Graue Wölfe heulen noch
Nationalismus hat in der Türkei viele
Gesichter
Bei den Parlamentswahlen am 12. Juni 2011 in
der Türkei konnten die faschistischen „Grauen Wölfe“ der „Partei der Nationalen
Bewegung“ (MHP) mit 13 Prozent gegenüber 14,2 Prozent im Jahr 2007 nur leicht
geschwächt erneut ins Parlament einziehen.
Von
Nick Brauns
Die islamisch-konservative „Partei für
Gerechtigkeit und Aufschwung“ (AKP) von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan errang mit rund 50 Prozent der Stimmen einen
historischen Sieg. Damit verfehlte Erdogan sein selbst gestecktes Ziel einer
verfassungsändernden Zweidrittelmehrheit. Mit dieser hätte er, wenn die MHP
nicht den Sprung über die 10 Prozent Hürde geschafft hätte, die Verfassung im
Alleingang ändern können. Somit ist die AKP bei der Erstellung einer neuen
Verfassung, welche die noch von der Militärjunta im Jahre 1982 eingesetzte
Verfassung ablösen soll, auf die Zustimmung anderer Parteien angewiesen.
Da bei dieser Wahl Stimmengewinne für die AKP
weder unter den von Erdogan enttäuschten Kurden noch im laizistischen Lager zu
erwarten waren, umwarb die Partei im Wahlkampf vor allem das
rechtsnationalistische Wählerspektrum. Erdogans Ziel
war es, die MHP unter die 10-Prozent-Hürde zu drücken und so aus dem Parlament
zu werfen. Seine Behauptung, es gäbe kein kurdisches Problem mehr, zielte
ebenso auf diese nationalistischen Kreise, wie hetzerische Wahlkampfreden gegen
religiöse Minderheiten wie die Aleviten und Eziden und eine Verschärfung der Repression gegen die
kurdische Demokratiebewegung.
„Sexskandal“ bei der MHP
Schließlich tauchten wenige Wochen vor der
Wahl im Internet Filmaufnahmen auf, die führende „Graue Wölfe“ im Schlafzimmer
mit jungen Frauen zeigten. MHP-Führer Devlet Bahceli
beschuldigte die Bewegung des hinter der AKP stehenden Predigers Fethullah Gülen, für die mit Geheimdiensttechnik
gefertigten Videos verantwortlich zu sein. Der im US-Exil lebende Gülen
konterte im Gleichklang mit Erdogan, Ehebruch sei in einem islamischen Land
keine Privatangelegenheit. 10 MHP-Führungsfunktionäre traten aufgrund des
sogenannten Sexskandals von ihren Posten zurück. Dass die MHP dennoch im
Parlament blieb, ist wohl enttäuschten ehemaligen Anhängern der kemalistischen „Republikanischen Volkspartei“ (CHP) zu
verdanken, denen der unter ihrem neuen Parteichef Kemal Kilicdaroglu
eingeschlagene Kurs mit der Übernahme einiger kurdischer und alevitischer Forderungen zu weit ging. Tatsächlich sind die
Grenzen zwischen CHP, MHP und AKP fließend. Die türkische Staatsideologie ist
seit Gründung der Republik ein einseitig das Türkentum
betonender Nationalismus, der auf der Negierung bis hin zur physischen
Vernichtung der anderen ethnischen und religiösen Gruppen basiert. Seit dem
Putsch 1980 wandelte sich diese Staatsideologie vom kemalistischen
Laizismus zur türkisch-islamischen Synthese. Je nach
politischer Konjunktur wird das nationalistische oder islamische Element
stärker betont. Die laizistische CHP und die zum religiösen Lager offene MHP
bilden gemeinsam den linken und rechten Flügel des nationalistischen Lagers.
Polizeistaat statt Militärdiktatur
Die „Grauen Wölfe“ dienten in den 70er Jahren
als Stoßtrupp gegen linke und gewerkschaftliche Aktivisten und spielten im
Rahmen einer „Strategie der Spannung“ eine zentrale Rolle bei der Vorbereitung
des NATO-Putsches vom 12. September 1980. In den 1980er und 1990er Jahren
bildeten „Graue Wölfe“ Todesschwadronen in Kampf gegen die PKK in Kurdistan.
Unter der AKP-Regierung fand seit 2002 ein Wandel von der Militärdiktatur zum
Polizeistaat statt, in dem islamische Bewegungen wie die Gülen-Gemeinde
Polizei, Geheimdienst und Justiz unterwanderten. Statt einer Fortsetzung des
schmutzigen Krieges mit Dorfzerstörungen und Morden „unbekannter Täter“, der de
facto zu einer Stärkung der PKK geführt hatte, setzt die AKP-Regierung bei der
Bekämpfung der kurdischen Befreiungsbewegung auf eine flexiblere Taktik aus
Zuckerbrot und Peitsche. Verbale Zugeständnisse an die kurdische Seite und die
Anbindung konservativer Kurden an den türkischen Staat im Namen des Islam
wurden ergänzt durch Massenverhaftungen ziviler Politiker und
Militäroperationen gegen die Guerilla. Gleichzeitig
öffnete sich die AKP für ehemalige MHP-Mitglieder und Wähler, die den rechten Flügel
der sich sonst gerne als demokratische Reformkraft präsentierenden Partei
bilden. Während das anatolische Unternehmertum und das internationale
Großkapital in der neoliberal ausgerichteten AKP ihre Interessenvertretung
sehen, bleibt die MHP als rechtsnationalistische Pressuregroup
auf die Regierung und Straßenkampfreserve gegen Linke und Gewerkschafter
bestehen. Dass die MHP, deren Führer Devlet Bahceli
ihr ein stärker national-konservatives Image zu verpassen sucht, weiterhin eine
tödliche Gefahr bleibt, zeigen pogromähnliche Übergriffe und Lynchversuche
gegen kurdische Arbeitsmigranten und Studierende sowie Roma und Sozialisten in
der Westtürkei, an denen „Graue Wölfe“ führend beteiligt sind.
Antifa in Kurdistan
Als explizit antifaschistische Kraft außerhalb
des aus nationalistischen und nationalreligiösen Parteien gebildeten
Staatslagers präsentierte sich zur Wahl ein drittes Lager aus sozialistischen
und prokurdischen Parteien. Dieser „Block für Arbeit, Demokratie und Freiheit“
unterstützte zur Umgehung der Zehnprozenthürde formell unabhängige Kandidaten.
Obwohl der Wahlkampf dieses Blocks in den kurdischen Landesteilen in einer
latenten Bürgerkriegsatmosphäre mit Tausenden Festnahmen und massiven
Polizeiangriffen auf Wahlkundgebungen stattfand, konnten 36 kurdische und
sozialistische Direktkandidaten ins Parlament entsendet werden. In kurdischen
Großstädten wie Diyarbakir und Van gewann der Block alle Mandate. „Kurdistan
wird das Grab des Faschismus werden“, skandierten begeisterte Menschen am Wahlabend
in den kurdischen Städten.
Aus: DerRechteRand –
Das Magazin von und für AntifaschistInnen,
Nr. 131 Juli/August 2011