Land am
Abgrund
Tim Kelseys
Reisebuch "Gesichter der
Türkei"
"Die Türkei ringt um ihren Zusammenhalt. An
fast jeder Front scheint der Alptraum der Desintegration Realität zu
werden" beginnt Tim Kelsey seinen Reisebericht "Die Gesichter der
Türkei - Von Istanbul bis Kurdistan." Der kurdische Nationalismus und der
türkische Kemalismus stehen sich (noch?) unversöhnlich gegenüber. Während
PKK-Chef Öcalan aus der Todeszelle für das friedliche Zusammenleben in einer
demokratischen Republik eintritt, fordern die Grauen Wölfe in der Regierung und
auf der Straße seinen Kopf. Die Islamisten sind eine dominante Kraft geworden
und eine junge Abgeordnete der Tugendpartei schaffte es kürzlich, mit ihrem
Kopftuch eine Staatskrise heraufzubeschwören. Noch halten die laizistischen
Generäle alle Fäden fest in der Hand, aber die Dauerkrise des NATO-Landes
verschärft sich laufend.
Mehrere Jahre lang hat der englische Journalist Tim
Kelsey die ganze Türkei bereist. Allen Aspekten von Politik, Kultur, Religion
und Geschichte galt sein Interesse. Seine Reisen führten ihn von Istanbul bis
tief in die kurdischen Berge. Seine Gesprächspartner waren Musiker, Polizisten,
PKK-Sympatisanten und Derwische. Seine Recherchen führten ihn in die
Staatsarchive von Ankara ebenso, wie in das Gefängnis und das Bordell von
Tokat. Das fast 400 Seiten starke Ergebnis kann sich sehen lassen. Wenn der
Rotbuch Verlag das Reisebuch als "Standardwerk über die moderne
Türkei" anpreist, dann vor allem deswegen, weil kein anderes Werk heute so
ausführlich auf die Empfindungen und die Mentalität dieses Landes und seiner
Bewohner eingeht. Mit ihrem Detaillreichtum erinnert die Reportage
streckenweise an die Romane des türkischen Schriftstellers Orhan Pamuk.
Eine Ursache für die Krise der Türkei, für die Angst
vieler Türken vor der Zukunft sieht Kelsey in der Verleugnung der eigenen
Geschichte. "Wer die Vergangenheit kontrolliert, beherrscht die
Zukunft", schreibt George Orwell in "1984". Nach dieser Maxime
handelte Mustafa Kemal Atatürk, der Begründer der Türkischen Republik. Bei
Ausrufung der Republik 1923 erklärte er weiten Teilen der anatolischen
Geschichte den Krieg und ließ die Erinnerungen verbieten und wegsperren. Das
Land sollte europäisch sein und dafür war der Bruch mit den Osmanen
Voraussetzung. Um als neuer Nationalstaat mit einer noch schwachen Bourgeoisie
im Zeitalter des Imperialismus zu bestehen, war innere Einheit die
Grundbedingung. Ein Kerngedanke des Kemalismus lautet deswegen: Glücklich ist,
wer sich Türke nennen darf". In der türkischen Staatspolitik wurde aus dem
"darf" schnell ein "muß" und die vielen Völker der Türkei -
die Kurden, Armenier, Assyrer, die slawischen Stämme am schwarzen Meer sollten
zwangsweise zu Türken assimiliert werden. Die Geschichte des Osmanischen
Vielvölkerstaates, der nur aufgrund einer liberalen Nationalitäten- und
Religionspolitik so lange bestehen konnte, mußte hierzu vergessen gemacht
werden. Die vor einigen Jahren von der Regierung verkündete Öffnung der
osmanischen Archive ist vor allem ein propagandistischer Schachzug, muß Kelsey
im Gespräch mit einem linken Historiker feststellen, dem wie vielen anderen aus
politischen Gründen nach wie vor der Zugang zu den Akten der Vergangenheit
verwehrt wird. "Atatürk hat auf gnadenlose Weise eine Identität erzwingen
wollen. Vermutlich konnte nicht einmal er voraussehen, daß die Gewaltausübung
seines Staats zu einer weitverbreiteten Erfahrung werden sollte. Sie ist zu
einem gemeinsamen Nenner geworden. ... Die anhaltende Brutalität, die vom Staat
ausgeht, ist schlichter Ausdruck der enormen Schwierigkeiten, die Atatürks
Nachfolger damit hatten, den Bewohnern Anatoliens die Logik des Nationalstaates
zu oktroyieren", benennt Kelsey die Krise der türkischen Gesellschaft.
Der englische Autor ist kein Linker, eher ein
Liberaler. Die kommunistische Untergrundorganisation Dev Sol nennt er schlicht
"terroristisch". Doch die alltäglichen Menschenrechtsverletzungen
sind ihm bewußt. Das zeigt schon die Danksagung: "Viele Personen haben die
Arbeit an diesem Buch unterstützt. Daß ich die meisten nicht namentlich
erwähnen darf, wirft ein trauriges Licht auf das Land, das jeder von ihnen auf
seine Weise liebt."
Einige Wochen nach Kelseys Abreise aus der Türkei
entdeckt er in der Zeitung eine Meldung. Das Dorf einer christlichen Minderheit
in den kurdischen Bergen ist von der türkischen Armee verbrannt worden, die
Bewohner ermordet oder deportiert. Die
"Gesichter der Türkei" sind bei Rotbuch in der Reisebuch-Reihe
"für den Armchair Traveller und für unterwegs" erschienen. In diesem
Fall ist der Armchair wohl vorzuziehen. Denn immer noch fließt fast jede Mark
aus dem Türkei-Tourismus in die Kriegskasse der Generäle. Und das brennende
kurdische Dorf - eines von über 4000 in den letzten Jahren - wird nicht das
letzte gewesen sein. "Die Türkei legt Feuer an sich selbst" schließt
Kelsey seinen Report
Nick Brauns
Tim Kelsey: Gesichter der Türkei. Von Istanbul bis
Kurdistan.
Rotbuch Verlag 1999
392 Seiten
DM 44,-