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Aus: junge Welt Ausgabe vom 18.04.2015, Seite 15 / Geschichte

Kampf um Gallipoli

Vor 100 Jahren scheiterte die Entente mit der Eroberung der türkischen Meerengen

Von Nick Brauns

Oberst Mustafa Kemals türkische Division täuschte die britischen

Oberst Mustafa Kemals türkische Division täuschte die britischen Truppen und konnte so einen Sieg erringen (zeitgenössische deutsche Propagandapostkarte)

Foto: jW Archiv/ privat

Mit der Beschießung russischer Schwarzmeerhäfen war das Osmanische Reich Ende Oktober 1914 auf die Seite der »Mittelmächte«, Deutsches Kaiserreich und Österreich-Ungarn, in den Ersten Weltkrieg eingetreten. Ein Bündnisvertrag sicherte der deutschen Militärmission weitreichende Vollmachten über die osmanische Armee. Für die um Großbritannien, Frankreich und Russland gebildete Triple Entente war damit der durch Bosporus, Marmarameer und Dardanellen verlaufende Seeweg zum Schwarzen Meer für dringend benötigte russische Getreide- und Rohstofflieferungen wie auch für Waffenlieferungen an die zaristische Armee blockiert. In einem geheimen Abkommen sicherten Großbritannien und Frankreich zu, Russland – im Fall eines Sieges über das Osmanische Reich – Konstantinopel und die Meerengen zu überlassen. Im Gegenzug wurde die Aufteilung des Osmanischen Reichs vereinbart: Die zaristische Regierung sollte die »besonderen Rechte« der beiden Großmächte auf die asiatische Türkei anerkennen. Bei der Entente bestand zudem die Hoffnung, die neutralen Staaten Griechenland und Bulgarien bei einem Angriff auf das Osmanische Reich zum Kriegseintritt auf ihrer Seite bewegen zu können.

Unter Leitung deutscher Spezialisten waren die Meerengen zwischen Mittelmeer und Schwarzem Meer mit Krupp-Kanonen gesichert worden. Diese Befestigungen bestanden ihre Bewährungsprobe, als ihr Sperrfeuer am 18. März 1915 einen Durchbruchsversuch eines anglo-französischen Flottenverbands verhinderte. Drei Kriegsschiffe sanken, und vier weitere wurden schwer beschädigt, als sie auf dem Rückzug in ein Minenfeld gerieten. Winston Churchill musste nach der verlustreichen Flottenoperation als britischer Marineminister zurücktreten. Nun wurde unter dem Oberbefehl von General Lord Ian Hamilton eine über 80.000 Mann starke alliierte Landungsarmee zur Eroberung der Halbinsel Gallipoli (auf der Westseite der Dardanellen) und des gegenüberliegenden asiatischen Küstenabschnitts aufgestellt. Ihnen gegenüber standen 84.000 Mann der 5. Osmanischen Armee unter dem Oberbefehl des Chefs der deutschen Militärmission General Liman von Sanders.

»Weg ins Paradies«

Die Invasion mit über 200 Kriegs- und Transportschiffen begann im Morgengrauen des 25. April mit massivem Beschuss der Küstenlinie. Während französische Truppen einen Ablenkungsangriff auf der asiatischen Seite begannen, gelang es britischen Eliteeinheiten, sich an der Südspitze von Gallipoli festzusetzen. Die aus australischen und neuseeländischen Freiwilligen gebildeten ANZAC-Truppen landeten an der Arı-Burnu-Bucht im Westen der Halbinsel. Angesichts der Gefahr, dass sie die dünnen Sicherungslinien durchstoßen und ins Landesinnere vordringen könnten, kam der von Oberst Mustafa Kemal geführten 19. Division, die als Reserve bei Maydos stand, eine Schlüsselrolle zu.

Ohne Befehle seines Vorgesetzten abzuwarten, ließ er seine Soldaten aufbrechen, um die Höhenzüge hinter der Bucht zu sichern. Fliehende Soldaten einer Erkundungskompanie berichteten, dass die Briten bereits den höchsten Punkt dort unter ihrer Kontrolle hatten. Der Oberst befahl diesen Soldaten, da sie keine Munition mehr hatten, ihre Bajonette aufzupflanzen und sich bis zum Eintreffen von Verstärkung hinzulegen. »Als meine Soldaten sich hinwarfen, legten sich auch die feindlichen Truppen hin«, berichtete Mustafa Kemal. »Das war der Augenblick, der uns das Gefecht gewinnen ließ Denn während die ANZAC-Kräfte aufgrund dieses Täuschungsmanövers ihren weiteren Vormarsch verzögerten, traf ein osmanisches Infanterieregiment mit Gebirgsartillerie als Verstärkung ein.

Mit 20.000 Mann Landungstruppen begannen die Alliierten am 8. August 1915 oberhalb der Arı-Burnu-Bucht bei Anafarta eine neue Offensive. Der Vorstoß scheiterte trotz massiver zahlenmäßiger Überlegenheit der Angreifer an der Unentschlossenheit des britischen Befehlshabers. Mustafa Kemal führte am 10. August mit den legendären Worten »Ich befehle euch nicht anzugreifen, sondern ich befehle euch zu sterben persönlich eine Gegenoffensive an, mit der die Invasoren im Nahkampf an die Küste zurückgedrängt wurden. »Gott sei Dank sind meine Soldaten mutiger und stärker als der Feind. Außerdem vereinfacht ihr religiöser Glaube das Befolgen meiner Befehle, die ihnen den Tod bringen«, gestand er seiner Vertrauten Corinne Lütfü in einem Brief das Geheimnis des Erfolgs seiner unter Hunger und Hitze leidenden Männer. »Schließlich gibt es für sie zwei Möglichkeiten: ein Gazi (Verwundeter im Heiligen Krieg) zu sein oder ein Sehit (Märtyrer im Heiligen Krieg). Wissen Sie, was letzteres bedeutet? Den direkten Weg in Paradies. Dort werden sie von den schönsten Jungfrauen Gottes empfangen, die ihnen für immer zur Verfügung stehen werden

Nachdem sich der britische Kriegsminister Lord Herbert Kitchener im November vor Ort von der Ausweglosigkeit der Lage überzeugt hatte, wurde der Rückzug des Expeditionskorps angeordnet. Die am 18. Dezember eingeleitete und aufgrund schlechter Wetterverhältnisse von der türkischen Seite erst nach zwei Tagen registrierte Evakuierung war die erfolgreichste Phase der ansonsten misslungenen Operation. Die Dardanellenschlacht hatte rund 60.000 osmanischen Soldaten das Leben gekostet, über 150.000 waren verwundet worden. Die Alliierten zählten 44.000 Gefallene und über 90.000 Verwundete.

»Retter der Hauptstadt«

Nach Einschätzung britischer Militärs hatte Mustafa Kemal den Sieg der Entente fast im Alleingang vereitelt. »Wenn jener Offizier am 25. April die Lage nicht richtig erkannt hätte, hätten die ANZAC-Kräfte schon am ersten Tag der Invasion einen Erfolg erzielen können Der Oberst wurde im Volk als »Sieger von Anafarta« und »Retter der Hauptstadt« gefeiert. Da seiner Überzeugung nach der Pakt mit dem wilhelminischen Militarismus zum Verhängnis führen würde, da die Deutschen den Krieg nicht gewinnen können, plädierte Mustafa Kemal für einen Separatfrieden mit den Alliierten. Beim größenwahnsinnigen Kriegsminister Enver Pascha stieß derartige Kritik auf taube Ohren. Das Jungtürkenregime setzte auf die Realisierung eigener Eroberungspläne für ein Großreich aller Turkvölker, während die Kriegssituation zur ungestörten Vernichtung der christlichen Armenier als vermeintlich innerer Gegner genutzt wurde.

Bei Gallipoli hatte der spätere Gründer der türkischen Republik Mustafa Kemal »Atatürk« (Vater der Türken) den Grundstein für seinen militärischen Ruhm gelegt. Möglich war dies – wie der DDR-Historiker Johannes Glasneck in einer Atatürk-Biographie betonte –, weil Mustafa Kemal ein »Rebell gegen die herrschende Ordnung der Türkei« blieb, der nicht den blinden Gehorsam seiner preußisch-deutschen Waffenbrüder teilte, die die Welt zu ihrem Exerzierplatz machen wollten.

 

Quellentext: General Liman von Sanders über die Bedeutung des Gallipolifeldzugs

Eine der ersten Ursachen des Weltkrieges ist das Streben Russlands nach dem Besitz von Konstantinopel und der Meerengen. Nachdem die Fackel des Krieges auf dem Balkan entzündet war, hatten England und Frankreich das dringende Interesse, durch die Dardanellen und den Bosporus eine kurze und direkte Verbindung mit ihrem mächtigen Verbündeten Russland zu gewinnen. Nur dann konnten die ungeheuren Hilfsmittel Russlands an Menschen, Getreide und Erzen für die Entente nutzbar gemacht, nur dann konnte Russland von der Entente beliebig mit Kriegsmaterial versorgt werden. Gelang es der Entente, die Meerengen und Konstantinopel in Besitz zu nehmen, so war die Türkei von Deutschland und Österreich-Ungarn abgesprengt! Der hohe Preis, der in Aussicht stand, bildet die Erklärung dafür, dass England, unter beschränkter Hilfe von Frankreich, Hunderttausende seiner Soldaten zu der großen Offensive auf der Halbinsel Gallipoli einsetzte. (…) Der Entente war die direkte Verbindung zu Russland verwehrt geblieben. So konnte Russland später der Revolution anheimfallen. Die Türkei aber war nicht abgesprengt worden und konnte an der Seite der Mittelmächte weiterkämpfen! Dies ist die weltgeschichtliche Bedeutung des Gallipolifeldzugs. Der Versuch, die Dardanellen und Konstantinopel zu gewinnen, ist von der Entente nicht mehr erneuert worden, bis der Waffenstillstand ihr beide kampflos überließ.

Quelle: www.stahlgewitter.com/erlebnisberichte/sanders.htm