Junge Welt 04.12.2010 / Wochenendbeilage / Seite 4 (Beilage)


Im Rebellenland

Wie »Dersim« (Silbertor) zu »Tunceli« (Bronzefaust) wurde: Eine kurdisch-alevitische Region in der Osttürkei kämpft um ihre Identität und ihr Überleben

Von Nick Brauns

 

Von der mesopotamischen Ebene führt die Reise kurz hinter der stickigen Provinzstadt Elazig über den Keban-Stausee. Eine Art felsiger Kegel ragt in dessen Mitte aus dem Wasser, eine ehemalige, nun zur Insel gewordene Bergspitze, gekrönt von der Burg Pertek. Die Fähre, auf der wir das eigentümliche Gebilde passieren, transportiert neben Reisebussen auch Militärlastwagen aus deutscher Fabrikation, an denen Artilleriegeschütze angekoppelt sind.

Auf der anderen Seeseite wird der Konvoi von zwei Panzern an einem Checkpoint der Jandarma, der Militärpolizei, in Empfang genommen. Hier, wo das Bergland an das aufgestaute Wasser des Euphrat grenzt, beginnt Dersim – das »Terroristengebiet«, wie die Soldaten sagen. Einschüsse an Straßenschildern und Parolen der kurdischen Arbeiterpartei PKK und der Maoisten an den steilen Felswände neben der Straße zeigen, daß hier Rebellenland ist – und das ganz konkret: Mit Straßensperren haben Guerilla-Verbände in den letzten Monaten ihren Anspruch auf ein »autonomes Kurdistan« demonstriert.

Auf keiner Karte

Dersim bedeutet in der kurdischen Zazaki-Sprache Silbertor. Doch dieser Name findet sich heute auf keiner türkischen Landkarte. Mitte der dreißiger Jahre wurde die in den nördlichen Ausläufern des Osttaurus gelegene Provinz zwischen anatolischem und Ararat-Hochland, Obermesopotamien und den Bergen des Schwarzen Meeres von der türkischen Regierung in Tunceli umbenannt. Das bedeutet »Bronzefaust« – die Faust des Staates, die bis heute gegen die widerspenstigen Bewohner der Provinz mit ihren bis zu 3300 Meter hohen Bergen geschwungen wird.

Schon im Osmanischen Reich hatte Dersim seine Autonomie bewahren können. Die Bewohner führten kaum Steuern an den Staat ab, verweigerten sich dem Militär, kämpften weder im Krimkrieg noch im Ersten Weltkrieg und dem anschließenden Unabhängigkeitskrieg. Von der Mehrzahl der Kurden der Nachbarprovinzen unterscheiden sich die Dersimer durch das Zazaki und ihren alevitischen Glauben, der islamische, naturreligiöse und altorientalische Elemente zu einer humanistisch geprägten Lehre verbindet. Mit schiitischen Muslimen teilen die Aleviten die Verehrung von Ali, dem Schwiegersohn des Propheten Mohamed. Doch beten bei den Aleviten Männer und Frauen gemeinsam, Alkohol ist erlaubt und religiöse Zeremonien werden nicht in Moscheen, sondern zu Hause oder in sogenannten Cem-Häusern praktiziert. Dies hat den Aleviten bis heute die zum Teil blutige Verfolgung durch strenggläubige Muslime eingebracht.

Mitte der 1930er Jahre galt Dersim als »letzte freie Burg« der Kurden. In unzugänglichen Berghöhen waren die kleinen Dörfer der Kontrolle des Staates weitgehend entzogen. Staatschef Mustafa Kemal, genannt »Atatürk«, forderte daher uneingeschränkte Autorität für seine Regierung, »damit diese die innere Wunde, dieses abstoßende Krebsgeschwür um jeden Preis beseitigen und auslöschen kann«. Aufgrund eines Ende 1935 verabschiedeten Tunceli-Gesetzes wurde der Belagerungszustand über die Provinz verhängt. Gegen ihre vom Militärgouverneur Abdullah Alpdoan geforderte Entwaffnung wehrten sich einige Rebellen im Juni 1937 mit einem Angriff auf Polizisten – der Startschuß zum Volkswiderstand. Ihm schlossen sich unter Führung des alevitischen Geistlichen Seyid Riza bald bis zu 80000 bäuerliche Partisanen an, um ihre Autonomie zu verteidigen.

Atatürks Tochter

In einer geheimen Sitzung beschloß die Regierung die Operation »Züchtigung und Deportation«: »Wenn man sich lediglich mit einer Offensivaktion begnügt, werden die Widerstandsherde fortbestehen. Aus diesem Grund wird es als notwendig betrachtet, diejenigen, die Waffen eingesetzt haben und einsetzen, vor Ort endgültig unschädlich zu machen, ihre Dörfer vollständig zu zerstören und ihre Familie fortzuschaffen Am Steuer eines der Flugzeuge, die 50-Kilo-Bomben auf Bauerndörfer abwarfen, saß die erste türkische Pilotin Sabiha Gökcen. Nach der Adoptivtochter Mustafa Kemals, die aufgrund solcher Taten zum Symbol der »modernen türkischen Frau« wurde, ist heute ein Istanbuler Flughafen benannt.

Die grünen Täler Dersims füllten sich mit Giftgas. Frauen und Kinder, die sich in Berghöhlen gerettet hatten, wurden lebendig eingemauert. Andere stürzten sich von den Felsen in den Munzur-Fluß, um ihrer Vergewaltigung zu entgehen. Seyid Riza wurde durch Verrat gefaßt und im November 1937 hingerichtet. Uneinigkeit der Stammesführer und die Erschöpfung der Guerilla ließen den Widerstand im Herbst 1938 zusammenbrechen. Weit über 50000 Dersimer waren getötet worden, Zehntausende Überlebende wurden in die Westtürkei zur »Assimilation« deportiert. In das kollektive historische Gedächtnis der Bewohner gingen die Jahre 1937/38 als Tertelê (Vernichtung) ein, deren Anerkennung als Genozid zuletzt im November 2010 auf einer von Dersimer Flüchtlingen organisierten Konferenz im Berliner Abgeordnetenhaus gefordert wurde.

Einer zweiten Vernichtungswelle sah sich Dersim in den 90er Jahren ausgesetzt, als das Militär 210 Dörfer im Krieg gegen die PKK-Guerilla räumen ließ und die Provinz unter ein Embargo stellte. Bis heute setzt die Armee auf »verbrannte Erde«. Im Sommer zündeten Soldaten große Waldflächen an und vergifteten Äcker mit weißem Phosphor. Weite Gebiete wurden zu militärischen Sicherheitszonen erklärt, so daß das Vieh nicht auf die Hochweiden getrieben werden konnte und die Viehzüchter ihre Existenzgrundlage verloren. Aufgrund von Flucht, Vertreibung und Auswanderung hat sich die Einwohnerzahl Dersims innerhalb der vergangenen 30 Jahre auf etwa 90000 Menschen nahezu halbiert.

In der Hauptstadt

Die gleichnamige Provinzhauptstadt von Tunceli liegt in einem Talkessel beiderseits des Munzur-Flusses. Sie befindet sich in einem permanenten Belagerungszustand. Auf den umliegenden Bergkämmen leuchten nachts die Scheinwerfer der Militärposten. Um in den engen Tälern nicht in einen Hinterhalt zu geraten, setzt die Armee inzwischen vor allem Kampfhubschrauber ein. Sie starten meist von den mitten in der Stadt gelegenen Kasernen aus. Gepanzerte Fahrzeuge fahren im Minutentakt über die Hauptstraße, Maschinengewehre auf Passanten gerichtet. Die Nervosität ist den Soldaten anzumerken. Nicht ohne Grund: Nachdem Mitte Oktober vier Kämpfer der PKK von Kommandoeinheiten auf einem Berggipfel in Ovacik getötet wurden, griff die Guerilla wenige Tage später zur Vergeltung das Polizeihauptquartier in Tunceli-Stadt an und erschoß mehrere Angehörige einer Spezialeinheit. Nach dem Feuergefecht, bei dem auch ein PKK-Guerillero starb, umstellten Panzerwagen die Innenstadt und schossen ziellos um sich.

Gegenüber dem Rathaus steht eine Frauenstatue. Offiziell ist sie den Menschenrechten gewidmet. Doch für die Dersimer ist dies ein Denkmal für die PKK-Kämpferin Zilan, die sich an diesem Platz 1996 inmitten einer Militärparade in die Luft sprengte. Ein weiteres Denkmal wurde im September oberhalb des Munzur eingeweiht. Überlebensgroß kündet Seyid Riza, der als Staatsfeind hingerichtete Anführer des Aufstandes von 1937, vom ungebrochenen Widerstandsgeist der Bevölkerung.

Die Oberbürgermeisterin

Linke und sozialistische Parteien verfügen traditionell über eine starke Anhängerschaft in Dersim. So stellt die Partei für Frieden und Demokratie (BDP) mit Edibe Sahin die Oberbürgermeisterin von Tunceli-Stadt. Ihre Vorgängerin, die Gewerkschafterin Songül Erol Abdil von der mittlerweile verbotenen Partei für eine Demokratische Gesellschaft (DTP), war 2004 die erste Frau, die in das höchste Amt einer Provinzhauptstadt in der Geschichte der Türkei gewählt wurde. Abdil und der im April 2009 verhaftete Vizebürgermeister Alican Önlü stehen derzeit gemeinsam mit 150 weiteren Angeklagten aufgrund ihres kommunalpolitischen Engagements vor Gericht in Diyarbakir. Ihnen wird PKK-Unterstützung vorgeworfen.

Zu den von der linken Stadtverwaltung initiierten Sozialprojekten, die eine weitere Abwanderung der Bevölkerung verhindern sollen, gehört eine Frauenbäckerei mit Kaffeehaus, die mehreren Dutzend Frauen eine unabhängige Erwerbsarbeit bietet.

Auffällig sind in der Stadt die vielen Bars. »Normalerweise versuchen die von der Regierung eingesetzten Gouverneure, Alkohol zu verbieten. Doch in Dersim werden die Menschen vom Staat regelrecht zum Trinken ermutigt«, beklagt die Provinzvorsitzende der BDP, Amber Bakiray. In manchen Kneipen werden vom Staat geduldet auch Prostitution und Drogenhandel betrieben, um so die Widerstandsmoral der Bevölkerung zu zersetzen, wie vermutet wird. PKK-Kämpferinnen verübten im Sommer als Warnung und außerhalb der Öffnungszeiten mehrere Anschläge auf Nachtclubs.

Politikum Sprache

Aufgrund der jahrzehntelangen staatlichen Assimilationspolitik versteht sich heute ein erheblicher Teil der Bewohner von Dersim nicht als Kurden, sondern als Aleviten. Eine wachsende Zahl bezeichnet sich zudem als Zazas. Die Frage, inwieweit Zazaki ein kurdischer Dialekt ist, ist längst ein Politikum jenseits der Sprachforschung. So vertrat die türkische Regierung bereits Anfang der 1990er Jahre, als sie selbst die Existenz des Kurdischen noch leugnete, die Meinung, daß es sich um eine eigenständige Sprache handele. Die BDP setzt sich zwar für eine Förderung des nur noch von einer Minderheit aktiv gesprochenen Zazaki ein. Zugleich sieht sie im Zaza-Nationalismus ein gezieltes Spaltungsmanöver des Staates gegen die kurdische Bewegung.

»Wer seine Herkunft nicht kennt, steht den Manipulationen des Staates hilflos gegenüber«, warnt der Co-Vorsitzende des BDP-Stadtverbandes von Dersim, Özgür Söylemez. Tatsächlich verfügt die auf Republikgründer Mustafa Kemal zurückgehende Republikanische Volkspartei (CHP) trotz der im Namen des Kemalismus verübten Massaker an Aleviten über einen starken Rückhalt in Dersim. Viele Aleviten sehen in der laizistisch ausgerichteten Partei einen Schutz vor einer weiteren Islamisierung. Für Massenaustritte aus der CHP in Dersim sorgte allerdings im November 2009 deren stellvertretender Vorsitzender Onur Oymen, als er während einer Parlamentsdebatte das Vorgehen der Armee 1937/38 in Dersim als »Bekämpfung des Terrorismus« lobte.

Einem Tabubruch kam es da gleich, daß Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan in seiner Erwiderung offen vom »Dersim-Massaker« sprach und die Rückbenennung der Provinz in Dersim in Aussicht stellte. Sah es Ende 2009 so aus, als ob die CHP ihre letzte Bastion in den kurdischen Gebieten verloren hatte, so konnte sie Boden gutmachen, als im Mai 2010 der aus Dersim stammende Alevit Kemal Klçdarolu Parteivorsitzender wurde: Dessen Familie war am Aufstand 1937 beteiligt gewesen. »Er ist gut für Dersim, denn er ist einer von uns«, meint der alte Dede, ein alevitischer Geistlicher mit buschigem Schnauzbart, den wir an den Quellen des Munzur bei Ovacik treffen. Obwohl »Gandhi Kemal«, wie der angeblich asketisch lebende Klçdarolu genannt wird, außer der Forderung nach Arbeitsplätzen keine Lösungsvorschläge für die kurdische Frage hat, wirbt der Dede für die CHP.

Mehrere ausgetretene Bürgermeister sind mittlerweile in die CHP zurückgekehrt. Und beim Verfassungsreferendum am 12. September 2010 wurde Dersim vor den laizistischen Hochburgen an der Ägäisküste die Provinz mit dem höchsten Prozentsatz an Nein-Stimmen gegen das Ansinnen der islamischen Regierung, sich die Justizorgane zu unterwerfen. »Bisher gab es die militärische Kontrolle der Provinz. Nun will der Staat Dersim unter die Kontrolle der CHP stellen«, mutmaßt der hier direkt gewählte BDP-Parlamentarier Seraffetin Halis.

Alte Pläne

Unmittelbar hinter Tunceli-Stadt erstreckt sich seit 2009 der Uzuncayir-Stausee. Einige Hausdächer ragen noch aus dem Wasser des hier auf 15 Kilometern aufgestauten Munzur. Insgesamt 20 Talsperren und Wasserkraftwerke sollen in der Provinz errichtet werden. Energiegewinnung ist dabei sekundär. »Die ganze Geographie Dersims soll verändert werden«, meint der BDP-Ortsvorsitzende Söylemez während einer Fahrt durch die atemberaubenden Schluchten des seit 1971 bestehenden Munzur-Nationalparks. Dessen einzigartige Tier- und Pflanzenwelt drohen ebenso wie zahlreiche für die Aleviten heiligen Orte entlang dieses 144 Kilometer langen Nebenflusses des Euphrat in den Fluten unterzugehen. »Ziel ist es, der Guerilla die Verbindungswege abzuschneiden und noch mehr Menschen zu vertreiben«, so Söylemez.

Die Pläne gehen bis in das Jahr 1930 zurück, als der damalige Generalstabschef Fevzi Cakmak vorschlug, die Täler der aufständischen Provinz zu überfluten. Söylemez rechnet damit, daß Zehntausende Menschen ihre Heimat verlassen würden, wenn es zum Bau der Dämme käme. Zudem wäre so eine Rückkehr der in den 90er Jahre aus ihren Dörfern vertriebenen Menschen unmöglich. Die Provinzhauptstadt wäre von den anderen Orten abgeschnitten. Umweltschützer befürchten einen regionalen Klimawandel und – wie schon im Falle des Keban-Stausees – eine dadurch verursachte Entwaldung der Flußtäler.

Die Staudammprojekte wurden vom Staat ohne Konsultation der örtlichen Stadtverwaltungen beschlossen. Im Oktober 2009 gingen bei der bislang größten Demonstration gegen Talsperren in der türkischen Geschichte 20000 Menschen in Dersim auf die Straße. Und im September 2010 mußte sich ein unter dem Schutz des Militärs an einer Staudammbaustelle arbeitender Vermessungstrupp nahe Tunceli-Stadt vor Hunderten wütenden Anwohnern in Sicherheit bringen. Schließlich widerrief der oberste Gerichtshof Ende Oktober die Genehmigungen für den Bau des geplanten 111 Meter hohen Konaktepe-Damms und eines Wasserkraftwerks, durch die der Munzur oberhalb der Provinzhauptstadt aufgestaut würde.

Yildirims Hoffnung

Der Vorsitzende des örtlichen Menschenrechtsvereins, Baris Yildirim, hatte geklagt, weil die Zerstörung des Nationalparks bei der Vergabe der Baugenehmigung nicht berücksichtigt worden sei. »Die Gerichtsentscheidung hat die rechtliche Stellung von Nationalparks klargestellt. Konsequenterweise sollte dieses Urteil als Präzedenzfall betrachtet werden«, so Anwalt Yildirim. Doch die staatliche Wasserbaubehörde DSI wird wohl Widerspruch einlegen und die Regierung die Gesetzeslage entsprechend anpassen. »Der Munzur soll frei fließen« – unter diesem Schlachtruf geht der Widerstand gegen die Vernichtung Dersims weiter.