Junge Welt 20.10.2008 / Thema / Seite 10

Deutscher Oktober

Im Herbst 1923 scheiterte ein kommunistischer Aufstandsplan

Von Nick Brauns

Am 26. September 1923 hatte die Reichsregierung unter Kanzler Gustav Stresemann (Deutsche Volkspartei – DVP) angesichts der finanziellen Misere den »passiven Widerstand« gegen die französische Besetzung des Ruhrgebiets aufgegeben und die Wiederaufnahme der Reparationsleistungen angeordnet. Von Reichspräsident Friedrich Ebert (SPD) wurde am folgenden Tag aus Sorge vor einem Rechtsputsch der Ausnahmezustand »zum Schutz der Republik« ausgerufen und die vollziehende Gewalt auf Reichswehrminister Otto Geßler und den Chef der Heeresleitung General von Seeckt übertragen. Damit war Deutschland de facto eine Militärdiktatur. In der ostelbischen Garnisonsstadt Küstrin putschte am 1. Oktober die unter Umgehung des Versailler Vertrages aus rechtsextremen Freikorps gebildete »Schwarze Reichswehr« unter Major Bruno Ernst Buchrucker. Während der Buchrucker-Putsch schnell zusammenbrach, sammelten sich in Bayern faschistische Verbände zum »Marsch auf Berlin« hinter dem mit diktatorischen Vollmachten ausgestatteten bayerischen Generalstaatskommissar Gustav Ritter von Kahr. Währenddessen galoppierte die Inflation weiter. Ein Laib Brot kostete 10,37 Millionen Mark, ein Kilo Rindfleisch 76 Millionen Mark.

Die Vertreter des Großkapitals waren fest entschlossen, diese Krisensituation auszunutzen, um den Achtstundenarbeitstag als wichtigste soziale Errungenschaft der Novemberrevolution von 1918/19 rückgängig zu machen. Um angesichts des Drucks der großkapitalistischen DVP überhaupt in der großen Koalition zu verbleiben, erklärten sich die Sozialdemokraten zum Verzicht auf das Amt des Finanzministers bereit; Rudolf Hilferding wurde durch Hans Luther von der DVP ersetzt. Außerdem willigte die SPD in ein am 13. Oktober von der Reichstagsmehrheit verabschiedetes Ermächtigungsgesetz ein, das der Regierung alle erforderlichen Maßnahmen gegen Notstände auf den Gebieten des Finanzwesens, der Wirtschaft und der Sozialfürsorge erlaubte.

»Der Zerfall der deutschen Gesellschaft war so offensichtlich, daß man einen erfolgreichen kommunistischen Aufstand für wahrscheinlich hielt. Nur das Widerstreben der Sozialdemokratischen Partei stand jetzt zwischen dem alten Deutschland und der Revolution«1, beurteilte die Berliner KPD-Funktionärin Ruth Fischer die Situation Anfang Oktober 1923. Mit dieser Einschätzung war die führende Vertreterin des ultralinken Flügels der Partei nicht allein. Auch das Politbüro der Bolschewiki sah eineinhalb Monate nach Beginn seiner Beratungen über eine deutsche Revolution die Situation als reif für den Umsturz an. Insbesondere Volkskommissar Leo Trotzki nahm eine mechanische Gleichsetzung mit den russischen Ereignissen des Jahres 1917 vor. Die sowjetische Führung ging soweit, den gewünschten Aufstandstermin auf den 9.November als Jahrestag der Novemberrevolution von 1918 zu terminieren. Selbst der bislang pessimistische Generalsekretär der Bolschewiki, Josef Stalin, war zu den Revolutionsbefürwortern umgeschwenkt und schrieb in einem von der Roten Fahne am 10.Oktober veröffentlichten Brief: »Die kommende Revolution in Deutschland ist das wichtigste Weltereignis unserer Tage. Der Sieg der Revolution in Deutschland wird für das Proletariat in Europa und in Amerika eine größere Bedeutung haben als der Sieg der russischen Revolution vor sechs Jahren. Der Sieg der deutschen Revolution wird ohne Zweifel das Zentrum der Weltrevolution aus Moskau nach Berlin versetzen.« Zur Entgegennahme des Aufstandsbeschlusses war KPD-Chef Heinrich Brandler nach Moskau gekommen. Die ganze Stadt war mit euphorischen Losungen übersät wie »Russische Jugend, lerne Deutsch – der deutsche Oktober steht vor der Tür«. Trotz seiner Skepsis – er wußte um die schlechte Bewaffnung der Arbeiterschaft – knickte Brandler vor der Autorität der führenden Bolschewiki ein und stimmte den Aufstandsvorbereitungen zu.

KPD in Kabinetten

Hatte die KPD bislang einen Beitritt in die linkssozialdemokratischen Landesregierungen von Sachsen und Thüringen abgelehnt, so änderte sich diese Linie im Oktober auf Weisung der Kommunistischen Internationale. »Da wir die Lage so einschätzen, daß der entscheidende Moment nicht später als in 4–5–6 Wochen, nicht später, kommt, so halten wir es für notwendig, jede Position, die unmittelbar nützen kann, sofort zu besetzen. Aufgrund dessen glauben wir: Bei gegebener Lage muß man die Frage unseres Eintretens in die sächsische Regierung praktisch stellen. Unter der Bedingung, daß die Zeigner-Leute bereit sind, Sachsen wirklich gegen Bayern und Faschisten zu verteidigen, müssen wir eintreten. Sofortige Bewaffnung von 50 bis 60 000 wirklich durchführen, den General Müller ignorieren. Dasselbe in Thüringen«2, instruierte Kominternchef Grigori Sinowjew die KPD-Zentrale.

Angesichts der immer offeneren Drohungen der bayerischen Rechten mit einem Einmarsch in das rote Mitteldeutschland war die Regierung um den sächsischen Ministerpräsidenten Erich Zeigner gerne bereit, gemeinsam mit der KPD ein Kabinett der »republikanischen und proletarischen Verteidigung« zu bilden. So traten am 10. Oktober die Kommunisten Brandler, Paul Böttcher und Fritz Heckert der sächsischen und am 16. Oktober Karl Korsch und Albin Tenner der thüringischen Regierung bei. Die ihnen von der Komintern zugewiesene Aufgabe lautete, ihre Positionen für die Bewaffnung der aus Kommunisten und linken Sozialdemokraten gebildeten »proletarischen Hundertschaften« zu nutzen. Darin versagten die kommunistischen Minister völlig. »Statt die neue Qualität dieser Regierung zur Entfaltung (…) zu bringen, statt die gewonnenen Machtpositionen zur Organisierung der revolutionären Massenbewegung zu nutzen, statt sich auf die außerparlamentarischen Aktionen der Werktätigen zu stützen, verhielten sich die von den Arbeiterorganisationen an die Spitze der Ministerien gestellten Regierungsmitglieder wie gewöhnliche, vor allem auf die Einhaltung der ›Spielregeln‹ bürgerlicher Koalitionspolitik bedachte Minister«3, meint der marxistische Historiker Wolfgang Ruge.

Der Reichsregierung und dem Großkapital waren die Arbeiterregierungen dennoch ein Dorn im Auge. Die preußischen Behörden ordneten eine Lebensmittelblockade gegen Sachsen und Thüringen an. Von Moskau zugesagte Getreidelieferungen, mit denen die Kommunisten zugleich Sympathien der Bevölkerung erkaufen wollten, blieben in bürokratischen Mühlen der Sowjetunion hängen. Nachdem der sächsische Reichswehrbefehlshaber General Müller am 13. Oktober ein Verbot der proletarischen Hundertschaften erlassen hatte, forderte der kommunistische Finanzminister Paul Böttcher im sächsischen Landtag die Bewaffnung der Arbeiterwehren. Auf Weisung der Reichsregierung unterstellte General Müller am 16. Oktober die sächsische Polizei seinem Kommando und entwaffnete damit praktisch die gewählte Landesregierung. Während Zeigner versicherte, daß seine Regierung auf dem Boden der Verfassung stehe, meuterte die bayerische Regierung offen gegen das Reich. Der bayerische Reichswehrkommandant General von Lossow weigerte sich, ein von der Reichsregierung angeordnetes Verbot der gegen die Republik hetzenden NSDAP-Parteizeitung Völkischer Beobachter umzusetzen. Daraufhin wurde Lossow von Reichswehrminister Otto Geßler für abgesetzt erklärt. Generalstaatskommissar Gustav Ritter von Kahr vereidigte nun den obersten bayerischen Soldaten auf den Freistaat. Schließlich sei der bayerische Staat »national und deutsch im Gegensatz zum internationalen Marxismus«, ernannte sich die bayerische Regierung zur Treuhänderin des Reiches.

Reichswehr in Sachsen

Am 20. Oktober befahl Reichswehrminister Geßler den Einmarsch der Reichswehr in Sachsen. An diesem Abend beschloß die Zentrale der KPD einstimmig, »daß auf Grund der Nachrichten über den Einmarsch der Reichswehr die Losung des Generalstreiks, der den bewaffneten Kampf einschloß, herausgegeben werden sollte«.4 Da die KPD nur über wenige eigene Waffen verfügte, galt es, die Lager in den Polizeikasernen zu erbeuten, bevor diese unter Kontrolle der einmarschierenden Reichswehr gelangten. »Die für die Arbeiter verfügbaren Waffen hingen also von dem Schwung der Aktion ab, von der Energie und Kühnheit, mit der sie organisiert wurde, von dem Erfolg der Kommunisten, die Massen auf ihre Seite zu ziehen und die Waffen des Feindes zu erbeuten«5, schrieb Ruth Fischer später. Doch der KPD-Führung um Brandler fehlte diese Entschlossenheit. Sie beschloß, erst noch eine Betriebsräte- und Arbeiterkonferenz am 21. Oktober in Chemnitz abzuwarten, um die Stimmung unter den linken Sozialdemokraten zu berücksichtigen. Die Zusammensetzung dieser Konferenz, der damit quasi das weitere Schicksal der deutschen Revolution anvertraut wurde, war folgendermaßen: 140 Betriebsarbeiter, 15 Vertreter von Aktionsausschüssen, 26 Delegierte von Konsumvereinen, 102 Gewerkschaftsvertreter, 16 Erwerbslose, sieben offizielle Delegierte der SPD, 60 von der KPD und einer von der USPD sowie 102 gewerkschaftliche Delegierte als Vertreter von Ortskartellen. Auf der Tagesordnung standen die Ernährungslage der arbeitenden Bevölkerung und die Situation der Arbeitslosen. Zwar wurde in der Diskussion mehrfach ein Generalstreik befürwortet. Doch als Brandler von den Delegierten dessen tatsächliche Ausrufung forderte, erntete er eisiges Schweigen. Die linken Sozialdemokraten wollten die Verantwortung für einen kommunistischen Aufstand nicht übernehmen und drohten mit dem Rückzug von der Konferenz, falls Brandlers Antrag angenommen würde. Brandler und seine Genossen ließen es so zu, daß ein paritätischer Ausschuß von KPD- und SPD-Mitgliedern zur Prüfung der Möglichkeiten eines Generalstreiks gebildet wurde und damit der Antrag von der Tagesordnung abgesetzt war. Unterdessen marschierte die Reichswehr mit Minenwerfern, Kanonen und Panzerwagen in Leipzig, Meißen, Dresden und Pirna ein.

Hamburg auf Barrikaden

Die Kuriere der KPD mußten unverrichteterdinge aus Chemnitz zu ihren Bezirksorganisationen zurückkehren. Lediglich der Kurier für Hamburg, Hermann Remmele, hatte bereits einen früheren Zug genommen, ohne den Ausgang der Konferenz abzuwarten. Als er gegen 18 Uhr in Hamburg ankam, befahl er in Unkenntnis des abgeblasenen Generalstreiks für den nächsten Morgen den Aufstand. Die Stimmung in der Hansestadt schien günstig. Am 20. Oktober waren die Werftarbeiter in einen Streik für höhere Löhne getreten, dem sich Lager- und Bauarbeiter anschlossen. Zudem hatten die Werftarbeiter eine Resolution verabschiedet, wonach der Einmarsch der Reichswehr in Sachsen mit einem Generalstreik beantwortet werden solle.

Am Morgen des 23. Oktober stürmten mit jeweils nur ein oder zwei Revolvern bewaffnete Zehnergruppen der proletarischen Hundertschaften 17 Hamburger Polizeireviere. Der Überraschungsschlag gelang; weitere Waffen wurden erbeutet. Nun wurden im Arbeiterviertel Barmbeck und in anderen Stadtteilen Barrikaden aus Pflastersteinen, Möbeln und gefällten Bäumen errichtet. Dabei handelte es sich um eine Ablenkung des Gegners vom wirklichen Kampfgeschehen. »Die Arbeiter sind unsichtbar, unfaßbar geworden. Die neue Kampfmethode erfand für sie eine Art Tarnkappe, die sich jedem Schnellfeuer zu entziehen vermag. Die Arbeiter kämpften fast nicht mehr in den Straßen, die sie vollständig der Polizei und den Truppen überlassen. Ihre neue Barrikade – mit Millionen von geheimen Schlupfwinkeln – ist die Arbeiterstadt in ihrer Gesamtheit, mit allen ihren Kellern, Böden und Wohnungen. Jedes Fenster des ersten Stockwerks ist eine Schießscharte dieser uneinnehmbaren Festung. Jeder Dachboden ist eine Batterie und Beobachtungsposten. Jedes Bett eines Arbeiters ist ein Krankenlager, auf das der Aufständische im Falle seiner Verwundung rechnen kann. Nur dadurch erklären sich die ungeheuerlichen Verluste der Regierung, während die Arbeiter in Barmbeck nur etwa ein Dutzend Verwundete und einige Tote hatten«6, schilderte die sowjetische Journalistin Larissa Reissner. Der Militärische Leiter bei der Zentrale der KPD, Valdemar »Wolf« Roze, gab später die Zahl der kämpfenden Kommunisten mit lediglich 150 der 14 000 Hamburger KPD-Mitglieder an. Polizei und Militär rückten mit Panzerwagen gegen die Barrikaden vor und kreisten das Aufstandsgebiet ein, während sie von den Dächern beschossen wurden. Verpflegung erhielten die Aufständischen aus der Bevölkerung. Vor allem Frauen waren am Barrikadenbau beteiligt. Doch trotz aller Sympathie für den Kampf waren die Arbeiter nicht bereit, selber Posten hinter den Barrikaden zu beziehen. Nicht einmal die streikenden Werftarbeiter rührten einen Finger, um der KPD Beistand zu leisten. Im Unterschied zu den Kämpfenden wußten sie längst, daß die Hamburger Kommunisten reichsweit auf isoliertem Posten standen. »Sie zogen zwar ihre Hüte vor der Tapferkeit der Wagemutigen, sie selbst nahmen jedoch durchaus wohlüberlegt die Gewehre nicht in die Hand«7, notierte der sowjetische Konsul in Hamburg, Grigori »Babuskin« Sklovski. Valdemar Roze meldete dem ZK der KPD: »Am Montag war schon ersichtlich, daß es keine Massenaktion, sondern ein Putsch war.«8 Der erwartete Generalstreik der Hamburger Arbeiter blieb aus. »Da der Kampf keine Massenbewegung bei den Hamburger Arbeitern auslöste, ebenso keine Rückwirkung im Reich fand, ist es ersichtlich, daß unsere Funktionäre und besonders die [ultralinke KPD-] Opposition [um Ruth Fischer] mit ihrer Behauptung, ›daß die Massen nicht mehr zu halten sind‹, die Situation falsch einschätzen.«9 Als die Barmbecker Kommunisten am Abend des 24. Oktober erfuhren, daß im übrigen Deutschland völlige Ruhe herrschte, wurde der planmäßige Rückzug eingeleitet. Auch im Arbeitervorort Schiffbeck hatten 35 aufständische Kommunisten tagelang der Belagerung durch Tausende Soldaten und Polizisten widerstanden. Der Aufstand hatte 17 Polizisten, 24 Aufständischen und 61 unbeteiligten Zivilisten das Leben gekostet. Nun folgte die blutige Rache. Rund 1400 Arbeiter wurden verhaftet, gefoltert und viele anschließend zu Haftstrafen verurteilt. Zahlreiche Kommunisten mußten untertauchen und ihre Familien ohne Ernährer zurücklassen.

So endete der in Moskau beschlossene »deutsche Oktober« in einem Fiasko. Während der damalige Hamburger KPD-Vorsitzende Ernst Thälmann auch später bei der Deutung blieb, »der Hamburger Aufstand entsprang der revolutionären Situation vom Herbst 1923«,10 widersprach KPD-Theoretiker August Thalheimer entschieden dieser »linken Oktoberlegende«. »Ich glaube, die erste und wichtigste Lehre sollte die sein, daß man nicht aus 2000 km Entfernung revolutionäre Aktionspläne auf eine Frist von 8–10 Wochen ausarbeiten kann, sondern daß man das nur tun kann, wenn man direkt auf dem Aktionsplatz sitzt und die Ereignisse mit eigenen Augen verfolgt. Eine weitere Lehre für die kommunistischen Parteien außerhalb Rußlands ist, daß sie nur dann hoffen können, eine Revolution in ihrem eigenen Lande wirklich durchzuführen, wenn sie gelernt haben, die Klassenverhältnisse in ihrem Lande selbständig zu beurteilen, die Taktik und Strategie des revolutionären Kampfes aus eigenem Urteil zu entwickeln, und wenn sie sich an eigenes, kritisches und selbständiges Denken auch gegenüber der internationalen Leitung gewöhnt haben.«11

Reichsexekution

Während der bayerische Armeechef Lossow am 27. Oktober seine gegen Berlin gerichteten Putschpläne mit der bayerischen Armeeführung beriet, verlangte Kanzler Stresemann ultimativ den Rücktritt der demokratisch gewählten sächsischen Landesregierung. Begründet wurde dies damit, daß man so die drohenden Übergriffe der an der bayerischen Landesgrenze aufmarschierten faschistischen Verbände auf Mitteldeutschland abwehren könne. Von der bayerischen Regierung wurde lediglich ohne jede Gewaltdrohung die Wiederherstellung der »verfassungsmäßigen Befehlsgewalt im bayerischen Teil der Reichswehr« verlangt. Reichswehrchef General Seeckt hatte zuvor deutlich gemacht, daß er nicht bereit sei, die Gewehre gegen seine bayerischen Kameraden zu richten. Da sich Ministerpräsident Zeigner weigerte, der Rücktrittsforderung aus Berlin nachzukommen, ermächtigte der sozialdemokratische Reichspräsident Ebert den Kanzler mit dem Notstandsartikel 48 der Reichsverfassung zum gewaltsamen Sturz der sächsischen Regierung. Stresemann setzte am 29. Oktober Rudolf Heinze von der DVP als Reichskommissar für Sachsen ein. Gegen diesen verfassungswidrigen Gewaltstreich traten die in ihrem Kampfgeist erlahmten sächsischen Arbeiter auf kommunistische Initiative in einen eher symbolischen eintägigen Proteststreik. Nach Zeigners schließlich am 30. Oktober eingereichtem Rücktritt wählte der sächsische Landtag den gemäßigten Sozialdemokraten Karl Fellisch zum neuen Ministerpräsidenten einer Regierung unter Ausschluß der Kommunisten. Nach der Weigerung der thüringischen Regierung, die nun unter dem Namen »Republikanische Notwehr« illegal tätigen proletarischen Hundertschaften aufzulösen, zwang die Reichswehr auch die dortige Arbeiterregierung zum Rücktritt.

Weil die SPD diese Ungleichbehandlung der Landesregierungen in Bayern und Mitteldeutschland gegenüber ihren Anhängern nicht mehr rechtfertigen konnte, traten ihre Minister am 2. November aus der Reichsregierung zurück. Die Gegenrevolution hatte ihre wesentlichen Ziele erreicht. Die SPD war aus der Regierung vertrieben, im Reich herrschte eine Militärdiktatur, der Achtstundentag war gekippt. In dieser Situation sah die bayerische Regierung unter von Kahr keinen Grund mehr zum Sturz der Reichsregierung und ließ am 9. November Hitlers völkische Putschisten an der Münchner Feldherrenhalle von der bayerischen Landespolizei auseinandertreiben. KPD und NSDAP wurden anschließend gleichermaßen reichsweit verboten. Am 16. November erfolgte mit der Ausgabe der Rentenmark die Einführung einer stabilen Reichswährung. Die am 30. November neugebildete konservative Minderheitsregierung unter Kanzler Wilhelm Marx (Zentrum) ließ das wirtschaftliche Ermächtigungsgesetz am 8. Dezember verlängern.

»Am Ende des Jahres 1923 war das deutsche Großkapital, zusammen mit den Reichswehrgenerälen, der unbestreitbare Sieger«, urteilte der marxistische Historiker Arthur Rosenberg als Zeitzeuge der damaligen Ereignisse. »Die KPD hatte sich ohne Widerstand verbieten lassen und focht jetzt mühsam in der Illegalität ihre Richtungsstreitigkeiten aus. Die SPD hatte durch die Annahme des Ermächtigungsgesetzes ebenfalls kapituliert. Der demokratische Zentrumsflügel war als politische Kraft nicht mehr vorhanden. Auf der anderen Seite war jetzt die völkische Partei verboten. (…) Die vollziehende Gewalt hatte in ganz Deutschland die Reichswehr, abgesehen von den Gebieten, in denen die Ententetruppen standen. Die Reichsregierung übte in den wirtschaftlichen und sozialen Fragen eine schrankenlose Diktatur aus: mit Hilfe ihrer Verordnungen auf Grund des Ermächtigungsgesetzes.«12 So begann in Deutschland eine Periode der relativen Stabilisierung des Kapitalismus, die in bürgerlichen Geschichtsbücher als die »Ära der goldenen Zwanziger« bezeichnet wird.

1 Ruth Fischer, Stalin und der deutsche Kommunismus Bd.1, Berlin 1991, S. 412

2 Bernhard H. Bayerlein u. a. (Hg.), Deutscher Oktober 1923 – Ein Revolutionsplan und sein Scheitern, Berlin 2003, S. 187

3 Wolfgang Ruge: Weimar. Republik auf Zeit, Berlin 1969, S. 132

4 Bayerlein, a. a. O., S. 27

5 Fischer, a. a. O., S. 418

6 Larissa Reissner, Oktober. Ausgewählte Schriften, Königstein/Ts. 1979, S. 447

7 Bayerlein, a. a. O., S. 270

8 Bayerlein, a. a. O., S. 248 f.

9 Bayerlein, a. a. O., S. 250

10 Ernst Thälmann, Ausgewählte Reden und Schriften, Band 1, Frankfurt/M. 1976, S. 69 f.

11 August Thalheimer, 1923: Eine verpaßte Revolution?, Berlin 1931, S. 29

12 Arthur Rosenberg, Geschichte der Weimarer Republik, Frankfurt/M. 1980, S. 154