Syrische Kurden zwischen dem Assad-Regime und der Türkei

Selbstverwaltung als dritter Weg


von Nick Brauns

Syriens Kurden versuchen, sich aus dem Bürgerkrieg zwischen der Baath-Diktatur und der vom Ausland unterstützten arabischen Opposition herauszuhalten. Doch ihre Selbstverwaltungsstrukturen sind bedroht.
Die über 3 Millionen Kurden bilden die zweitstärkste ethnische Gruppe in Syrien. Das als Westkurdistan bezeichnete Gebiet erstreckt sich von der Mittelmeerküste entlang der Grenze zur Türkei bis hinunter zum Irak und umfasst die Enklaven Afrin, Ain Al-Arab (Kobani) sowie die Jazira in der Provinz Al-Hasaka. Seit den 1960er Jahren waren die syrischen Kurden einer scharfen Arabisierungspolitik durch das Baath-Regime ausgesetzt. Gleichzeitig gewährte Präsident Hafis al-Assad der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ein Rückzugsgebiet für ihren Kampf gegen die Türkei. Nach der auf NATO-Druck erzwungenen Vertreibung von PKK-Chef Abdullah Öcalan aus Syrien, schlossen Ankara und Damaskus 1999 ein gegen die PKK gerichtetes Abkommen. Insbesondere die im Jahr 2003 von syrischen Öcalan-Anhängern gegründete Partei der Demokratischen Einheit (PYD) war nun scharfer Verfolgung ausgesetzt. Ein Aufstand im März 2004, bei dem über 30 Kurden von Sicherheitskräften getötet wurden, gilt als «kurdisches Erwachen».

Die PYD


Als im Zuge des «arabischen Frühlings» 2011 die Aufstandsbewegung auf Syrien übergriff, blieb es ausgerechnet in den kurdischen Landesteilen vergleichsweise ruhig. Die Regierung von Baschar al-Assad hatte sich dieses anfängliche Stillhalten mit Zugeständnissen wie der Einbürgerung von hunderttausenden seit den 60er Jahren «staatenlosen» Kurden erkauft. Während Sicherheitskräfte gegen die Opposition in anderen Landesteilen mit Härte vorgingen, hielten sie sich in den kurdischen Landesteilen zurück.
Doch auch die kurdischen Parteien zögerten, sich mit der von den Moslembrüdern dominierten Opposition zu vereinigen. «Wir haben uns zu Beginn des Aufstandes in Syrien dazu entschieden, uns weder auf die Seite des Regimes, noch auf die Seite der vom Ausland unterstützten arabischen Opposition zu stellen, sondern einen dritten Weg einzuschlagen», erklärt die Co-Vorsitzende der PYD, Asia Abdullah Osman, im Gespräch mit der SoZ. «Beide Seiten weigern sich, die kurdische Realität anzuerkennen, daher blieb uns nur die Möglichkeit der Selbstorganisation.»
Während die meisten kurdischen Parteien kaum über eigene Strukturen im Land verfügten, bekam die PYD durch intensive Basisarbeit und den Aufbau von Komitees zur Versorgung und zum Schutz der Bevölkerung schnell Zulauf, so dass inzwischen über die Hälfte der syrischen Kurden hinter ihr stehen. Zum Leitfaden für die Schaffung einer «demokratischen Selbstverwaltung» durch Rätestrukturen dient der PYD, die sich zum «Demokratischen Sozialismus» bekennt und in allen ihren Gremien eine Geschlechterquotierung eingeführt hat, die Philosophie Abdullah Öcalans.

Die Volksräte


Als die Kämpfe zwischen der syrischen und der Freien Syrischen Armee auf die kurdischen Landesteile überzugreifen drohten, übernahmen ab dem 20.Juli 2012 von der PYD initiierte Volksräte die Kontrolle über eine Reihe von kurdischen Städten, die sich anschließend für autonom erklärten. Staatliche Gebäude wurden umzingelt und die Kräfte des Baath-Regimes unter der Androhung von Gewalt zum Abzug gezwungen. In gemischt besiedelten Orten, in denen außer Kurden auch Araber und andere Volksgruppen leben, hat die PYD «Versammlungen der Geschwisterlichkeit» einberufen. «Anstatt dort eine rein kurdische Kontrolle durchzusetzen, ist es notwendig, auf diese Minderheiten Rücksicht zu nehmen und sie ebenfalls für die Selbstverwaltung zu gewinnen», begründet Asia Abdullah Osman das Vorgehen. «Sensibilität ist insbesondere angebracht, weil das Regime einige arabische Stämme mit Waffen versorgt hat und wir nur durch Rücksicht und Dialog eine Eskalation vermeiden können.»
Die PYD weist die von Seiten der syrischen Auslandsopposition erhobenen Vorwürfe eines Deals mit dem Regime strikt zurück. Ihr Ziel sei der Sturz der Baath-Herrschaft und der Aufbau eines geeinten, demokratischen und pluralistischen Syrien, in dem alle Nationen und Minderheiten gemeinsam zusammenleben.
Die Volksräte üben die öffentliche Verwaltung aus, sie haben Frauenzentren und kurdischsprachige Schulen eröffnet und kümmern sich um die zunehmend schwierigere Lebensmittelversorgung der um eine halbe Million arabischer und kurdischer Flüchtlinge aus Aleppo und anderen umkämpften Landesteilen angewachsenen Bevölkerung. So wird eine ehemals staatliche Olivenfabrik in Farin nun von den Arbeitern selbst verwaltet. Für Polizeiaufgaben in den Städten wurde die unter Kontrolle der örtlichen Räte stehende Asaish (Sicherheit) gebildet. Zum Schutz der kurdischen Landesteile, aber auch der kurdischen Stadtviertel von Aleppo, sowohl vor den Kräften des Baath-Regimes als auch vor der in den kurdischen Landesteilen unerwünschten Freien Syrischen Armee haben sich Volksverteidigungseinheiten (YPG) gebildet, die mittlerweile rund 10000 Kämpferinnen und Kämpfer umfassen.
Ein unter Vermittlung des Präsidenten der kurdischen Autonomieregion in Nordirak, Massoud Barzani, im Juli 2012 gebildeter Hoher Kurdischer Rat repräsentiert nun die syrischen Kurden. Ihm gehören paritätisch sowohl Vertreter des PYD-geführten «Volksrats von Westkurdistan» als auch des aus über einem Dutzend Kleinparteien gebildeten «Kurdischen Nationalrats Syriens» an. Während der feudale Stammesführer Barzani darauf abzielt, über die von ihm finanzierten Satellitenparteien seinen Einfluss auf Westkurdistan auszudehnen, erhofft sich die PYD von dem gemeinsamen Gremium diplomatischen Schutz und internationale Anerkennung der westkurdischen Selbstverwaltung.

Der lange Arm der Türkei


Doch die kurdische Einheit ist fragil. Der Presse zugespielte Geheimdokumente beweisen, dass einige im Hohen Kurdischen Rat vertretene Parteien mit Barzani und mit Vertretern der USA und der Türkei Maßnahmen zur Eindämmung des Einflusses der PYD beraten haben.
Vertreter der im November in Doha gebildeten «Nationalen Koalition der Syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte» haben einer Delegation des Hohen Kurdischen Rates mündlich die Anerkennung der Rechte der Kurden in einer neuen syrischen Verfassung zugesichert. Dagegen hat die islamisch-konservative AKP-Regierung der Türkei deutlich gemacht, keine kurdische Autonomie im Nachbarland zu dulden. Mehrfach drohte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan mit einem militärischen Vorgehen gegen die Präsenz der mit der PKK gleichgesetzten PYD.
Die zu Al-Qaeda gehörende Al-Nusra-Front, aber auch einzelne im Hohen Kurdischen Rat vertretene Parteien werden von Ankara logistisch gegen die PYD unterstützt. So richteten Kämpfer der mit der Azadi-Partei verbundenen Saladin-Brigade der Freien Syrischen Armee im Oktober ein Massaker an Zivilisten in einem kurdischen Viertel von Aleppo an. Die dabei verschleppte YPG-Kommandantin Nujin Derik wurde zum Verhör dem türkischen Geheimdienst übergeben. Im November überfielen hunderte mit Panzern aus der Türkei kommende Salafisten die direkt an der Grenze gelegene Stadt Serekanye (Ras al-Ain) und provozierten damit Luftangriffe der syrischen Armee, die zur Flucht eines Viertels der Bevölkerung führten. Als die Salafisten die kurdischen Stadtviertel angriffen und den Vorsitzenden des Volksrates Abid Xelil ermordeten, wurden sie von den YPG wieder aus der Stadt vertreiben. Nun beschoss die türkische Artillerie kurdische Stellungen. Mitte Dezember kam es erneut zu schweren Gefechten zwischen Jihadisten und den YPG in Serekanye. Die verletzten Kämpfer der Angreifer wurden von Dutzenden türkischen Krankenwagen über die Grenze in die Krankenhäuser von Ceylanpinar und Urfa gebracht.
Die türkische Regierung will verhindern, dass die Kurden in Syrien einen offiziellen Status erlangen, da dies auch den jahrzehntelangen kurdischen Aufstand im eigenen Land ermutigen würde. Mit der vom Bundestag beschlossenen Stationierung von Bundeswehrsoldaten in der Türkei, die den türkischen Truppen und ihren jihadistischen Schützlingen Feuerschutz geben sollen, ist Deutschland ein Teil dieses schmutzigen Spiels geworden.

 

Soz – Sozialistische Zeitung Januar 2013