Junge Welt 19.06.2009 / Thema / Seite 10

Dritte Kraft in der Türkei

Hintergrund. Die islamische Bewegung des Predigers Fethullah Gülen kontrolliert Schlüsselpositionen in dem Land am Bosporus

Von Nick Brauns

Im Sommer 2008 führten die britische Zeitschrift Prospect und die US-amerikanische Foreign Policy ein Ranking nach den weltweit bedeutendsten Intellektuellen durch. Den ersten Platz belegte bei einer ungewöhnlich hohen Zahl von einer halben Million Abstimmenden ein bis dahin außerhalb der Türkei weithin unbekannter, in den USA lebender islamischer Prediger namens Fethullah Gülen. Dessen Anhänger hatten sich nach einem Aufruf in der Gülen nahestehenden auflagenstarken türkischen Tageszeitung Zaman massiv an der Abstimmung beteiligt. Als einen »außergewöhnlich talentierten Akademiker« wollte die US-Einwanderungsbehörde, bei der sich Gülen mit dieser Selbsteinschätzung 2008 um eine Greencard bewarb, den Prediger mit seiner abgebrochener Grundschulbildung freilich nicht gelten lassen. Vielmehr bezahle Gülen Akademiker dafür, über ihn und seine Bewegung zu berichten.1

Diesem Ziel diente offenkundig auch eine Ende Mai 2009 vom Institut für Religionswissenschaft der Universität Potsdam und dem der Gülen-Bewegung nahestehenden Forum für interkulturellen Dialog Berlin e.V. in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Orient-Institut, dem Abraham Geiger Kolleg an der Universität Potsdam und der Evangelischen Akademie zu Berlin veranstaltete Konferenz zum Thema »Muslime zwischen Tradition und Moderne – Die Gülen-Bewegung als Brücke zwischen den Kulturen«. Der am Ende seiner emotionalen, in einem altmodisch-osmanischen Türkisch gehaltenen Predigten oft in Tränen ausbrechende Gülen gilt im Westen als wichtigster Vertreter eines liberalen, reform­orientierten Islam. Gülen nahm an »Gipfeltreffen« mit christlichen und jüdischen Repräsentanten teil, darunter Papst Johannes Paul II. Politiker wie der ehemalige US-Präsident William Clinton nennen ihn ihren »Freund«. Allein in der Türkei sollen zwischen drei und fünf Millionen Menschen dem »Hocaefendi« folgen. Der ökonomische Wert der Tausenden Schulen, Stiftungen, Unternehmen und Medien, die in über 50 Ländern zur Gülen-Bewegung gehören, wird auf 26 Milliarden US-Dollar geschätzt. »Die Bewegung bietet den Türken eine neue, moderne Identität, die politisch als demokratisch und kulturell als muslimisch und fortschrittlich verstanden werden kann. Für den Westen bedeute der Islam, den Gülen predigt, eine Partnerschaft und eine Bereicherung«, führte der langjährige Türkei-Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Rainer Hermann, auf der Potsdamer Konferenz aus.

Gegengewicht gegen Linke

Der 1941 – nach anderen Angaben 1938 – in der Nähe der als ultrakonservativ bekannten Stadt Erzurum im Osten der Türkei geborene Gülen hatte sich bereits in seiner Jugend dem islamischen Nurculuk-Licht-Orden des 1960 verstorbenen Sufi-Predigers Said Nursi angeschlossen. Die Nurcus sind wiederum ein Zweig der im 14. Jahrhundert entstandenen Nakschibendi, einer der einflußreichsten religiösen Strömungen der Türkei, deren soziales Netzwerk trotz eines Verbots aller islamische Bruderschaften durch Republikgründer Mustafa Kemal »Atatürk« im Jahr 1925 bis heute fortexistiert. Wegen »islamistischer Umtriebe« mußte Gülen, der im westtürkischen Izmir als staatlicher Moscheeprediger arbeitete, nach dem Militärputsch 1971 kurzzeitig ins Gefängnis. Nach dem erneuten Militärputsch vom 12. September 1980 unterstützte die Militärjunta dagegen Gülens mittlerweile stark angewachsene Bewegung als Gegengewicht gegen die radikale Linke und die kurdische Nationalbewegung. Denn den kurdischen Nationalismus seines auch Said-i-Kurdi genannten Inspirators Nursi hatte Gülen zugunsten eines großtürkischen Nationalismus ersetzt, und im Mittelpunkt seiner Schriften stehen immer wieder der Kampf gegen Kommunismus, Atheismus sowie die Evolutionstheorie.

Nach 1981 schied Gülen aus dem Staatsdienst aus, um sich ganz dem Aufbau seiner Bewegung zu widmen. Gülens mehr als 60 Bücher und seine Hunderte auf Tonträgern verbreiteten Reden seiner auf Mystizismus, Engels- und Dämonenglauben beruhenden Sufi-Lehre zeigen ein konservatives und konventionelles Islamverständnis. »Koran und Hadith sind wahr und absolut. Wissenschaft und wissenschaftliche Fakten sind wahr, solange sie mit Koran und Hadith übereinstimmen«, heißt es da.2 Allerdings tritt Gülen für die Nutzung der modernen Wissenschaften und Technologien durch die Muslime ein, um die Abhängigkeit der Türkei vom Westen zu beenden.

Anhänger hat Gülen insbesondere unter der aufstrebenden akademischen Mittelschicht in den konservativen inneranatolischen Städten, die zugleich das Rückgrat der islamisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan bilden. Diese »muslimischen Calvinisten«, wie sie in einer Studie genannt wurden, fühlen sich durch die von Gülen gepredigten Werte von Fleiß, Selbstdisziplin und Sparsamkeit angesprochen. »Für Ausdauer und Geduld werden wir mit Erfolg belohnt; die Strafe für Trägheit ist Mittellosigkeit«, heißt es dessen »Grundlagen des islamischen Glaubens«. Die reichen Anatolier »führen Familienunternehmen, die mit modernsten Produktionsmethoden arbeiten, aber sie haben keine Beziehungen in der Politik und in Finanzkreisen«, schrieb die britische Islamexpertin Wendy Kristianasen 1997 in der Le ­Monde ­Diplomatique über die Beziehungen Gülens zu den »Anatolischen Tigern«. Gülen »ist die Stimme der Kapitalisten aus der Provinz – und bekommt dafür ihr Geld, um sich sein kleines Imperium aufzubauen.«3

Seine Anhänger gewinnt Gülen insbesondere über seine Bildungseinrichtungen und die angeschlossenen Wohnheime. »Wenn Sie Ihre Kinder kostenlos und an die Werte unseres Volkes gebunden lernen lassen möchten, dann schicken Sie sie zu uns«, wirbt die Bewegung mit Stipendien, die von finanzkräftigen islamischen Unternehmen gezahlt werden. Allein in der Türkei betreibt die Bewegung drei Fatih-Universitäten, mehr als 200 Privatschulen, 500 Nachhilfeinstitute und ebenso viele Studentenwohnheime, Hunderte Näh-, Computer- und Freizeitkurse sowie rund 1000 »Lichthäuser« für Religionsunterricht. Hier wird eine akademische Elite für das Gülen-Imperium herangezogen. Auch 40 Prozent der Lehrer an staatlichen türkischen Schulen sollen heute bereits Fethullahci sein.

Auswanderung in die USA

Während für Gülen die laizistische Linke des Teufels ist, hat der Mitbegründer der Erzurumer »Vereinigung zur Bekämpfung des Kommunismus« keinerlei Berührungsängste mit der extremen Rechten. So spendete er den faschistischen Grauen Wölfen 3,5 Milliarden türkische Lira als diese bei den Parlamentswahlen 1991 auf der Liste der islamistischen Wohlfahrtspartei kandidierten, und rief seine Anhänger zur Wahl dieser Liste auf.4 Eine alte Freundschaft verband Gülen mit dem Ende März 2009 bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben gekommenen Abgeordneten und Vorsitzenden der islamisch-faschistischen Großen Einheitspartei (BBP), Muhsin Yazcoglu. Dieser stand 1978 an der Spitze eines Pogroms der Grauen Wölfe in der anatolischen Stadt Karamanmaras, bei dem 111 Angehörige der alevitischen Religionsgemeinschaft ermordet wurden. »Er hatte einen guten Charakter und war ein tapferer anatolischer Mann«, würdigte Gülen den Faschisten nach dessen Unfall.5 Mit Yazcoglu teilte Gülen nicht nur den Traum vom großtürkischen Reich. Er soll die Gründung der von den Grauen Wölfen abgespaltenen und stärker religiös orientierten BBP 1993 auch finanziell unterstützt haben.6 Gülen folgte Nursis Erkenntnis, daß der säkulare Staat ein zu mächtiger Gegner sei, um ihn frontal anzugreifen, und setzte auf gute Beziehungen zu den jeweiligen Regierungsparteien, denen er die Stimmen seiner Anhänger anbot. So setzten sich in den 90er Jahren sowohl der konservative Staatspräsident Turgut Özal als auch der sozialdemokratische Ministerpräsident Bülent Ecevit für Gülen ein.

Doch kurz nach dem Verbot der zuvor auf Druck des Militärs aus der Regierung verdrängten islamistischen Wohlfahrtspartei geriet im April 1998 auch die Gülen-Bewegung in das Fadenkreuz des Nationalen Sicherheitsrates, der diese beschuldigte, einen Gottesstaat errichten zu wollen. »Einer gesundheitlichen Untersuchung wegen« setzte sich Gülen im März 1999 in die USA ab. Kurz darauf wurde im Fernsehsender NTV ein geheimes Video ausgestrahlt, in dem der Hocaefendi seine Anhänger zum Marsch durch die Institutionen aufrief: »Die Anwesenheit unserer Schüler in der Justizverwaltung und dem übrigen Staatsapparat ist der Garant für unsere Zukunft. (…) Die Muslime dürfen nicht eilig handeln. Wer voreilig handelt, gerät in Gefahr, wie in Algerien, daß sein Kopf zerquetscht wird. (…) Ihr müßt, ohne aufzufallen und ohne auf euch aufmerksam zu machen, an die Schaltstellen der Macht gelangen. Wir brauchen keine Märtyrer. Wenn eure Kollegen im Amt Raki trinken, so müßt ihr sogar im Fastenmonat mit ihnen trinken, um nicht aufzufallen. Für unsere große Sache ist es euch erlaubt, euch zu verstellen.«7 Ein Verfahren wegen Republikverrat wurde eingeleitet. Gülen bezeichnete die Aufzeichnungen als manipuliert und witterte ein »Komplott von Marxisten und Atheisten«. Nachdem 2003 unter der nun regierenden AKP der Prozeß gegen Gülen ausgesetzt wurde, erfolgte im Mai 2006 ein Freispruch. Obwohl so einer Rückkehr in die Türkei nichts im Wege stand, zog es Gülen vor, in seiner vom FBI geschützten Ranch im US-Bundesstaat Pennsylvania zu bleiben. Seit Ende 2008 hat er auch die Greencard zum dauerhaften Aufenthalt in den USA erhalten.

Dabei ist das von Gülen propagierte Konzept von der Unterwanderung staatlicher Institutionen längst aufgegangen. »Die Gülen-Bewegung: dritte Kraft der Türkei« titelte das in London erscheinende sicherheitspolitische Jane’s Defence Weekly Magazin am 29. Januar 2009. Neben der Armee und der AKP sei die Gülen-Bewegung die dritte Kraft im Lande, der viele Abgeordnete und Tausende Beamte des mittleren Dienstes ebenso angehören wie hochrangige Staatsfunktionäre. Nachdem Gülen-Anhänger innerhalb der AKP politischen Einfluß erlangt hätten, sei das Ziel der Bewegung nun die ganze Macht im Staat. Insbesondere hat sich die Gülen-Bewegung die Polizei und den Inlandsgeheimdienst als entscheidende Machtinstrumente gesichert. Ein ehemaliger türkischer Innenminister schätzt, daß mittlerweile 70 Prozent der Polizeibeamte Fethullahci sind.

Verfolgung Andersdenkender

Gegen Frauen, Linke, Gewerkschafter und Kommunisten: 70 Prozent

Gegen Frauen, Linke, Gewerkschafter und Kommunisten: 70 Prozent der türkischen Polizeibeamten sollen Anhänger Gülens sein (Demonstration zum Frauentag – Istanbul, 6.3.2005)

Foto: AP

Seitdem offiziell im Namen der von der EU im Beitrittsprozeß geforderten Stärkung der zivilen Strukturen der Bereich »Terrorbekämpfung« von der Armee auf die Polizei übertragen wurde, geht diese geradezu exzessiv gegen alle Kritiker und Konkurrenten der Gülen-Bewegung vor. Kaum eine Woche vergeht, in der es nicht zu Festnahmen von laizistischen Nationalisten und Kemalisten, kurdischen Aktivisten, Kommunisten, Gewerkschaftern oder konkurrierenden Islamisten kommt.

Insbesondere wurden in den letzten zwei Jahren über 100 Militärs, nationalistische Journalisten, Rechtsanwälte, Politiker und Mafiosi unter dem Vorwurf verhaftet, einem nach dem türkischen Nationalmythos Ergenekon genannten geheimen Netzwerk angehört zu haben. Ergenekon, das auch als »der tiefe Staat« bekannt ist, soll für zahlreiche Anschläge wie die Ermordung des armenischen Journalisten Hrant Dink verantwortlich sein und einen Militärputsch gegen die islamische Regierung vorbereitet haben. Während Menschenrechtsaktivisten hofften, die Ergenekon-Ermittlungen könnten die Verwicklungen führender Politiker in die Morde »unbekannter Täter« an 17000 kurdischen Oppositionellen während der 90er Jahre zur Sprache bringen, entpuppte sich das Vorgehen von Polizei und Justiz vor allem als Säuberungsoperation, um diejenigen Elemente innerhalb der Streitkräfte loszuwerden, die der US-Politik kritisch gegenüberstehen. So forderte der verhaftete frühere Generalsekretär des Nationalen Sicherheitsrates, General a.D. Tuncer Kilinc, die Türkei solle aus der NATO austreten und enge Beziehungen mit Rußland und dem Iran suchen. »Bei ihrem Versuch, die Kontrolle über die höheren Ränge der Streitkräfte wiederzugewinnen, stellen sich die USA an die Seite der AKP-Regierung und gegen deren kemalistische Rivalen. Es ist offenkundig, daß die Regierung von Ministerpräsident Recep Erdogan ohne grünes Licht durch die USA und ihre CIA nicht in der Lage gewesen wäre, eine solche Operation durchzuführen«, meint der marxistische Politologe Haluk Gerger in jW vom 6.3.2009.

Statt der nun zunehmend entmachteten laizistisch-kemalistischen Bürokratie, die sich als zu unflexibel bei der Beherrschung des Landes erwiesen hatte, dienen die pro-westlich und wirtschaftlich neoliberal ausgerichteten Islamisten von AKP und Gülen-Bewegung als neue Agenten des Westens. Die kemalistische Hauptopposi­tionspartei, die Republikanische Volkspartei CHP, wirft der AKP inzwischen vor, den Aufbau eines »eigenen tiefen Staates« durch die »F-Typ-Struktur« – gemeint ist die Fethullah-Organisa­tion – zu betreiben.

Kampf gegen PKK

Im Fadenkreuz der Gülen-Bewegung stehen heute insbesondere die kurdischen Landesteile. Zum einen dominiert hier im islamistischen Lager die kurdische Hisbollah, eine sunnitische Terrororganisation, die in den 90ern mit Billigung des Militärs Tausende PKK-Anhänger ermordete und in den letzten Jahren ein weitverzweigtes Netz von legalen Vereinen aufgebaut hat. Gülen warnte bereits vor einer islamistischen Gefahr in Form der Hisbollah, und diese reagierte mit der Drohung, sie könne »die Gülen-Bewegung in der kurdischen Region mit Leichtigkeit auslöschen, wenn es zu einem Kampf zwischen den beiden kommt«.8 Doch das Haupthindernis für die weitere Ausdehnung der Gülen-Bewegung ist die linke kurdische Freiheitsbewegung. So bezeichnete PKK-Führer Murat Karayilan in einem Interview mit Hasan Cemal von der kemalistischen Milliyet die Arbeiterpartei Kurdistans als »Wächterin des Säkularismus« in den kurdischen Landesteilen der Türkei. »Stellen wir uns einmal vor, es gäbe die PKK nicht mehr. Der Südosten würde zum Zentrum des islamischen Fundamentalismus werden.«9

Gülens vielgerühmte Toleranz stößt nicht nur bei Atheisten und Kommunisten, sondern auch bei Kurden und Aleviten schnell an ihre Grenzen. »Wenn diese Mitbürger sich als Türken fühlen, gibt es nichts, was uns trennen könnte«, weist Gülen deren Forderungen nach Anerkennung ihrer Rechte zurück.10 Die jetzt vom türkischen Religionsministerium besorgte Übersetzung des Koran in die kurdische Sprache ist das beste Symbol für die von Gülen vorgesehene »Lösung« der kurdischen Frage. Anstatt die kurdische Identität offiziell anzuerkennen, sollen die mehrheitlich muslimischen Kurden bei minimalen kulturellen Zugeständnissen im Namen des Islam an den türkischen Staat gebunden werden. Statt der gescheiterten Zwangstürkisierung durch die aggressive Kriegführung der Kemalisten, die zur Stärkung der PKK geführt hat, stehen Gülen und die AKP für eine effektivere Assimilierungspolitik, die auf die Herstellung kultureller Hegemonie setzt. »Gülen versucht, die Kurden zu assimilieren, indem er die osmanische Ideologie in seinen Schulen betont, damit sich viele Kurden so mehr als osmanische Türken und weniger als Kurden verstehen«, schreibt Aland Mizell, ein kurdischstämmiger Rechtswissenschaftler an der Universität von Texas.11

Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum der als Gülen-Anhänger geltende türkische Staatspräsident Abdullah Gül zwar jetzt öffentlich die Lösung der kurdischen Frage anmahnt, aber gleichzeitig die Polizei Hunderte Anhänger der bei den Kommunalwahlen im März zur stärksten Kraft in den kurdischen Landesteilen gewordenen Partei für eine Demokratische Gesellschaft DTP verhaftet. Die von der DTP vertretene Politik von Frauenemanzipation und Basisdemokratie steht Gülens reaktionärer Weltanschauung schließlich konträr entgegen.

Zur Aufhetzung der Bevölkerung gegen die kurdische Bewegung dient auch die beliebte Fernsehserie »Tek Türkiye« (Nur ein Türke) in dem zur Gülen-Bewegung gehörenden Privatsender »Samanyolu«. Hier versucht ein Türkischlehrer, ein kurdisches Dorf zu modernisieren, in dem die als rückständig geschilderten Bauern unter dem Joch gottloser, schweine­fleischessender PKK-Anhänger stehen.

Schachbrettfigur der USA

Nach dem Ende der Sowjetunion gründete die Gülen-Bewegung zahlreiche Schulen und Wirtschaftsunternehmen in den zentralasiatischen Turkrepubliken Aserbaidschan, Turkmenistan, Usbekistan, Kasachstan und Kirgistan ebenso wie in Georgien und Rußland. Staatspräsident Süleyman Demirel bat damals seine Kollegen in den ehemaligen Sowjetrepubliken mit einem offiziellen Referenzschreiben um Unterstützung für die Schulen der Gülen-Bewegung.

Doch nicht nur die türkische politische Elite sieht in den Gülen-Unternehmungen ein Mittel zur kulturellen und wirtschaftlichen Durchdringung der aufgrund ihres Öl- und Gasreichtums bedeutsamen Kaukasus-Region. »Diese Schulen dienen offenbar CIA- und US-State-Department-Mitarbeitern als Front für geheime Operationen in dieser Region, wobei viele der Lehrer mit Diplomatenpässen operieren«, schreibt die ehemalige FBI-Angestellte Sibel Edmonds. »Die US-Regierung benutzt die Türkei als Stellvertreterin, um Einfluß über Zentralasien mit Hilfe des pantürkischen Nationalismus und der Religion zu erlangen.«12

Auch der Direktor des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB, Nikolai Patrushev, warnte bereits im Jahr 2002, die Unternehmen und Stiftungen der Nurcu-Bruderschaft dienten als Tarnorganisationen der CIA und betrieben antirussische Aktivitäten durch die Verbreitung pantürkischer Propaganda. Nach der Schließung der russischen Gülen-Schulen wurden im Frühjahr 2008 auch alle weiteren Aktivitäten der Nurcu-Bruderschaft vom Obersten Gerichtshof des Landes verboten, da diese »fundamentalistische Gruppe« »religiösen Separatismus« in den mehrheitlich islamisch besiedelten Gebieten ermutige.13 Auch in Usbekistan wurden die Schulen der Gülen-Bewegung geschlossen. Im Februar 2009 wurden in Buchara elf Gülen-Anhänger zu Haftstrafen bis zu acht Jahren wegen »destruktiver Aktivitäten« und »religiöser Propaganda« verurteilt. Das staatliche usbekische Fernsehen beschuldigte die Gülen-Bewegung der Zerstörung der usbekischen Kultur durch Propagierung des Pantürkismus.14

Selbst in der kurdischen Autonomieregion im Nordirak hat die Gülen-Bewegung mit Unterstützung der regierenden kurdischen Parteien, deren Führer Mesud Barsani und Jalal Talabani ebenso wie Gülen der islamischen Nakschibandi-Bruderschaft angehören, bereits 15 Schulen und eine Universität eröffnet. In diesen wird in türkischer und englischer Sprache unterrichtet, und die Schüler – darunter Söhne hochrangiger kurdischer Parteifunktionäre – singen zu Unterrichtsbeginn die türkische Nationalhymne.

Fethullah Gülen ist kein türkischer Ajatollah Khomeini, wie viele Kemalisten befürchten. Es geht Gülen vielmehr um ein neo-osmanisches Hegemonieprojekt als Ordnungsmacht in der geopolitisch wichtigen Region zwischen Balkan, arabischer Welt, russischer Grenze und chinesischer Mauer. Keine unrealistische Vorstellung, meint George Friedman, Gründer der in Austin/Texas beheimateten geopolitischen Denkfabrik Stratfor. Wenn sich die islamische Welt organisiert, werde die Türkei an der Spitze stehen, »wie sie das seit fünfhundert Jahren getan hat«, schreibt der konservative Analytiker in seinem kürzlich veröffentlichten Bestseller »Die nächsten 100 Jahre«.15

1 Vgl. Defendants’ Response in Opposition to Plaintiff’s Motion for Summary Judgement, filed 18 June 2008 with the US District Court for the Eastern District of Pennsylvania

2 29. Mai 2004: »Wie sollen wir uns verhalten, wenn darauf hingewiesen wird, daß moderne Wissenschaft und wissenschaftliche Fakten mit dem Koran übereinstimmen?« de.fgulen.com/content/view/27/6/

3 Wendy Kristianasen: Die vielen Gesichter des Islam in der Türkei, Le Monde Diplomatique vom 11.7.1997

4 Vgl. Sabah vom 22.6.1999

5 Vgl. Today’s Zaman vom 1.4.2009

6 Vgl. Cumhuriyet vom 7.8.2008

7 Zitiert nach: Kozmopolit – Deutsch-türkisches On­linemagazin, Nr 9, Juni 2003; www.kozmopolit.com

8 www.hurseda.com, 19.4.2009

9 Milliyet vom 8.5.2009

10 Milliyet vom 13.1.2005

11 Aland Mizell: Gülen’s new decree for the Kurdish problem in Southeastern Turkey: Steal the mind, leave the body, www.kurdishmedia.com, 6.1.2008

12 Sibel Edmonds: Court Documents Shed Light on CIA Illegal Operations in Central Asia, 11.7.2008, letsibeledmondsspeak.blogspot.com

13 CNN Türk vom 10.4.2008

14 Milliyet vom 21.2.2009

15 George Friedman: Die nächsten 100 Jahre – Die Weltordnung der Zukunft, Frankfurt/Main 2009