersim keineswegs am Ende. Nach der Schneeschmelze im Frühjahr 1938 mußten weitere 100000 Soldaten gegen die Guerilla aufgeboten werden. Die grünen Täler Dersims füllten sich mit Giftgasschwaden, Wälder wurden angezündet, um die dahin Geflohenen herauszutreiben und zu erschießen. Tausende Frauen und Mädchen stürzten sich angesichts der befürchteten Vergewaltigungen durch Soldaten von den Felsen oder warfen sich in den Fluß Munzur. Dem Staat gelang es, einige Aghas (Großgrundbesitzer) und Stammesführer zur Kollaboration zu überreden, die Verstecke der Aufständischen verrieten. Auch die Feindschaft sunnitischer Stämme mit den Aleviten machte sich die Armee zunutze, um den Widerstand zu spalten. Als sie nicht mehr gebraucht wurden, ging die Armee auch gegen die Kollaborateure vor. Rund 400 Familien des Stammes Kiran hatten den türkischen Verlautbarungen vertraut, daß ihnen nichts geschehen würde, wenn sie sich von den Kämpfen fernhielten. Doch als die Armee in deren Dörfer einrückte, wurden die Männer erschossen, Frauen und Kinder in Scheunen lebendig verbrannt.

Uneinigkeit der Stammesführer und die Erschöpfung der seit 1936 isoliert in den Bergen kämpfenden Guerilla ließen den Aufstand im Herbst 1938 zusammenbrechen. Bis zu 70000 Kurden waren während des zweijährigen Kampfes getötet worden. Zwölf Anführer des Aufstandes, darunter die Parlamentsabgeordneten Said Abd el-Kader und Hassan Khairi, wurden am Galgen hingerichtet. Über 100000 Dersimer wurden in andere Landesteile deportiert.

Friedhofsruhe breitete sich über Dersim aus, bis dort in den 70er Jahren die maoistischen Partisanen der »Arbeiter- und Bauernbefreiungsarmee der Türkei« von Ibrahim Kaypakkaya und in den 80er Jahren die Arbeiterpartei Kurdistans PKK den bewaffneten Kampf aufnahmen.

 

Hintergrund: Die kurdischen Aufstände der 20er und 30er Jahre

Im türkischen Befreiungskrieg zum Ende des Ersten Weltkrieges hatten die kurdischen Stämme unter dem Banner der »islamischen Brüderschaft« an der Seite von Mustafa Kemal gegen die imperialistische Aufteilung der Türkei gekämpft. Der spätere Atatürk hatte die Gründung eines gemeinsamen Staates der Türken und Kurden zugesagt. Doch bei der Friedenskonferenz von Lausanne 1923 waren die Kurden nicht mehr vertreten, ihre Siedlungsgebiete wurden auf die Türkei, Irak, Iran und Syrien aufgeteilt. Nun begann die zwangsweise Türkisierung der kurdischen Bevölkerung. Die kurdische Sprache wurde verboten, selbst die Worte »Kurde« und »Kurdistan« wurden aus dem Wortschaft entfernt. Unter Führung des islamischen Geistlichen Sheikh Said kam es im Winter 1924/25 in der Region Elazig zum ersten Aufstand, bei dem sich reli­giöser Protest gegen die Abschaffung des Kalifats mit der Forderung nach nationalen Rechten für die Kurden verbanden. Die französische Mandatsmacht in Syrien half der türkischen Armee, mit der Eisenbahn von Aleppo Truppen zu transportieren, so daß der Aufstand im April 1925 vor den Stadtmauern Diyarbakirs niedergeschlagen werden konnte. 1929 startete die im libanesischen Exil von Intellektuellen und Feudalherren gegründete Nationalbewegung Xoybun (Unabhängigkeit) am Berg Ararat einen Aufstand. Die vom ehemaligen osmanischen General Ishan Nuri Pasha geführten Partisanen eroberten ein Gebiet bis nördlich von Van und Bitlis. Doch nach einer Einigung zwischen Iran und der Türkei schlugen Truppen beider Länder die Unabhängigkeitsbewegung im Sommer 1930 nieder, und die türkische Regierung ordnete Massenvertreibungen an. Die Kommunistische Partei der Türkei schätzte als Opfer von Vertreibungen und niedergeschlagenen Aufständen »mehr als 1,5 Millionen deportierte und massakrierte Kurden« zwischen 1925 und 1938.