Aus: junge Welt vom 27.08.2018, Seite 12 /
Thema
Die Kommune von Fatsa
Vorabdruck. 1979 wurde an der türkischen Schwarzmeerküste eine
Volksherrschaft errichtet, die vom Militär blutig zerschlagen wurde
Von Nick Brauns
Anfang September erscheint das von Nick
Brauns und Murat Cakir herausgegebene Buch »Partisanen einer neuen Welt. Eine
Geschichte der Linken und Arbeiterbewegung der Türkei« im Berliner Verlag Die Buchmacherei. Wir dokumentieren im folgenden
das leicht bearbeitete Kapitel »Die Kommune von Fatsa«.
Die Redaktion dankt Herausgebern und Verlag für die freundliche Genehmigung zum
Vorabdruck. (jW)
Die Stadt Fatsa an der
türkischen Schwarzmeerküste wurde 1979/80 zum Symbol für einen möglichen
fortschrittlichen Ausweg aus der Krise des Landes. Die Niederschlagung des
dortigen für die damalige Zeit einzigartigen Experiments in direkter Demokratie
und kommunaler Selbstverwaltung bildete wiederum die Ouvertüre zum
Militärputsch vom 12. September 1980.
In der Kreisstadt Fatsa in
der Provinz Ordu lebten 1980 rund 22.000 Menschen, im
ländlichen Umland weitere rund 90.000. Die Wirtschaft der Region beruhte in
erster Linie auf dem Anbau von Haselnüssen, dazu kamen einige Teeplantagen
sowie Fischerei. Die Phase der direkten Demokratie in Fatsa
ist eng verbunden mit der Person von Fikri Sönmez, der besser bekannt wurde
unter seinem ihm eigentlich zur Diffamierung durch die rechte Presse verpassten
Namen »Schneider Fikri« (Terzi Fikri). Sönmez war 1938 im Dorf Kabakdagi in der Provinz Ordu als
Kind armer Eltern zur Welt gekommen. Nach Abschluss der Grundschule arbeitete
er als Schneider. 1965 schloss er sich der Arbeiterpartei der Türkei (TIP) an.¹
Ende der 1960er Jahre war Sönmez einer der Organisatoren von Demonstrationen
der Haselnussbauern gegen die von den staatlichen Aufkäufern gezahlten
niedrigen Abnahmepreise, die die Bauern in die Verschuldung durch teure Erntekredite
privater Geldverleiher trieben. Anfang der 1970er Jahre wandte er sich der
MDD-Bewegung zu, beteiligte sich an antiimperialistischen Protesten gegen sie
Sechste US-Flotte in Istanbul und Izmir und unterstützte Mahir Cayan.² Nach dem
Putsch 1971 wurde Sönmez als Unterstützer der THKP-C für 20 Monate inhaftiert.
Er setzte seine politischen Aktivitäten in der Schwarzmeerregion nach einer
Haftentlassung fort und spielte in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre eine
Schlüsselrolle bei der Organisierung des Widerstands gegen faschistische
Übergriffe. Drei Mordanschläge auf ihn schlugen in dieser Zeit fehl.
Überragender Wahlsieg
Als nach dem Tod der bisherigen Bürgermeisterin von
der Republikanischen Volkspartei (CHP)³ 1979 in Fatsa
Neuwahlen ausgeschrieben wurden, kandidierte Sönmez, der aufgrund seines
langjährigen politischen und sozialen Engagements weithin respektiert wurde,
als Unabhängiger. Unterstützt wurde der Schneider dabei von Dev-Yol
als der stärksten linksradikalen Organisation in der Stadt.4 Die Bewegung hatte
zuvor beschlossen, zwar zum Boykott von Parlamentswahlen aufzurufen, sich aber
an Kommunalwahlen mit revolutionären Kandidaten zu beteiligen, da sie die
Kommunen als mögliche Schulen der Demokratie und Orte des Widerstandes gegen
die faschistischen Angriffe betrachtete.
Bereits im Wahlkampf versprach Sönmez eine Beteiligung
der Bevölkerung an der Stadtverwaltung, Transparenz sowie ein Eintreten gegen
Armut, Wucherpreise auf dem Schwarzmarkt und Korruption. Er konnte sich auf
rund 1.000 aktive Helfer stützen, die fast alle Haushalte besuchten. Angesichts
von rund 8.000 registrierten Wählern war dies eine bemerkenswert hohe Zahl. Am
14. Oktober 1979 gewann er die Wahl mit einer absoluten Mehrheit von 3.096
Stimmen – das entsprach 62 Prozent – gegenüber 1.133 für den Kandidaten der CHP
und 859 für den Kandidaten der rechtskonservativen AP.5
Doch dem linksradikalen Bürgermeister stand der aus
CHP, AP und der islamistischen MSP6 gebildete Stadtrat gegenüber. An dieser
Stelle kamen die von Dev-Yol bereits in den Jahren
zuvor in Fatsa gebildeten Widerstandskomitees ins
Spiel. Diese wurden nun in Volkskomitees umgewandelt, um die im Wahlkampf unter
dem Motto »Dem Volk das Wort, die Macht und die Entscheidung« versprochene
partizipatorische Demokratie umzusetzen. Die bisherigen sieben Stadtbezirke
wurden in elf neue unterteilt, um die Verankerung der Komitees in der
unmittelbaren Wohnumgebung zu stärken. Die Komitees standen allen Bewohnern
einschließlich der Mitglieder von CHP, AP und MSP offen. Von der Mitwirkung
ausgeschlossen waren lediglich die »Grauen Wölfe«, das heißt Anhänger der
faschistischen MHP und ihrer Jugendorganisation, aber auch Wucherer und
Schwarzhändler als örtliche Vertreter der herrschenden Klassen.7 Allerdings
wurden in der Praxis auch Anhänger anderer linksradikaler Gruppierungen von den
mehreren hundert vor allem aus Istanbul, Ankara und Izmir zur Verstärkung
angereisten Dev-Yol-Kadern
daran gehindert, politisch aktiv zu werden. Hinsichtlich des
Alleinvertretungsanspruchs unterschied sich Dev-Yol
nicht von konkurrierenden linken Strömungen.
Die Teilnahme von Mitgliedern der verschiedenen
bürgerlichen Parteien resultierte nicht aus Verhandlungen der
Parteifunktionäre, sondern aus dem unmittelbaren Kontakt der Bewohner der
Viertel untereinander. An Abstimmungen der Komitees beteiligte sich rund ein
Viertel der Einwohner der Stadt. Für jedes Komitee wurde in geheimer Wahl bei
offener Stimmauszählung eine je nach Bezirksgröße drei- bis siebenköpfige Exekutive
gewählt, die jederzeit wieder abwählbar war, wenn sich die Basis nicht
ausreichend vertreten sah. Diese Exekutive vertrat den Bezirk bei der
Stadtverwaltung, so dass der offizielle Stadtrat keine Rolle mehr spielte.
Neben den permanent tagenden Volkskomitees gab es alle zwei bis drei Monate
große Volksversammlungen, die der Bevölkerung die Möglichkeit gaben, ihre
Vorschläge und Kritik direkt gegenüber Bürgermeister Sönmez und seinem
Mitarbeiterstab vorzutragen. Bei der Stadtverwaltung wurde zudem ein Büro für
Öffentlichkeitsarbeit eingerichtet, das als Schnittstelle zwischen dem
Bürgermeister und der Verwaltung einerseits und den Volkskomitees und der
Bevölkerung andererseits diente. Auch in den umliegenden Dörfern entstanden nun
Volkskomitees.
Die Bevölkerung brachte zunehmend nicht nur Fragen der
örtlichen Infrastruktur in die Komitees ein, sondern artikulierte in ihnen auch
soziale Probleme. Verhandelt wurden dort etwa Nachbarschaftsstreitigkeiten um
Land, die Beilegung von Blutfehden und das Problem der Entführung junger Frauen.
Staatliche Institutionen wie Gerichte, Gefängnisse und die Polizei verloren
zusehends an Bedeutung. Deutlich wird dies etwa im Rückgang der Zahl der
Inhaftierten im Gefängnis von Fatsa von
durchschnittlich mehr als 200 auf nur noch 32 während der Amtszeit von Sönmez.
Schuldscheine verbrannt
Die Komitees trieben mehrere Kampagnen zur direkten
Verbesserung der Lebensumstände voran. So wurde die Kampagne »Gegen die
Ausbeutung mit der Haselnuss« wiederaufgenommen, mit der Sönmez und Dev-Yol bereits in den Jahren zuvor Prestige gewonnen
hatten. Unter dem Druck des Weltwährungsfonds hielt die Regierung in Ankara die
Einkaufspreise für Haselnüsse äußerst niedrig, während die Verkaufspreise für
die von multinationalen Konzernen produzierten Dünger und Chemikalien hoch
blieben. Die Folge davon war eine permanente Verschuldung vieler
Haselnussbauern bei Geldverleihern, wobei Zinsen von 100 bis 200 Prozent keine
Seltenheit waren. Von der Schuldenlast konnten sich die Bauern nur durch den
Verkauf ihrer Nussgärten befreien, wodurch wiederum die größeren Produzenten
gestärkt wurden. Diesmal blieb es nicht wie in den Jahren zuvor bei
Großdemonstrationen von Haselnussbauern mit bis zu 20.000 Teilnehmern. Nun
vertrieben Dev-Yol-Militante
die Wucherer mit Gewalt aus der Stadt, Schuldscheine wurden im Namen der
Komitees beschlagnahmt und verbrannt. Das Beispiel machte schnell Schule in der
Umgebung.
Ein weiteres soziales Problem betraf den Schwarzmarkt.
Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Krise des Landes horteten Händler Verbrauchsgüter
wie Butter, Mehl, Zucker und Salz, um sie zu Wucherpreisen in Höhe des Zwei-
oder Dreifachen des Normalpreises auf dem Schwarzmarkt verkaufen zu können.
Vertreter der Komitees durchsuchten die Lager von Händlern, beschlagnahmten
gehortete Güter und verkauften diese zu handelsüblichen Preisen an die
Bevölkerung. Den Erlös bekamen die Händler dann zurückerstattet. In den
Komitees wurde zudem beschlossen, die Überfischung der Küstengewässer durch
Schleppnetzfang zu beenden. Während Schleppnetze der Großfischer von Dev-Yol-Militanten unbrauchbar
gemacht wurden, unterstützten die Volkskomitees die kleinen Fischer
wirtschaftlich.
Bei der »Schluss mit dem Schlamm«-Kampagne wurden in
gemeinschaftlicher Anstrengung der Anwohner innerhalb von sechs Tagen die
Straßen der Stadt ausgebessert oder neu gebaut. Ingenieure der Stadtverwaltung
hatten zuvor behauptet, diese Arbeiten würden mindestens vier Jahre dauern.
Eigentümer von Kraftfahrzeugen in Fatsa mussten auf Komiteebeschluss hin ihre Autos und Traktoren für einen Tag
der Kommune zur Verfügung stellen. Schwere Baufahrzeuge wurden von
Nachbargemeinden geliehen. Mehr als 7.000 Einwohner, darunter auch Freiwillige
aus umliegenden Dörfern, beteiligten sich an den Arbeiten. Die Frauen
versorgten die Arbeiter mit Essen, Familien öffneten ihre Häuser für die
Übernachtung von Unterstützern von außerhalb. Die Kampagne, in deren Verlauf
vier Kilometer neue geteerte Straßen entstanden, wurde zum praktischen Beweis
für die Effektivität der Selbstverwaltung. Weil sie vorher selbst an der
Entscheidungsfindung beteiligt gewesen waren, fühlten sich die Einwohner der
Stadt auch für die Realisierung der Kampagne verantwortlich.
Vom 8. bis zum 14. April 1980 fand in Fat sa ein Volkskulturfestival statt. Mit dem Festival
sollte einerseits die ideologische und kulturelle Hegemonie der herrschenden Klassen über die Bevölkerung
gebrochen werden. Zum anderen wollte sich die selbstverwaltete Stadt so nach
außen präsentieren. An dem Festival mit seinen Musik-, Theater-, Film-,
Literatur-, Sport- und Diskussionsveranstaltungen beteiligten sich
Intellektuelle und Künstler aus dem ganzen Land, darunter die Dichter Can
Yücel, Gülten Akin und Adnan Yücel, die Sänger Ali Asker und Feyzullah Cinar,
die Akademiker und Journalisten Ünsal Oskay, Murat Belge, Yazgülü Aldogan, Gündüz Vassaf, Ahmet Abakay, Mahmut Tali Önrören, Emil Galip Sandalci, Sükran Ketenci, Tugrul Eryilmaz und Ali Ihsan Mihci.
Schlagen verboten
Mit ihren in verschiedenen Zeitungen veröffentlichten
Berichten trugen die intellektuellen Beobachter nach dem Festival dazu bei, das
Modell Fatsa landesweit bekannt zu machen. In den
Vordergrund stellten sie dabei den partizipatorischen Charakter der örtlichen
Verwaltung, die im Unterschied zu anderen Landesteilen friedliche Atmosphäre
des Ortes, das große Interesse der einfachen Bevölkerung an kulturellen und
intellektuellen Aktivitäten, das hohe Bewusstsein der arbeitenden Bevölkerung
und die auf Selbstbewusstsein, Gerechtigkeit und Solidarität beruhenden neuen
sozialen Beziehungen untereinander. »Sowohl Kinder als auch Frauen sind nun
freie Menschen. Weder sind die Frauen ihren Ehemännern untertänig noch die
Kinder unterwürfig gegenüber ihren Vätern. Weil sie Seite an Seite auf dem Weg
zur Revolution sind«, schrieb Can Yücel in der Zeitung Demokrat.
Mahmut Tali Öngören
bemerkte, dass die Frauen zu den Hauptunterstützerinnen der Volksräte gehörten,
»weil die Revolutionäre, die diese Verwaltung gegründet haben, ihre Männer vor
Alkoholismus, Spielsucht und Kaffeehäusern gerettet haben«. Auch Sükran Ketenci wies darauf hin, dass Frauen an der Spitze der
Unterstützung für die Volkskomitees standen. »Die Frauen sagten: ›Mein Mann
schlägt mich nicht mehr, sie haben ihm im Kaffeehaus gesagt, dass er das nicht
mehr darf.‹«
Die positive Berichterstattung in landesweiten Medien
ließ Fatsa in den Augen der Regierung zu einer
Bedrohung werden. Denn nun bestand die Gefahr, dass das Modell der
Selbstverwaltung Nachahmer in anderen Orten finden könnte. Die Regierung setzte
den als MHP-Anhänger bekannten Resat Akkaya als neuen Gouverneur für die Provinz
Ordu ein. Akkaya brachte weitere Faschisten in
Schlüsselpositionen der örtlichen Behörden und der Polizei und ließ neue
Gruppen der Grauen Wölfe gründen. Die Zahl der bewaffneten Auseinandersetzungen
und der dabei Getöteten stieg bald rapide an. Innerhalb von drei Monaten wurden
41 Morde begangen, verglichen mit 16 in den fünf Monaten davor, meldete die
Zeitung Cumhuriyet am 21. Juli 1980.
Die Angriffe der Faschisten und staatlicher
Einsatzkräfte richteten sich zuerst gegen die mehrheitlich CHP-regierten Kommunen
um Fatsa herum, um so das Zentrum des Widerstandes zu
isolieren. Ministerpräsident Süleyman Demirel gab persönlich das Ziel aus, als
er nach einem Pogrom der Faschisten an Aleviten in Corum erklärte: »Vergesst Corum,
schaut nach Fatsa. Wir müssen Fatsa
überwinden, wir werden dem ein Ende bereiten.«8 In
regierungsnahen Zeitungen wurden nun Schreckensmeldungen über eine angebliche Dev-Yol-Diktatur in Fatsa verbreitet. In der Befürchtung, dass es wie zuvor in Corum und Kahramanmaras zu Angriffen der Faschisten kommen
würde, wurden Barrikaden in den Straßen von Fatsa
errichtet. Doch als deutlich wurde, dass die Armee rund um die Stadt Stellung
bezog, wurde beschlossen, die Barrikaden wieder abzubauen. Die Kader von Dev-Yol sollten sich in die Berge zurückziehen.
Einmarsch der Armee
Am 11. Juli 1980 um 3.30 Uhr nachts begann die
sogenannte Punkt-Operation (Nokta Operasyonu)
mit dem Einmarsch der in Erwartung von bewaffnetem Widerstand mit starken
Kräften aufgefahrenen Armee. Über 300 Einwohnerinnen und Einwohner, darunter
Bürgermeister Sönmez und die Vorsitzenden der Ortsgruppen von CHP, AP und MSP,
die am Tag vorher gemeinsam erklärt hatten, Fatsa sei
eine friedliche Stadt, wurden gleich in den ersten Stunden gefangengenommen. In
den folgenden Tagen wurden rund 3.000 weitere Bürgerinnen und Bürger verhaftet.
In Moscheen und Schulen wurden Folterzentren eingerichtet, in denen viele
Gefangene misshandelt wurden. Maskierte Faschisten, die mit der Armee in die
Stadt gekommen waren, terrorisierten die Bevölkerung, plünderten straflos deren
Häuser und denunzierten Revolutionärinnen und Revolutionäre.
Die Punkt-Operation diente nicht nur dazu, die
revolutionären Kader festzusetzen, sondern der Bestrafung der ganzen
Bevölkerung und der Brechung ihrer Moral. Denn die Regierung fürchtete, wie
Murat Belge am 6. August 1980 im Demokrat schrieb,
weniger die prominenten Sozialisten als die Entwicklung des Sozialismus zur
Massenbewegung. »Fatsa wurde zu einem Einflussfaktor,
ja zu einem Katalysator zur Verdeutlichung der prinzipiellen Klassenpositionen,
die im Klassenkampf der Türkei hervortraten. Es war offensichtlich, dass die
AP-Regierung hier angreifen würde. Obwohl die AP-Unterstützer in Fatsa erklärten: ›Lasst uns in Ruhe‹, konnte die AP, die
die tiefsitzende Furcht der herrschenden Klassen in der Türkei vor dem Volk und
seinem Erwachen repräsentiert, die Existenz von Fatsa
als einem Beispiel nicht tolerieren. (…) Die Frage, die einige dazu brachte,
Masken zu tragen, und andere, ihre Masken abzunehmen, war die folgende: ›Was würde
uns geschehen, wenn der Sozialismus zur Massenbewegung würde?‹ Mit Sicherheit
wird die Antwort auf diese Frage nicht nur in Fatsa
gegeben werden.«9
Die Operation gegen Fatsa
wurde gestartet, um eine mögliche linke Alternative zu einem von einem Großteil
der Bevölkerung angesichts bürgerkriegsähnlicher Gewalt und wirtschaftlicher
Zerrüttung mehr und mehr ersehnten Militärputsch zu beseitigen. So schrieb
Ilhan Selcuk am 14. Juli 1980 in der Cumhuriyet in
sarkastischen Worten: »Ich vermute, dass die Bewohner von Istanbul, Ankara,
Izmir, Adana und all den anderen Städten, die über Inflationsdruck klagen, die
die Schnauze voll von den Preissteigerungen haben, die erschöpft von dem
höllischen Leben sind, die auf Märkten immer betrogen werden, ebenfalls ein Interesse
am Experiment von Fatsa haben. Was ich weiß? Nachdem
Herr Süleyman (Demirel) so heftig auf Fatsa reagiert
hat, frage ich mich, ob ihm das Leben dort womöglich zu geordnet und preiswert
war.« Und weiter: »Einige Zeitungen haben geschrieben,
Fatsa sei der Sowjetunion beigetreten; laut anderen
ist es zu einer Pariser Kommune geworden; sie meinen, die türkische Armee habe Fatsa gerettet. (…) Aber ich frage etwas anderes: (…) Wieviel in Gottes Namen kosteten Fleisch, Milch, Eier,
Gemüse und Früchte in Fatsa? Wurden in der Stadt
vielleicht die Preise der Sowjetunion eingeführt? Findet sich kein Neugieriger,
der diese Seite der Angelegenheit aufklären möchte?«
Massenprozess
Am 12. Januar 1983 wurde vor dem Militärgericht in Amasya der Dev-Yol-Prozess gegen 759 Angeklagte aus Fatsa
und Umgebung eröffnet. Das Verfahren dauerte bis 1988. Die Zahl der Angeklagten
stieg dabei von anfangs 696 auf 851 an. 15 von ihnen starben noch vor der
Urteilsverkündung in Haft – oft infolge von Folter. So erlag Fikri Sönmez am 4.
Mai 1985 im Gefängnis einem Herzversagen. Den Angeklagten wurde neben einer
Vielzahl zumeist ungeklärter politischer Morde vorgeworfen, der Strategie von Dev-Yol entsprechend Stadtkomitees gegründet und bei den
Wahlen dazu eine aktive Rolle gespielt, Volksgerichte gegründet und dort
Urteile gefällt, den städtischen Fuhrpark für Demonstrationen und Kundgebungen
zur Verfügung gestellt sowie im Volkshaus Seminare veranstaltet zu haben. In
268 Fällen forderte der Militärstaatsanwalt die Todesstrafe. 169 Angeklagte
kamen wegen Verjährung frei, weitere 444 wurden freigesprochen. Acht Angeklagte
wurden zum Tode verurteilt und 14 weitere zu lebenslanger Freiheitsstrafe, auch
die übrigen erhielten Freiheitsstrafen. Infolge einer Änderung des
Strafgesetzbuches unter Präsident Turgut Özal wurden 1990 die Todesstrafen in
Haftstrafen umgewandelt und die Freiheitsstrafen insgesamt so reduziert, dass
bis 1992 alle Fatsa-Gefangenen wieder in Freiheit
waren.
Anmerkungen:
1 Die 1961 von Gewerkschaftern gegründete parlamentarisch
orientierte Türkiye Isci Partisi war die erste legale sozialistische Partei der
Türkei.
2 Die Anhänger des Konzeptes der
Nationaldemokratischen Revolution (Milli Demokratik Devrim, MDD) sahen in der Türkei ein halbkoloniales und
halbfeudales Land, das noch nicht reif für eine sozialistische Revolution sei.
Die zentralen Ziele seien daher Erlangung nationaler Unabhängigkeit und
Liquidation des Feudalismus. Mahir Cayan war Gründer
der aus der 68er-Jugendbewegung hervorgegangenen Guerillaorganisation Türkische
Volksbefreiungspartei-Front (THKP-C). Er fiel 1972 bei einem Gefecht in Kizildere.
3 Republikanischen Volkspartei (Cumhuriyet
Halk Partisi, CHP), kemalistisch-sozialdemokratisch orientiert.
4 Der 1977 gegründete marxistisch-leninistische Devrimci Yol (Revolutionärer Weg,
auch Dev-Yol) hat seine Wurzeln in der
THKP-C und wurde Ende der 1970er Jahre zur wohl einflussreichsten
linksradikalen Gruppierung der Türkei. Dev-Yol
verstand sich als Parteiaufbauorganisation, der Schwerpunkt seiner Aktivitäten
lag im antifaschistischen Kampf sowie dem Aufbau von Widerstandskomitees in
Armenvierteln und Dörfern.
5 AP (Adalet Partisi, d. h.
Gerechtigkeitspartei), konservative Regierungspartei von Ministerpräsident
Süleyman Demirel
6 MSP (Milli Selamet Partisi,
Nationale Heilspartei), radikalislamisch.
7 MHP (Milliyetci Hareket Partisi, Partei der
Nationalistischen Bewegung), faschistisch.
8 In der Provinz Corum waren
bei einem Pogrom der Grauen Wölfe, das sich gegen Angehörige der alevitischen Glaubensgemeinschaft sowie Anhänger der CHP
richtete, mindestens 18 Menschen getötet worden.
9 Masken: Während sich Teile der Sicherheitskräfte
beim Angriff auf Fatsa vermummten, um von der
Bevölkerung nicht erkannt zu werden, traten die einstigen Untergrundkader der Dev-Yol ohne Masken vor der Bevölkerung auf.
Nick Brauns/Murat Cakir (Hg.):
Partisanen einer neuen Welt. Eine Geschichte der Linken und Arbeiterbewegung in
der Türkei. Mit Beiträgen von Joost Jongerden, Alp Kayserilioglu, Brigitte Kiechle und Volkan Yarasir. Die Buchmacherei, Berlin
2018, 527 Seiten, 20 Euro.