Junge Welt 15.10.2011 / Geschichte / Seite 15

Notstandsrecht

Am 21. Oktober 1916 erschoß der Sozialist Friedrich Adler den österreichischen Ministerpräsidenten Graf von Stürgkh

Von Nick Brauns

 

Am 21. Oktober 1916 speiste der Ministerpräsident von Österreich-Ungarn, Karl Graf von Stürgkh, wie gewöhnlich im Restaurant Meißl & Schaden am Neuen Markt in Wien. Als keine anderen Gäste mehr in der Nähe waren, erhob sich ein zwei Tische entfernt sitzender Mann, trat auf Stürghk zu, zog einen Revolver aus seiner Tasche und gab aus nächster Nähe mehrere Schüsse ab. Der Ministerpräsident, der seit dem Frühjahr 1914 das Land mit einem absolutistischen Notverordnungsregime unter Ausschaltung des Parlaments mit rigider Pressezensur und Versammlungsverboten regiert hatte, war sofort tot. Sein Attentäter wurde noch am Tatort verhaftet. Es handelte sich um Friedrich Adler, den Sohn des Gründers der österreichischen Sozialdemokratie Victor Adler.

Als erklärter Internationalist hatte der Schriftsteller und Naturwissenschaftler die im Verein »Karl Marx« zusammengeschlossene Opposition gegen die auch von seinem Vater betriebene Burgfriedenspolitik des Parteivorstandes im Kriege angeführt. Im Manifest »Die Internationalen in Österreich an die Internationalen aller Länder« hatte Adler im Dezember 1915 für einen Frieden ohne Annexion und Kontribution und einen revolutionären Antimilitarismus plädiert.

Tribunal gegen den Krieg

Im Parteivorstand der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs, den er am Tag vor dem Attentat abermals aufgrund der nationalistischen Politik hart attackiert hatte, war Adler mit dieser Linie völlig isoliert. Aus Furcht vor Repressalien distanzierte sich die Parteiführung sofort von Adler, den sie als Geisteskranken zu diffamieren suchte. »Der ganzen sozialistischen Ideenwelt fremd und unbegreiflich« nannte der Chefredakteur der Arbeiter-Zeitung, Friedrich Austerlitz, die Tat. Adler folge im »Fanatismus der Selbstzerstörung« einem Wahne.

Im Herbst 1916 bereiteten sich die Herrschenden angesichts einer an den Rand des Zusammenbruchs führenden Niederlage an der Ostfront, Rohstoff- und Lebensmittelknappheit, brodelnder Unzufriedenheit unter der Industriearbeiterschaft und einem zunehmenden Aufbrechen der Nationalitätenkonflikte im Reich auf eine Abkehr vom Kriegsabsolutismus vor. Die realistischere Fraktion des Kapitals erkannte die Notwendigkeit, den Krieg notfalls auf Basis eines Separatfriedens zu beenden und innenpolitisch durch Zugeständnisse an die Arbeiterbewegung das Aufbrechen einer revolutionären Krise zu verhindern. »Stürghk als Repräsentant des nicht mehr den neuen Erfordernissen entsprechenden Diktatursystems wäre auch ohne Friedrich Adlers Ak­tion früher oder später in der politischen Versenkung verschwunden«, zeigt sich der Wiener Historiker Hans Hautmann überzeugt, »das Attentat wirkte auf den Vorgang der Weichenstellung in Richtung flexiblerer Herrschaftsmethoden lediglich beschleunigend.« Unter Stürghks Nachfolger Ernest von Koerber wurden die außerordentlichen Machtbefugnisse des Militärs auf dem Gebiet der zivilen öffentlichen Gewalt und Justiz zurückgenommen, der Arbeiterbewegung öffentliche Versammlungen gestattet und das Parlament im Mai 1917 erstmals wieder einberufen.

Ab Januar 1917 begann in der österreichischen Industrie eine von Hungerdemonstrationen begleitete Streikwelle, die Ende Mai ihren Höhepunkt mit dem Streik von 42 000 Metallarbeitern in Wien erreichte. In dieser Phase eines auch unter dem Eindruck der russischen Revolution zusätzlich befeuerten Aufschwungs der Klassenkämpfe stand Adler am 18. Mai vor einem Wiener Ausnahmegericht. Der Angeklagte wandelte den Attentatsprozeß zu einem flammenden Tribunal gegen den imperialistischen Krieg, die absolutistische Herrschaft in Österreich und den rechten Flügel seiner eigenen Partei um. Da die Justiz in Österreich als Organ einer »verbrecherischen Regierung« eine »Kriegsmaschine im Inland« sei, bestritt Adler die Legitimation des Gerichtshofes. Gegen die Prozeßtaktik seines Verteidigers, der auf »Unzurechnungsfähigkeit« eines »erblich belasteten Fanatikers« plädierte, bekannte sich Adler dazu, die Tat im Bewußtsein begangen und damit sein Leben abgeschlossen zu haben. »Ich bin Zeit meines Lebens ein Revolutionär gewesen. Ich habe die Tagespolitik als ein Mittel der Revolution aufgefaßt und nicht die Revolution als eine Phrase der Tagespolitik In einem geordneten Staatswesen könne »Mord kein politisches Kampfmittel« sein. Doch in Österreich habe es einen »offenen Staatsstreich« gegen die Verfassungsmäßigkeit mit der Abschaffung aller Rechtsgarantien gegeben. Gegen diesen von der Regierung verschuldeten Notstand sei jeder Staatsbürger berechtigt, sich sein Recht selbst zu verschaffen.

Kein Liebknecht

War das Attentat anfangs auch innerhalb der Sozialdemokratie vielfach auf Unverständnis und offene Ablehnung gestoßen, so stand jetzt die Partei geschlossen hinter Adler. Auch Austerlitz rühmte ihn nun in der Arbeiter-Zeitung als »Märtyrer seiner Überzeugung«, der sich »in aufrechter Tapferkeit« eingesetzt habe, um »der Sozialdemokratie zu dienen«. »Kein anderes Ereignis hat auf die Entfaltung der revolutionären Bewegung in Österreich einen so nachhaltigen Eindruck gemacht wie der Prozeß gegen Friedrich Adler«, erinnert sich der spätere Führer der sozialdemokratischen Wehrorganisation Schutzbund, Julius Deutsch. »Er weckte das Gewissen der noch im Kriegsrausch Befangenen und entzündete den Kampfesmut des Proletariats

Adler wurde zum Tod durch den Strang verurteilt, doch unter dem Druck der öffentlichen Meinung wandelte der Oberste Gerichtshof das Todesurteil in 18 Jahre Kerkerhaft um. Unmittelbar vor dem Zusammenbruch der Habsburger-Monarchie wurde Adler nach einem Amnestieantrag der Sozialdemokratie für antimilitaristische Delikte von Kaiser Karl begnadigt und am 1. November 1918 im kaiserlichen Dienstwagen aus dem Zuchthaus abgeholt. Zu diesem Zeitpunkt war der konsequente Antimilitarist der populärste Mann der österreichischen Sozialdemokratie. Die im November 1918 neugegründete Kommunistische Partei Österreichs bot ihm daher den Parteivorsitz an, doch Adler wies dieses Ansinnen zurück, da er die Abspaltung der Kommunisten als Schwächung der Arbeiterbewegung verstand. Im Januar 1919 wurde Adler zum Vorsitzenden der Wiener Arbeiterräte und ab März zum Vorsitzenden des österreichweiten Reichsarbeiterrates gewählt. In dieser Funktion sprach sich Adler vehement gegen die Errichtung einer Räterepublik nach sowjetischem Vorbild aus, da er einer isolierten Rätemacht in Österreich keine Überlebenschance einräumte. »Friedrich Adler hatte dadurch entscheidenden Anteil daran, daß die Sozialdemokratie die Bewegung der Arbeiterklasse blieb und linksradikale Strömungen in Österreich keinen bestimmenden Einfluß erlangen konnten«, wird Adler noch heute im Weblexikon der Wiener Sozialdemokratie gefeiert. Darin unterschied sich Adler, der lieber zum Attentäter wurde als für die Abspaltung der entschiedenen Antimilitaristen von der Sozialdemokratie einzutreten, von seinem deutschen Gesinnungsgenossen Karl Liebknecht, mit dem er zuvor von Lenin mehrfach in einem Zug genannt worden war.

 

Quelle: Lenin über das Attentat auf Stürghk

Killing is no murder«, schrieb unsere alte Iskra über Attentate, wir sind gar nicht gegen politischen Mord (es ist einfach niederträchtig, was die Opportunisten, Vorwärts und die Wiener Arbeiter-Zeitung in diesem Sinne Lakaienhaftes schreiben), aber als revolutionäre Taktik sind die individuellen Attentate unzweckmäßig und schädlich. Nur Massenbewegung kann als wirklicher politischer Kampf angesehen werden. Nur im direkten, unmittelbaren Zusammenhange mit der Massenbewegung kann und muß auch individuelles terroristisches Handeln von Nutzen sein. (...) Adler würde viel mehr Nutzen der revolutionären Bewegung bringen, wenn er, ohne Spaltung zu befürchten, systematisch zu illegaler Propaganda und Aktion überginge. (...) Bitte teilen Sie uns auch mit, inwieweit es wahr wäre, Adlers Tat als Verzweiflungstat anzusehen? Ich glaube, politisch ist es so. Er verzweifelte an der Partei, konnte es nicht ertragen, daß mit dieser Partei zu arbeiten unmöglich ist, daß mit Victor Adler zu arbeiten unmöglich ist, er konnte sich nicht mit der Idee der Spaltung versöhnen, die schwere Arbeit der Tätigkeit gegen die Partei auf sich nehmen. Und aus Verzweiflung – Attentat. (...) Wir aber, die Revolutionäre, wir dürfen nicht verzweifeln. Wir fürchten nicht die Spaltung. Im Gegenteil: Wir erkennen die Notwendigkeit der Spaltung, wir erklären den Massen, warum Spaltung kommen muß und soll, wir rufen zur Arbeit gegen die alte Partei, zum revolutionären Massenkampf

(Brief an Franz Koritschoner, 25. 10. 1916, Lenin Briefe Bd. IV, S. 309 f.
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