Aus: junge Welt Ausgabe vom
14.07.2017, Seite 12 / Thema
Gerechter Krieg
Der rein geopolitische Blick verkennt die Dynamik des Volkskrieges in
Nordsyrien
Von Nick Brauns
Im Sommer 1917 musste Lenin aus Russland fliehen, weil
die Provisorische Regierung ihn beschuldigte, als deutscher Agent einen
Aufstand zur Schwächung der russischen Front organisiert zu haben. Hintergrund
des Agentenvorwurfs war die Tatsache, dass Lenin mit Hilfe des deutschen
Generalstabs im plombierten Waggon aus seinem Schweizer Exil nach Russland
gelangt und von der deutschen Regierung zudem mit Geld zur Herausgabe der
kommunistischen Parteipresse ausgestattet worden war. Dieser Pakt zwischen dem
Revolutionär und dem Kaiserreich war zulässig, da Lenin den Deutschen nie etwas
anderes versprochen hatte, als entsprechend seinem Programm im Falle der
Machtübernahme der Bolschewiki Russland aus dem Weltkrieg zurückzuziehen. Der
Generalstab war dabei ein kurzfristiger, taktischer Partner, während die revolutionäre
deutsche Arbeiterbewegung der strategische Verbündete der Bolschewiki blieb.
Heute sehen sich die Kurden in Syrien nicht nur von
Anhängern des in Damaskus herrschenden Baath-Regimes, sondern auch seitens
mancher Linker Vorwürfen der Kollaboration mit einer feindlichen
imperialistischen Macht ausgesetzt, weil sie mit den US-Streitkräften ein
militärisches Bündnis zur Bekämpfung des »Islamischen Staates« (IS) eingegangen
sind. Die Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ würden als Söldner
des US-Imperialismus dessen geopolitisches Ziel einer Zerstückelung Syriens
vorantreiben, lautet der Vorwurf.
Rund 100 Jahre nachdem die imperialistischen Mächte
Großbritannien und Frankreich dem Nahen und Mittleren Osten mit dem
Sykes-Picot-Abkommen seine heutige Gestalt gaben, ist diese durch willkürliche
Grenzziehungen und künstliche Nationalstaatsbildungen auf den Trümmern des
osmanischen Vielvölkerreiches geschaffene Ordnung in Auflösung begriffen. So
versuchen die Großmächte, die verkrusteten Regimes, die sich zunehmend als
Hindernis bei der Durchsetzung von Verwertungsinteressen des internationalen
Kapitals erwiesen und die Aufrechterhaltung der Kontrolle über ihre eigene
Bevölkerung nicht mehr garantieren konnten, durch direkte und indirekte
Interventionen zu überwinden. Diese Erschütterung des Status quo wiederum trägt
zur Freisetzung lange unterdrückter reaktionärer wie auch fortschrittlicher
Kräfte bei.
Auf der einen Seite erfolgte so der Aufschwung
religiöser Strömungen wie der Muslimbruderschaft, des
IS, aber auch der schiitischen Parteien und Milizen. Zum anderen nimmt die
kurdische Freiheitsbewegung um ihren Vordenker Abdullah Öcalan eine
Vorkämpferrolle für die bislang ausgegrenzten ethnischen und religiösen
Minderheiten ein, die unter feudaler und patriarchaler Unterdrückung leidenden
Frauen sowie die revolutionären und demokratischen Kräfte der Region. Denn
gerade die Kurden haben keinen Grund, eine Ordnung zu verteidigen, in der ihnen
seit einem Jahrhundert ein selbständiger Status verwehrt wurde.
So nutzte die kurdische Bewegung das nach Beginn des
syrischen Bürgerkrieges in den kurdischen Siedlungsgebieten entstandene
Machtvakuum, um einen eigenen dritten Weg jenseits des Baath-Regimes, aber auch
der von religiösen und arabisch-nationalistischen Kräften dominierten
Opposition einzuschlagen. Angesichts des Bevölkerungsmosaiks in Syrien
entschied sich die an Öcalans Ideen orientierte syrisch-kurdische Partei PYD
bewusst gegen jedes separatistische oder nationalistische Projekt zugunsten
einer alle Volksgruppen und Glaubensgemeinschaften einschließenden
rätedemokratischen Selbstverwaltung. So sind in den Leitungsorganen der
neugeschaffenen Kantone neben Kurden auch Araber, Turkmenen und syrische
Christen vertreten. Selbst der kurdische Name Rojava
wurde aus Rücksicht auf die anderen Volksgruppen zugunsten der Bezeichnung
Demokratische Föderation Nordsyrien (DFNS) zurückgestellt, die sich laut ihrem
Gesellschaftsvertrag als Teil eines angestrebten demokratischen und föderalen
Syriens versteht.
Im syrischen Bürgerkrieg, den die kurdische Bewegung
als ein Schlachtfeld des im Mittleren Osten begonnenen Dritten Weltkriegs
versteht, ist jede Seite auf Bündnisse angewiesen. So hätte sich das
Baath-Regime ohne die Unterstützung Russlands – einer im Vergleich zu den USA
zwar weniger aggressiven, aber doch imperialistischen Großmacht – und des Iran
als regionaler Vormacht nur schwer halten können. Und die Stadt Kobani wäre ohne das späte Eingreifen der US-Luftwaffe im Winter
2014/15 trotz des heroischen Widerstands der nur leicht bewaffneten YPG-Kämpfer
gefallen. Allerdings bemüht sich die kurdische Bewegung um eine flexible
Bündnispolitik unter Ausnutzung der Widersprüche der Groß- und Regionalmächte.
So wurden taktische Abkommen mit den USA, mit Russland und sogar dem syrischen
Regime geschlossen, um die jeweiligen Truppen als Puffer oder Schutzschild
gegen Angriffe der türkischen Armee auf die Selbstverwaltungskantone zu nutzen.
So überlebensnotwendig diese Form der flexiblen
Bündnispolitik für die Kurden ist, so sehr ist sie auch eine Gratwanderung. Die
Kurden werden durch die aktuelle Kooperation zwischen Russland, Iran und der
Türkei im Rahmen des Astana-Abkommens in eine stärkere einseitige Abhängigkeit
von den USA getrieben. Diese wiederum versuchen, die Kurden in eine
Konfrontation gegen den Iran und seine schiitischen Verbündeten zu bringen.
Hierin liegt ebenso eine Gefahr wie in der wohl über die Rakka-Offensive
hinausgehenden US-Militärpräsenz in Nordsyrien.
Vertreter der kurdischen Freiheitsbewegung betonen
immer wieder, dass das Bündnis mit dem US-Militär rein taktischer Natur sei.
Entsprechende Erklärungen gibt es auch aus Washington, nicht zuletzt zur
Besänftigung der Türkei als strategischem NATO-Partner. Der lediglich taktische
Charakter der Allianz zeigt sich auch daran, dass die USA bislang jede
Teilnahme der PYD an den Genfer Syrien-Friedensgesprächen verhindert haben und
türkische Luftangriffe auf die PKK im Irak durch nachrichtendienstliche
Informationen unterstützten. Eine strategische Zusammenarbeit zwischen den USA
und der kurdischen Freiheitsbewegung ist angesichts der antagonistischen
Ideologien und langfristigen Ziele beider Seiten auch undenkbar. Während die
USA auf die Durchsetzung ihrer kapitalistischen und geopolitischen Interessen
zielen, tritt die kurdische Freiheitsbewegung für die Überwindung der
»kapitalistischen Moderne« durch einen libertären Sozialismus ein.
Die inzwischen mehrheitlich aus arabischen Kämpfern
aus Nordsyrien bestehenden Syrisch-Demokratischen Kräfte (SDK), deren
schlagkräftigster Kern die kurdischen YPG/YPJ sind, agieren zudem keineswegs
als Befehlsempfänger Washingtons, sondern aufgrund fehlender Alternativen der
USA auf dem Boden als deren Partner auf Augenhöhe. So konnten die SDK im
vergangenen Jahr die Befreiung der für eine Absicherung der
Selbstverwaltungskantone wichtigen Stadt Manbidsch
gegen den Willen der US-Regierung durchsetzen, die einen schnellen Angriff auf
die IS-Hauptstadt Rakka priorisiert hatte.
Anders als im Irak, wo die USA nach ihrem Einmarsch
2003 mit Hilfe einheimischer Kollaborateure wie des irakisch-kurdischen
Präsidenten Masud Barsani ihre neoliberale Agenda einschließlich des
Ausverkaufs der Ölfelder an westliche Konzerne durchsetzten, konnte Washington
den Kurden in Nordsyrien bislang keinerlei politische Vorgaben machen. Denn die
USA verfügen derzeit nicht über die Möglichkeit entsprechender Einflussnahme
auf die von Tausenden revolutionären Kadern getragenen
Selbstverwaltungsstrukturen. Der Aufbau dieser Strukturen wird von der
kurdischen Freiheitsbewegung als nachhaltige Strategie zur Veränderung Syriens
und darüber hinaus der Region entsprechend der Realität der Völker verstanden.
Das Völkerrecht, das die Beziehungen zwischen Staaten
regelt, kann dabei für eine revolutionäre Bewegung kein Bezugsrahmen für die
Legitimität ihres Handelns im eigenen Land darstellen. Entscheidend ist aus
historisch-materialistischer Sicht vielmehr der Klassencharakter der
Auseinandersetzung. Gerecht ist laut Lenin ein Kampf dann, wenn er um die
Befreiung, Festigung und Entwicklung der unterdrückten Klassen und ihrer
Interessen geführt wird, die Volksmassen daran beteiligt sind und sie damit
auch im Sinne der Unterdrückten weltweit kämpfen. Diese Kriterien sind beim Kampf
der SDK und mit dem Aufbau der DFNS zweifellos erfüllt. Zu nennen wären hier
der Zusammenschluss der verschiedenen Ethnien und Glaubensgemeinschaften, die
führende Rolle der Frauen und die Teilnahme großer Teile der Bevölkerung an den
bewaffneten Organen ebenso wie an der zivilen rätedemokratischen Verwaltung und
nicht zuletzt die Offenheit des Projektes für die Beteiligung internationaler
fortschrittlicher und kommunistischer Kräfte.
Der rein geopolitische Blick mancher sich
antiimperialistisch nennender Linker, die es bereits für revolutionär halten,
automatisch dort ein Minuszeichen zu setzen, wo der Imperialismus ein
Pluszeichen schreibt, ignoriert dagegen die Rolle der Volksmassen und verkennt
die tatsächlichen Dynamiken von Aufständen und Volkskriegen.