Erdogan ist kein Held, sondern ein Heuchler!


Die türkisch-israelischen Beziehungen nach dem Überfall auf die Free-Gaza-Flotte

 

Von Nick Brauns


In einem beispiellosen Piratenakt hat das israelische Militär am 31.Mai die Free-Gaza-Flotte mit humanitären Hilfsgütern für den Gazastreifen in internationalen Gewässern gekapert. Neun aus der Türkei stammende Aktivisten muslimischer Wohltätigkeitsverbände – mehrheitlich aus den kurdischen Landesteilen - wurden bei dem Überfall der israelischen Kommandoeinheiten auf das Leitschiff Mavi Marmara getötet. Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan verurteilt in scharfen Worten den israelischen Staatsterrorismus und ließ sich in der islamischen Welt als Held feiern. Als erste Maßnahme verhängte die türkische Regierung ein demonstratives Flugverbot für israelische Militärflüge über der Türkei. Sollte Israel sich nicht für die Toten auf der Mavi Marmara entschuldigen und eine internationale Untersuchungskommission zulassen, droht die türkische Regierung Israel mit Abbruch der diplomatischen Beziehungen.

 

Die Free-Gaza-Flotte, die das Ziel hatte, mit humanitären Hilfsgütern die völkerrechtswidrige Hungerblockade Israels gegen die Palästinenser im Gaza-Streifen zu durchbrechen, wurde insbesondere von Hilfsorganisationen und Aktivisten aus der Türkei unterstützt. Für die Organisation des Leitschiffes Mavi Marmara, auf dem das Blutbad stattfand, war die konservative islamische Wohltätigkeitsorganisation IHH verantwortlich, die der Milli Görüs-Bewegung nahesteht. Im Nachhinein hat die türkische Regierung die volle politische Verantwortung für die Mavi Marmara übernommen, die in der Presse meist als „türkisches Schiff“ dargestellt wurde. Diese Unterstützung wirft allerdings ein paar Fragen auf. So hatten 15 Abgeordnete der AKP angekündigt, sich an dem Hilfskonvoy zu beteiligen. Doch kein einziger von ihnen fuhr letztendlich mit. Auch war die Mavi Marmara vor Beginn der Hilfsaktion von der türkischen auf die Flagge der Komoren umgeflaggt worden. Auffällig ist außerdem, dass sich am Tag des Überfalls der türkische Ministerpräsident, der Außenminister und der Generalstabschef im Ausland aufhielten. Die türkische Regierung muss sich fragen lassen, inwieweit sie von israelischer Seite darüber informiert worden waren, dass Israel auch mit Waffengewalt die Schiffe stoppen würden. Wäre die Mavi Marmara ein türkisches Schiff gewesen, wäre zumindest auf dem Papier der NATO-Verteidigungsfall durch den Angriff eines Nicht-NATO-Staates auf ein zu einem Mitglied der Militärallianz gehörendes Schiff ausgelöst worden. Und der Tod eines türkischen Abgeordneten durch einen israelischen Angriff wäre zu einer solchen Belastung der bilateralen Beziehungen geworden, dass die Türkei es nicht einfach bei starken Worten und rüden diplomatischen Gesten belassen könnte.  Wenn auch Ministerpräsident Erdogan bemüht war, im nachhinein politisches Kapital durch demonstrative Solidarität mit der Free-Gaza-Flotte zu gewinnen, standen offenbar doch nicht alle Teile der Regierungspartei vorbehaltlos hinter dem Projekt. Der in den USA lebende Prediger Fethullah Gülen, dessen millionenstarker Orden massiven Einfluss auf die AKP, die Polizei und den Geheimdienst in der Türkei hat, bedauerte zwar die Toten, doch er kritisierte die Free-Gaza-Initiative öffentlich dafür, ohne Genehmigung Israels Hilfsgüter nach Gaza bringen zu wollen. Umgehend stimmte ihm der stellvertretende türkische Ministerpräsident Bülent Arınç mit den Worten zu: „Wie immer hat Hocaefendi recht“. 

Erdogans starke Worte sind so vor allem eine Rücksichtnahme auf die öffentliche Meinung in der Türkei, wo antiisraelische Gefühle und die Solidarität mit den Palästinensern quer durch alle politischen Lager dominieren. Erinnern wir uns Erdogans „Eine Minute“ auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos im Januar letzten Jahres, als er den israelischen Präsidenten Peres wegen des Gaza-Krieges verbal hart angriff und anschließend abreiste. Was Erdogan damals verschwieg: Aufgrund türkisch-israelischer Militärabkommen konnte die israelische Luftwaffe zuvor den Luftkrieg gegen Gaza von einer Airbase in Koniya aus über türkischem Territorium üben. Die einzige praktische Folge dieses Eklats, für den Erdogan Lob nicht nur bei seiner Rückkehr in die Türkei sondern auch vom iranischen Präsidenten Ahmadinejad erntete, war die Ausladung Israels von einem Luftwaffenmanöver im Oktober letzten Jahres. Doch kein einziges von über einem Dutzend nach türkischem Recht illegalen, weil nicht vom Parlament ratifizierten Militärabkommen, die in den 90er Jahren zumeist unter der dem Anschein nach radikal-islamischen und antiwestlichen Regierung von Necmettin Erbakan mit Israel geschlossen wurden, ist bislang von türkischer Seite trotz der markigen Worte Erdogans aufgekündigt worden.

 

Schon im Januar diesen Jahres hatte es eine heftige Krise in den diplomatischen Beziehungen beider Länder gegeben, als der stellvertretende israelische Außenminister Danny Ayalon den türkischen Botschafter Ogus Celikkol vor laufenden Kameras an einem „Katzentisch“ sitzend erniedrigte, um gegen eine als antisemitisch verstandene Folge der nationalistischen Fernsehserie „Tal der Wölfe“ zu protestieren. Schließlich entschuldigte sich der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu schriftlich für die Demütigung des Botschafters – ein für eine israelische Regierung so ungewöhnlicher Akt, dass die Tageszeitung Maariv von einer „Kapitulation“ sprach. Verteidigungsminister Ehud Barak reiste am 17. Januar 2010 nach Ankara zur Aussprache mit Außenminister Ahmet Davutoglu, an die sich Rüstungsgeschäfte mit seinem türkischen Amtskollegen Vecdi Gönül anschlossen. »Wir leben in derselben Region. Obwohl wir keine gemeinsamen Grenzen haben, haben wir dieselben Interessen«, erklärte Gönül nach dem Treffen.

 

Tatsächlich geht die Militärkooperation auch nach dem Überfall auf die Mavi Marmara weiter. Türkische Soldaten wurden im Juni in Israel an der Bedienung von Heron-Drohnen ausgebildet, die Israel der Türkei liefert. Diese bislang von Israel gecharterten unbemannten Flugkörper dienen zur Vorbereitung der grenzüberschreitenden Luftangriffe auf Dörfer in Südkurdistan ebenso, wie zur Bekämpfung der PKK-Guerilla innerhalb der Türkei.

 

Während Erdogan die palästinensische Intifada glorifiziert, lässt er die kurdische Intifada im eigenen Land auch mit Hilfe israelischer Aufstandsbekämpfungstechnik brutal niederschlagen. Erst im Frühjahr waren israelische Spezialisten in der Türkei, um die türkische Armee beim Bau von Sperranlagen entlang der Grenze zu Südkurdistan zu beraten – nach dem Vorbild der israelischen Apartheidsmauer und der Checkpoints entlang und innerhalb der besetzten palästinensischen Gebiete und des Gaza-Streifes. Während Erdogan seine Trauer über getötete palästinensische Kinder zum Ausdruck bringt, schweigt er zu den hunderten inhaftierten, gefolterten und getöteten kurdischen Kindern in der Türkei.

 

In Wirklichkeit sind sich Israel und die Türkei in ihrem Wesen sehr ähnlich. Beide Staaten agieren als Besatzungsmächte, die aufgrund eines rassistisch definierten Selbstverständnisses als exklusiv »jüdischer Staat« oder »Staat der Türken« große Teile der eigenen Bevölkerung–arabische Israelis beziehungsweise Kurden – ausgrenzen und als Menschen zweiter Klasse behandeln. Und beide Staaten sind die engsten Verbündeten der USA im Nahen Osten. Dabei verkörpert die unterschiedliche außenpolitische Orientierung beider Staaten zugleich die unterschiedlichen Linien innerhalb der US-Administration. Die von Erdogan und seinem Außenminister Ahmet Davutoglu betriebene neo-osmanische Außenpolitik, mit dem die Türkei zur Führungsmacht in der islamischen Welt aufsteigen will, fand bislang in Abstimmung und mit Billigung der US-Administration statt. Hatten US-Präsident George W. Bush und die hinter ihm stehenden Neokonservativen noch auf den nicht zu gewinnenden »Krieg gegen den Islam« gesetzt und dabei Israel als ihren zentralen Verbündeten verstanden, so machte Bushs Nachfolger Barack »Hussein« Obama bereits in seiner Kairoer Rede im Juni 2009 deutlich, dass er den gemäßigten Islam als strategischen Partner der USA im Nahen Osten betrachtet. Zentraler Akteur für diese gewandelte US-Strategie ist die neoliberal-konservative AKP-Partei von Ministerpräsident Erdogan. Nachdem die US-Administration erkannt hatte, dass sie sich in der Nah- und Mittelostregion nicht allein auf Israel stützen können, versucht sie, die Türkei dafür zu nutzen, um diejenigen Elemente innerhalb der arabischen Welt wieder einzubinden, die sich aufgrund der israelischen Aggressionspolitik von den USA distanziert haben, obwohl sie grundsätzlich zur Kollaboration mit der Supermacht bereit sind. Je mehr die Türkei sich dabei verbal von Israel distanziert, desto eher gelingt es der türkischen Regierung, in der islamischen Welt als eine regionale Vormacht akzeptiert zu werden. Erdogans Wutausbruch auf dem Wirtschaftsforum in Davos muss in diesem Zusammenhang als Show verstanden werden, die von den USA gebilligt wurde, um der Türkei das Eindringen in die arabische Welt zu erleichtern.

 

Allerdings wäre es verfehlt, die AKP-Regierung als reine Befehlsempfängerin Washingtons zu sehen, wie es kemalistische Kreise in der Türkei tun. Vielmehr vertritt die AKP die Interessen der „anatolischen Tiger“, also von Teilen der aufstrebenden türkischen Kapitalistenklasse, die im eigenen wirtschaftlichen Interesse eine führende Rolle der Türkei im Nahen- und Mittleren Osten und Kaukasus anstrebt. In der Iran-Politik etwa, wo die türkische Regierung zusammen mit Brasilien als Vermittler auftrat und sich zum Unwillen der US-Führung gegen eine Verschärfung der Sanktionen stellte, gerät die Türkei durchaus auch in Widerspruch zur US-Administration. Eine Abkehr von der prowestlichen und damit proimperialistischen Ausrichtung der türkischen Außenpolitik ist die „multidimensionale Außenpolitik der Türkei damit noch lange nicht. Weiterhin ist die Türkei ein NATO-Staat mit der zweitstärksten NATO-Armee, weiterhin strebt die Türkei in die EU, weiterhin gibt es regelmäßige enge Konsultationen mit der US-Führung. Die türkische Regierung ist allerdings nicht bereit, sich völlig der ihrer eigenen Glaubwürdigkeit zuwiderlaufenden US-Politik zu unterwerfen, sondern strebt eine zunehmend eigenständige Rolle als regionaler Vormacht an. Dabei schießt die AKP-Administration durchaus auch mal – zumindest in den Augen der US-Führung – über das Ziel hinaus, wenn etwa im Zuge der Ergenekon-Operation nicht nur völlig aus dem Ruder gelaufene, antiwestliche Elemente innerhalb der Armee ausgeschaltet werden, sondern aufgrund innertürkischer Machtkämpfe auch der eine oder andere im Rahmen der NATO als enger Vertrauter der USA ausgebildete Spitzenmilitär hinter Gitter kommt. Dies – und die versöhnlerische Haltung der Türkei gegenüber Iran – lässt im Weißen Haus und im Pentagon durchaus immer wieder die Alarmglocken schrillen.

 

In einen solchen relativen Widerspruch zu Washington gerät aber auch Israel unter der extrem rechten Regierung von Benjamin Netanjahu. Offen brüskiert die israelische Regierung mit ihrer Fortsetzung des Baus illegaler Siedlungen regelmäßig die US-Außenministerin Hillary Clinton und selbst US-Präsident Obama, die zur Wiederherstellung der eigenen Glaubwürdigkeit in der arabischen Welt auf eine Wiederaufnahme des sogenannten Friedensprozesses mit den Palästinensern drängt. Dabei kann die israelische Regierung auf die immer noch einflussreichen Neokonservativen in der US-Administration zählen.

 

Ein Bruch zwischen der Türkei und Israel ist von den USA niemals gewünscht. Aber auch Israel kann sich keine dauerhafte Isolation im Nahen Osten leisten. Doch sowohl die türkische als auch die israelische Regierung haben ihre roten Linien, die auch der jeweilige Bündnispartner nicht überschreiten darf. So wie die zentrale Achse der israelischen Politik in der Niederhaltung des palästinensischen und generell des arabischen Widerstands besteht, steht für Ankara die kurdische Frage im Mittelpunkt. Bei einer Unterstützung der türkischen Seite für die Hamas reagiert Israel ebenso ungehalten, wie im umgekehrten Fall die Ausbildungshilfe der Israelis für die südkurdischen Sicherheitskräfte zu einer Belastung der bilateralen Beziehungen führten. Deutlich wird dies auch an den von der nationalistischen CHP- und MHP-Opposition verbreiteten Gerüchten, Israel würde die PKK unterstützten, weil die Aufkündigung des Waffenstillstands und ein Guerillaangriff auf die Marine-Basis von Iskenderum zeitgleich mit dem israelischen Piratenakt gegen die Mavi Marmara stattfand. Murat Karayilan, der Exekutivratsvorsitzende der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans KCK, hat diese Anschuldigungen zurecht als lächerlich und substanzlos zurückgewiesen und auf die andauernde israelische Militärhilfe gegen die PKK verwiesen.

 

Nicht gegenseitige Sympathie oder gar Liebe, sondern die palästinensische und die kurdische Frage zwingen die Türkei und Israel immer wieder zur militärischen Kooperation. Schon in den 90er Jahren wurde von türkischer Seite das Militärbündnis vor allem gesucht, um Unterstützung gegen die von der syrisch kontrollierten Bekaa-Ebene operierende PKK zu erlangen. Bei der Vertreibung des PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan aus Syrien, seiner Verfolgung und anschließenden Verschleppung 1998/99 spielte der israelische Mossad eine Schlüsselrolle. Die Türkei ist weiterhin auf israelische Militärtechnik wie die Heron-Drohnen zur Bekämpfung des kurdischen Aufstandes angewiesen. Für Israel wiederum ist es überlebensnotwendig, inmitten der arabischen Welt einen durch seine NATO-Einbindung prowestlich ausgerichteten Bündnispartner in der Region zu haben. Die umfangreichen, zum Teil durch Wasserlieferungen vergoltenen Rüstungsgeschäfte mit der Türkei sind für Israel eine wichtige Einnahmequelle der heimischen Industrie.

 

Die Beziehungen zwischen Israel und der Türkei werden sich wahrscheinlich wieder einigermaßen einpendeln – wenn auch die militärisch-geheimdienstliche Zusammenarbeit aus Rücksicht auf die öffentliche Meinung in beiden Ländern weitgehend hinter den Kulissen erfolgen wird. An der diplomatischen Oberflächte ist dabei der eine oder andere heftige Sturm – bis hin zur Ausladung von Botschaftern - keineswegs ausgeschlossen. Die Türkei wird sich trotz ihrer prowestlichen Ausrichtung im eigenen Interesse als nahöstliche Regionalmacht äußerlich um eine gewisse Balance zwischen Israel und den islamischen Staaten bemühen. In den Augen ultrarechter israelischer Politiker und US-amerikanischer Neokonservativer mag dies als ein Abgleiten der Türkei in das islamische Lager erscheinen. Doch in Wirklichkeit erfüllt die Türkei damit für USA und NATO weiterhin ihre während des Kalten Krieges eingeübte Rolle als Trojanisches Pferd in der islamischen Welt. Dies gab Außenminister Davutoglu im Dezember 2009 sogar öffentlich zu, als er die »multidimensionale Außenpolitik« der Türkei mit der auf »Wandel-durch-Annäherung« zielenden deutschen »Ostpolitik« im Kalten Krieg verglich.

 

Die Militärallianz Türkei-Israel war von Anfang gleichermaßen gegen die Lebensinteressen der Kurden wie der arabischen Völker gerichtet. Eine Lösung der kurdischen wie der palästinensischen Frage ist daher der Schlüssel für eine Demokratisierung des Nahen- und Mittleren Ostens. Notwendig ist daher die Allianz der unterdrückten Völker gegen Imperialismus, Zionismus und islamisch-neo-osmanische Reaktion. Die ersten Märtyrer der damals in den Camps des palästinensischen Widerstandes ausgebildeten PKK-Guerilla starben nicht im Kampf gegen die türkische Armee, sondern in der gemeinsamen Abwehr der zionistischen Aggressoren 1982 im Libanon. An diese Kampftradition gilt es anzuknüpfen.

 

Aus: Kurdistan Report Nr. 151 September/Oktober 2010