Gegen eine Stimme!

Vor 100 Jahren votierte der Sozialist Karl Liebknecht als einziger Reichstagsabgeordneter gegen die Kriegskredite. Sein Nein wurde zum Fanal für den Kampf um Frieden

 

Von Nick Brauns

Am 2. Dezember 1914 hatte das deutsche Parlament über einen zweiten von der Reichsregierung geforderten Kredit in Höhe von fünf Milliarden Reichsmark zur Finanzierung der Kosten des Krieges zu beschließen. Reichstagspräsident Johannes Kaempf eröffnete um 16.19 Uhr die Beratungen. Als erster Redner beschwor Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg die »Einheit der Nation« und den »Heroismus« des deutschen Volkes. Doch noch sei Deutschland nicht am Ende der Opfer angelangt, rechtfertigte er die weiteren Milliardenforderungen. Reichskanzleichef Arnold Wahnschaffe hatte bereits am Tag vor der Abstimmung im Namen des Reichskanzlers einen Telegrammentwurf an den Kaiser formuliert, in dem von Einstimmigkeit des Votums die Rede war. Tatsächlich erklärte der als Vertreter des linken Parteiflügels geltende Kovorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Hugo Haase, dass seine Fraktion weiterhin auf der Position des 4. August stehe und die geforderten Kredite bewilligen werde. Im amtlichen Protokoll der Reichstagssitzung heißt es dann: »Präsident Dr. Kaempf: Wir kommen nunmehr zur Gesamtabstimmung. Ich bitte die Herren, die in der Gesamtabstimmung in dritter Lesung den Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Feststellung eines zweiten Nachtrags zum Reichshaushaltsetat für das Rechnungsjahr 1914 annehmen wollen, sich von ihren Plätzen zu erheben. (Geschieht. Rufe: ›Einstimmig!‹ – Zuruf: ›Gegen eine Stimme!‹) Es ist, soweit ich sehen kann, einstimmig – mit Ausnahme eines einzigen Abgeordneten. (Stürmische Bravorufe und Händeklatschen.)«

Die eine Gegenstimme kam von Karl Liebknecht. Der Sozialist war seit 1908 Mitglied im Preußischen Abgeordnetenhaus und hatte bei der Reichstagswahl 1912 den »Kaiserwahlkreis« Potsdam-Spandau-Osthavelland für die SPD erobert. Aufgrund intensiver antimilitaristischer Agitation, für die er Ende 1907 mit einer Verurteilung zu eineinhalb Jahren Festungshaft wegen Hochverrat bezahlen musste, hatte sich Liebknecht insbesondere unter der vom Kriegsdienst bedrohten Arbeiterjugend einen Namen gemacht. Seine Gegner fanden sich nicht nur innerhalb der von Liebknecht der Korruption überführten Rüstungslobby des »Kanonenkönigs« Alfred Krupp sondern auch auf dem rechten Flügel seiner eigenen Partei. Schließlich war der sehnlichste Wunsch von Abgeordneten wie Eduard David, einem Befürworter »sozialistischer Kolonialpolitik«, und Gustav Noske, der sich bereits 1907 für die »Wehrhaftigkeit« des Reiches aussprach, das Verdikt der »vaterlandslosen Gesellen« abzuwerfen, um endlich im preußisch-deutschen Kaiserreich anzukommen.

Der 43jährige Rechtsanwalt Liebknecht befand sich mit seiner Gegnerschaft zu Militarismus und Eroberungskriegen in bester Familientradition. Schon sein Vater Wilhelm, ein Mitbegründer der sozialdemokratischen Partei, hatte 44 Jahre zuvor während des Deutsch-Französischen Krieges im Reichstag des Norddeutschen Bundes gegen die Kriegskredite gestimmt und diese internationalistische Haltung mit Haft bezahlt.

Hintergründe des 4. August

»Mit Zähneknirschen« hatte sich Karl Liebknecht am 4. August 1914 der Fraktionsdisziplin gebeugt, als die Reichstagsfraktion der SPD unter Bruch ihres antimilitaristischen Diktums »Diesem System keinen Mann und keinen Groschen« für die Kriegskredite gestimmt und ihr Fraktionssprecher erklärt hatte, »in der Stunde der Gefahr das Vaterland nicht im Stich« zu lassen. »Ich habe das selbst von Anfang an aufs tiefste bedauert u. bin bereit, mir jeden Vorwurf deswegen gefallen zu lassen«, gestand Liebknecht später ein. Zwar hatten sich auf der dieser Abstimmung vorangegangenen Fraktionssitzung außer Liebknecht 13 weitere Abgeordnete gegen die Kriegskredite ausgesprochen – bei 78 Jastimmen. Doch die anderen Kriegsgegner waren nicht bereit, sich offen gegen die sonst vom linken Parteiflügel gegen rechte Abweichler beschworene Fraktionsdisziplin zu stellen. »Mich ganz allein von meinen engsten Freunden aus dem radikalen Lager zu trennen schien mir damals nicht angezeigt – niemand konnte sich ja diesen Verfall der Partei vorausahnen«, rechtfertigte sich Liebknecht, der angesichts der mit Ja votierenden Sozialdemokraten auf einen »Einzelfall der Verwirrung« der Fraktionsmehrheit unter äußerem Druck gehofft hatte.

Zu diesem Zeitpunkt übersah Liebknecht noch nicht den Zusammenhang zwischen Imperialismus und Opportunismus innerhalb der Arbeiterbewegung. Er erkannte noch nicht die Rolle der zentristischen – verbalradikalen, in Taten aber zahnlosen – Strömung, die die Mehrheit des linken Parteiflügels bildete. Dies mag im Rückblick überraschen. Doch auch der Führer der russischen Bolschewiki, Wladimir Iljitsch Lenin, der sich seit langem intensiv mit der Entwicklung des Revisionismus in der Arbeiterbewegung befasst hatte, glaubte noch an einen Übersetzungsfehler, als er nach dem 4. August im Schweizer Exil in der Zeitung von der einhelligen Zustimmung der SPD-Fraktion zu den Kriegskrediten las.

Sein Auftreten gegen die Burg- und Parteifriedenspolitik der SPD-Führung brachte den bislang eher als Einzelkämpfer auf parlamentarischer Ebene aktiven Liebknecht mit Rosa Luxemburg in direkten Kontakt. Die marxistische Theoretikerin sowie Franz Mehring, Clara Zetkin und andere Vertreter des zu diesem Zeitpunkt noch nicht in einem festen Zusammenhang stehenden internationalistischen Parteiflügels wurden von nun an seine engen Mitkämpfer. Im September reiste Liebknecht in das von deutschen Truppen besetzte Belgien, wo er sich über deutsche Kriegsverbrechen informierte, und anschliessend in die Niederlande, um die dortigen Sozialisten über die Vorgänge in der deutschen Sozialdemokratie zu informieren. »Die Internationale ist trotz allem für mich noch kein leerer Wahn. Die holländischen und nicht minder die belgischen Genossen sind für mich auch heute noch Genossen, Freunde, Brüder«, rechtfertigte sich Liebknecht gegenüber dem seine Reise missbilligenden SPD-Vorstand.

Novemberthesen

Am 12. November kündigte das Parteiorgan Vorwärts die diskussionslose Annahme der nächsten Kriegskreditvorlage an. Um dennoch möglichst viele Parlamentarier für ein ablehnendes Votum zu gewinnen, arbeitete Liebknecht für die Fraktionssitzung vom 29. November Thesen zum Charakter und den Triebkräften des Krieges aus, die er an die Fraktionsminderheit vom August und einige weitere Abgeordnete übersandte.

Die Novemberthesen beginnen mit der Feststellung, dass das Deutsche Reich der »Hauptträger« des als Wesenszug des Imperialismus geltenden wirtschaftlichen und politischen Expansionsstrebens in Kontinentaleuropa sei, das zu immer stärkeren politischen Spannungen geführt habe. »Es handelt sich um einen imperialistischen Krieg reinsten Wassers, und zwar vor allem auf deutscher Seite, mit dem von mächtigsten Kreisen beharrlich verfolgten Ziel von Eroberungen großen Stils Die deutsche Schwerindustrie ziele auf Bodenschätze und Industrieanlagen in Belgien und Lothringen, das Finanzkapital auf Siedlungsgebiete in Kleinasien und Syrien. Parallel zum außenpolitischen Rüstungswettlauf erfolgte der innenpolitische Aufstieg einer als Nebenregierung agierenden preußischen »Offizierskamarilla«. Diese »kriegstreibenden Kräfte« würden durch »halbabsolutistische Verfassungszustände« begünstigt, »die die Entscheidung über Krieg und Frieden dem Einfluss der breiten Masse entzogen«. Das angesichts einer rapide anwachsenden Sozialdemokratie um seine Besitzstände fürchtende preußische Landjunkertum habe seit langem nach einem Krieg »als dem einzigen Mittel zur Vernichtung der Arbeiterbewegung« gerufen.

Die Novemberthesen sind einer der frühesten Versuche eines führenden deutschen Sozialisten zur Erfassung der Kriegsursachen. Trotz einiger mechanischer Vereinfachungen hatte Liebknecht die wesentlichen Triebkräfte des Krieges ebenso klar wie dessen imperialistischen Charakter erkannt. Rosa Luxemburg knüpfte daran in ihrer nach ihrer Inhaftierung im Februar 1915 verfassten »Junius«-Broschüre an. Spätere Weltkriegshistoriker wie Fritz Fischer (BRD) und Fritz Klein (DDR) sollten Kernpunkte dieser Analyse Jahrzehnte später bei umfassender Kenntnis der Liebknecht noch unbekannten Dokumente der Geheimdiplomatie, des Generalstabs und der Kriegszieldenkschriften des Großkapitals bestätigen. Was in den Thesen noch fehlte, war die klare Benennung des Opportunismus der SPD-Fraktionsmehrheit und die Erkenntnis der Notwendigkeit organisatorisch mit dieser zu brechen. Auf solche Halbherzigkeiten bezog sich Lenins Feststellung vom Dezember 1914, der Gedanke einer Spaltung der deutschen Sozialdemokratie schrecke selbst die Anhänger des radikalen Parteiflügels wegen seiner »Ungewöhnlichkeit« noch allzu sehr.

Am Abend des 1. Dezembers versammelten sich zehn Vertreter des linken Fraktionsflügels in der Wohnung des Abgeordneten Georg Ledebour. Mehrere Parlamentarier knüpften ihre Bereitschaft zu einem von Liebknecht vorgeschlagenen ablehnenden Separatvotum an die Bedingung, dass sich diesem mindestens 15 Fraktionsmitglieder anschließen müssten. Daraufhin wurde dieser Plan fallengelassen. »Die Besprechung nahm plötzlich ein chaotisches Ende. Meine beträchtlichen Hoffnungen waren zerschlagen«, erinnerte sich Liebknecht. In der Fraktionssitzung, in der die erneute Zustimmung zu Kriegskrediten mit 17 Gegenstimmen beschlossen wurde, versuchten Koparteichef Hugo Haase und der Parteitheoretiker Karl Kautsky vergeblich, Liebknecht von seinem angekündigten Separatvotum abzubringen.

Kein »Zarenversteher«

Dessen »lange, rein doktrinäre Erklärung« sei in der Fraktion mit »erstaunlicher Heiterkeit« zur Kenntnis genommen worden, vermerkte Eduard David in seinem Tagebuch. Im Fraktionsprotokoll wurde Liebknechts Intervention gar nicht erst erwähnt. Ebenso fiel dessen an seinen Novemberthesen orientierte persönliche Erklärung zu seinem abweichenden Stimmverhalten im stenographischen Bericht der Reichstagssitzung der Zensur zum Opfer, da sie – so der Reichstagspräsident – Äußerungen enthalte, »die, wenn sie im Hause gemacht wären, Ordnungsrufe nach sich gezogen haben würden«.

Dienstbeflissen warnte das Pressebüro der SPD die sozialdemokratischen Zeitungen vor strafrechtlichen Folgen bei Abdruck der Erklärung, die allerdings in handschriftlichen Kopien in der Parteibasis kursierte. »Der Krieg ist kein deutscher Verteidigungskrieg«, entlarvte Liebknecht darin die von der SPD-Mehrheit mitgetragene Rechtfertigungslüge der kaiserlichen Regierung. Es handele sich vielmehr um einen »von der deutschen und österreichischen Kriegspartei (...) hervorgerufenen Präventivkrieg«, »einen imperialistischen Krieg, einen Krieg um die kapitalistische Beherrschung des Weltmarktes«. Die auch von Sozialdemokraten aufgrund eines ahistorischen Verständnisses entsprechender Marx- und Bebel-Äußerungen über Russland als Hort der europäischen Konterrevolution vertretene Kriegsparole »Gegen den Zarismus« diene dem Zweck, »für den Völkerhass zu mobilisieren«. Deutschland »der Mitschuldige des Zarismus, das Muster politischer Rückständigkeit« habe keinen »Beruf zum Völkerbefreier«, vielmehr müsse die Befreiung des russischen wie des deutschen Volkes deren eigenes Werk sein.

Diese Warnung vor einer scheinbar fortschrittlichen Maskierung der Kriegshetze war aus Liebknechts Munde umso bedeutsamer. Denn der seit 1912 mit der in Russland geborenen Sozialistin Sophie Ryss verheiratete Liebknecht hatte sich vor dem Krieg wie kein zweiter deutscher Sozialdemokrat um die Solidarität mit russischen Revolutionären verdient gemacht, die vor den Nachstellungen des zaristischen Geheimdienstes nach Deutschland geflohen waren. Keineswegs konnte Liebknecht so als »Zarenversteher« diffamiert werden. Er habe nur gegen die Kriegskredite gestimmt, nicht aber gegen die ebenfalls beschlossenen Notstandskredite, stellte Liebknecht abschließend klar. Deren Höhe sei viel zu niedrig veranschlagt, denn es gelte alles zu unterstützen, »was das harte Los unserer Brüder im Felde, der Verwundeten und Kranken« lindern könne.

Der SPD-Fraktionsvorstand drückte in einer am folgenden Tag im Parteiorgan Vorwärts veröffentlichten Erklärung sein tiefes Bedauern über Liebknechts »entgegen dem alten Brauch der Fraktion« erfolgten Disziplinbruch aus. Der gemeinsame Beschluss der sozialdemokratischen Partei- und Fraktionsvorstände und der Generalkommission der Gewerkschaften, Liebknecht das Vertrauen zur weiteren öffentlichen Ausübung seines Abgeordnetenmandats zu entziehen, stieß auf den Widerspruch der Mehrheit seiner Parteiorganisation im Wahlkreis. Mehrere Abgeordnete des linken Parteiflügels wie Georg Ledebour und Otto Rühle, die sich trotz ihrer Gegnerschaft zum Krieg der Fraktionsdisziplin gebeugt hatten, warfen allerdings Liebknecht aufgrund seines Alleingangs vor, ruhmsüchtig zu sein. Eine Verteidigerin fand Liebknecht dagegen in Rosa Luxemburg, die im Gothaer Volksblatt klarstellte, Parteidisziplin sei lediglich dann ein Mittel, um den Gesamtwillen der Klasse in »geschichtsaktives Handeln« umzusetzen, wenn diese Disziplin durch das Parteiprogramm und die Beschlüsse der Partei geprägt ist. Nicht Liebknecht, der im Sinne des Programms gehandelt habe, sondern die Fraktion, die den Belagerungszustand zur Vergewaltigung des Gesamtwillens der Partei genutzt habe, sei des Disziplinbruches schuldig. Eine Kampagne der nationalistischen Presse bediente sich aller Mittel der Verleumdung, des Lächerlichmachens, der Drohung und Lüge gegen Liebknecht. Um ihn in den Augen seiner Anhänger als Opportunisten zu diskreditieren, verbreitete die Deutsche Tageszeitung die Falschmeldung, Liebknecht habe während seines Belgienbesuchs ein »Hoch auf den deutschen Kaiser« angestimmt.

»Neue Hoffnung«

»Wie einen Schimpf wirft man ihm die Bezeichnung Einzelgänger und Ausländer an den Kopf«, notierte der französische Schriftsteller Romain Rolland in sein Tagebuch und fügte hinzu, »was für ruhmreiche Beinamen werde sie später für ihn sein. »An den Landesverräter in Berlin« adressierte Telegramme wurden ebenso an Liebknechts Wohnadresse zugestellt wie Feldpostkarten mit Beschimpfungen und ein Paket mit einem Strick. Doch auch hunderte zustimmende Briefe von sozialdemokratischen Arbeitern und bürgerlichen Pazifisten, von Soldaten und ihren Müttern aus dem In- und Ausland erreichten Liebknecht. Der Anarchist Erich Mühsam beglückwünschte Liebknecht zur »mannhaften Demonstration im Reichstag«. Die in St. Louis erscheinende deutschsprachige Arbeiter-Zeitung in den USA meldete »das bedeutendste und mächtigste ›Nein‹« in der Geschichte des Reichstages. »Wir haben die Stimme der Internationale wieder vernommen«, schrieb die Vorsitzende der sozialdemokratischen Frauenvereinigung der Niederlande, Heleen Ankersmit, an Liebknecht, »Tausenden und Tausenden unter dem Proletariat aller Länder habt Ihr neue Hoffnung gegeben«.

Liebknechts Nein wirkte als Fanal für den zersplitterten und durch den Schock des 4. August gelähmten linken Flügel der Arbeiterbewegung. Auf Versammlungen und Funktionärskonferenzen in Berlin und Potsdam rechtfertigte Liebknecht sein Handeln. Es seien vor allem junge Leute in den 20ern, die die Mühe der Flugblattverteilung noch nicht scheuten, urteilte der als Koreferent geladene Eduard David über Liebknechts Anhänger auf einer Funktionärskonferenz in Berlin-Charlottenburg, bei denen er »jugendliche Unerfahrenheit und doktrinäre, durch eine ganz einseitige ›Erziehung‹ seitens der radikalen Größen verbissener Geister« wahrzunehmen meinte. »Vor allem aber wollen sie den Frieden haben um jeden Preis«, beklagte der Regierungssozialist in spe und stellte früher als viele Anhänger der Parteilinken fest: »Es ist kein gemeinsamer Boden mehr da«. Blieben diese Leute in der Partei, »so werden sie die ganze Position des 4. August versauen und jeden vernünftigen ferneren Schritt unendlich erschweren oder gar unmöglich machen«.

Liebknechts Nein bedeutete den faktischen Bruch mit der Parteiführung, die sich zu keinem Zeitpunkt inhaltlich mit seinen Vorstellungen auseinandersetze oder eine eigene – von den kaiserlichen Vorgaben abweichende – Analyse der Kriegsursache vorlegte. Wie die linke Opposition fortan zu agieren habe, umrissen Liebknecht, Luxemburg und Mehring in ihrem »Weihnachtsbrief« an die ebenfalls gegen den Krieg agierende Unabhängige Arbeiterpartei in Großbritannien. »Mit den Führern, wenn diese wollen, ohne die Führer, wenn sie untätig bleiben, trotz den Führern, wenn sie widerstehen Untätig blieben die rechtssozialdemokratischen Parteiführer nicht. Sie bemühten sich vielmehr, Liebknechts Möglichkeit zur Nutzung der Reichstagskanzel als Tribüne antimilitaristischer Agitation einzuschränken. Auf einer Fraktionssitzung Anfang Februar 1915 wurde sein Abstimmungsverhalten als »unvereinbar mit den Interessen der deutschen Sozialdemokratie« verurteilt und es wurden ihm faktisch die Rechte eines Fraktionsmitgliedes entzogen. Im blieb damit im Reichstag nur noch das Instrument der kleinen Anfrage zur Entlarvung der kaiserlichen Kriegspolitik.

Auch von Staatsseite wurden Maßnahmen eingeleitet, um die Opposition gegen den Krieg ihrer Führer zu berauben. Es sei zu wünschen, dass »diesem ebenso eitlen wie fanatischen Sonderling das Handwerk gelegt werden«, formulierte der Berliner Polizeipräsident Traugott von Jagow bereits kurz nach der Reichstagssitzung vom 2. Dezember. Und aus der Reichswehr kamen Rufe, »Liebknecht an die Front« zu schicken. Das Oberkommando in den Marken beschloss aufgrund einer allerhöchsten Entscheidung – wie es in einem Dokument heißt – Liebknecht als Bausoldat in ein Arbeiterbataillon »an der Grenze der Monarchie, aber nicht in eine größere Stadt« einzuziehen. Mit dem Gestellungsbefehl unterlag der Abgeordnete ab dem 7. Februar 1915 der Militärgesetzgebung. Damit war ihm jegliche politische Betätigung außerhalb des Parlaments einschließlich des Besuches von Versammlungen, der Agitation und des »Ausstoßens revolutionärer Rufe« unter Strafandrohung verboten. Rosa Luxemburg musste am 18. Februar 1915 wegen eines Aufrufes an Soldaten zur Befehlsverweigerung im Kriegsfall eine einjährige Haftstrafe antreten Doch solche Willkürmaßnahmen der Herrschenden im Bunde mit den rechten SPD-Führern konnten den Formierungsprozess einer konsequenten internationalistischen Antikriegsopposition, die sich im März 1915 mit der Zeitschrift Die Internationale eine erste organisatorische Plattform schuf, nicht stoppen. Liebknecht war zur Symbolfigur dieser Opposition weit über Deutschlands Grenzen hinaus geworden.

Literatur

Karl Liebknecht: Gesammelte Reden und Schriften Band VIII und IX, Berlin 1974

Karl Liebknecht: Eine Biographie in Dokumenten, Berlin 1982

Annelies Laschitza: Die Liebknechts – Karl und Sophie – Politik und Familie, Berlin 2007

Helmut Trotnow: Karl Liebknecht – Eine politische Biographie, Köln 1982

Heinz Wohlgemuth: Karl Liebknecht – Eine Biographie, Berlin 1973

 

Junge Welt 2. Dezember 2014