Aus: junge Welt Ausgabe vom 26.08.2015, Seite 14 / Feuilleton

Gülen-Bewegung

Von Nick Brauns

Der pensionierte Imam Fethullah Gülen sei einer der »faszinierendsten religiösen Führer«, der mit seiner »Botschaft der Toleranz Bewunderer in aller Welt« erreiche. So begründete das Time Magazin im April 2013 die Aufnahme des im Exil im US-Bundesstaat Pennsylvania lebenden türkischen Predigers auf seine Liste der 100 einflussreichsten Persönlichkeiten. Doch zugleich wurde Gülen als »schattenhafter Puppenspieler« charakterisiert, der in der Türkei von ebenso vielen Menschen gefürchtet wie geliebt werde. Nach außen stellt sich das von Gülen inspirierte Netzwerk mit Millionen Anhängern in der Türkei und über 1.000 Bildungseinrichtungen, Krankenhäusern, Medien und Wirtschaftsunternehmen in über 140 Ländern als unpolitische Hizmet-Bewegung (Dienst-Bewegung) da. Seine Kritiker sprechen dagegen von einer sektenartigen Cemaat (Gemeinde).

Der 1938 in der in Ostanatolien gelegenen Provinz Erzurum geborene Gülen vertritt einen ultrakonservativen sunnitischen Islam. Mit den faschistischen Grauen Wölfen teilt er den Traum eines Großreichs aller Turkvölker. Als junger Mann gehörte Gülen zu den Mitbegründern des CIA-nahen Vereins zur Bekämpfung des Kommunismus in Erzurum. Ab den späten 80er Jahren dienten Gülen-nahe Einrichtungen dem US-Geheimdienst als Stützpunkte in den zentralasiatischen Turkrepubliken.

Statt auf den Bau von Moscheen setzt Gülen auf Schulen zur Heranziehung einer »goldenen Generation«, die der Türkei zur islamischen Vorherrschaft in einer globalisierten Welt verhelfen soll. Fromme anatolische Unternehmer, die im kemalistischen Staat jahrzehntelang von der Teilhabe an der Macht ausgeschlossenen waren, danken es ihm mit millionenschweren Spenden

Aus der Überzeugung, dass der säkulare Staat ein zu mächtiger Gegner sei, um ihn frontal anzugreifen, rief Gülen seine Anhänger ab den 70er Jahren zur systematischen Unterwanderung von Polizei und Justiz auf. Nachdem 2002 die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) von Recep Tayyip Erdogan als erste religiöse Partei des Landes eine Alleinregierung bilden konnte, steuerte die Gülen-Bewegung das Personal zur Übernahme des Staatsapparates bei. Zur Entmachtung der alten säkularen Eliten in der Militär- und Staatsbürokratie ließen mit Sondervollmachten ausgestattete Staatsanwälte wie Erdogans Mann fürs Grobe, Zekeriya Öz, Hunderte hochrangige Militärs, kritische Journalisten und kurdische Bürgermeister aufgrund fingierter Beweise verhaften.

Nach Ausschaltung ihrer gemeinsamen Gegner zerbrach die Zweckallianz der von Erdogan und Gülen repräsentierten Fraktionen des »grünen Kapitals« im Streit um Pfründe und Pöstchen. Auf Erdogans Drohung, Privatschulen der Gülen-Bewegung zu schließen, reagierte Staatsanwalt Öz im Dezember 2013 mit einem Korruptionsermittlungsverfahren gegen AKP-Politiker, darunter mehrere Minister. Es tauchten belastende Telefonmitschnitte auch gegen Erdogan und seinen Sohn auf. Der Staatspräsident sah darin den Versuch eines Justizputsches und erklärte dem »Parallelstaat« den Krieg. Über zehntausend Beamte wurden seitdem versetzt, Dutzende Gülen-nahe Polizisten wegen Bildung einer »Fethullah-Terrororganisation« angeklagt, Zeitungsredaktionen durchsucht und eine Bank enteignet. Staatsanwalt Öz entzog sich seiner Verhaftung durch Flucht nach Deutschland.

Im Falle eines erneuten AKP-Wahlsieges befürchtet die Gülen-Bewegung, die jetzt sogar zur Unterstützung der sozialdemokratischen und prokurdischen Opposition aufruft, eine Nacht der langen Messer. Sollte aber die AKP von der Regierung verdrängt werden, dann wird die derzeit angeschlagene Bewegung ihre demokratische Maske schnell wieder fallen lassen, um erneut nach der Macht im Staat zu greifen. Ein Bündnis mit dem »Parallelstaat« gegen Erdogan verbietet sich daher für fortschrittliche Kräfte von selbst.