Aus: junge Welt vom 29.06.2019, Seite 15 / Geschichte

 

Verlorene Provinz

Vor 80 Jahren gab Frankreich der Türkei grünes Licht zur Annexion des zuvor syrischen Sandschak Alexandrette

 

Von Nick Brauns

 

Rund zwei Jahrzehnte dauerte das Tauziehen um den Sandschak Alexandrette, bis das syrische Gebiet vor 80 Jahren schließlich formell als Provinz Hatay an die Türkei angeschlossen wurde. Während des türkischen Unabhängigkeitskrieges unterstützte die von Mustafa Kemal geführte Nationalbewegung die gegen eine französische Okkupation kämpfenden Rebellen im Sandschak. Mit dem Ankara-Abkommen vom Oktober 1921 zur Beendigung ihrer militärischen Auseinandersetzungen erkannte die türkische Nationalbewegung Frankreichs Herrschaft über Syrien zwar formal an. Doch während der Friedensverhandlungen von Lausanne erklärte Mustafa Kemal am 15. März 1923 in Adana bezüglich des Sandschak, eine Region, die »vier Jahrhunderte Teil der türkischen Heimat« gewesen sei, dürfe nicht »in der Hand des Feindes« bleiben. Mit dem Lausanner Friedensabkommen verblieb der Sandschak, der ebenso wie das restliche Syrien und der Libanon 1922 vom Völkerbund zum französischen Mandatsgebiet erklärt worden war, allerdings außerhalb des türkischen Territoriums.

 

Frankreichs Ankündigung im September 1936, sein Mandatsgebiet Syrien in die Unabhängigkeit zu entlassen, führte zu heftigem Protest aus Ankara, wo ein Anschluss des Sandschak an die Türkei gefordert wurde. Zu diesem Zeitpunkt machten türkischsprachige sunnitische Muslime laut französischen Quellen 39 Prozent der rund 220.000 Einwohner der Region aus. Arabisch sprechende Alawiten, Sunniten und Christen kamen zusammen auf 46 Prozent. Komplettiert wurde das Bevölkerungsmosaik durch elf Prozent Armenier, die zumeist Überlebende des Völkermordes von 1915/16 waren, sowie drei Prozent Kurden, Tscherkessen, Juden und Albaner.

Ende 1936 befasste sich der Völkerbund mit der sogenannten Alexandrette-­Krise. Auf Vermittlung der britischen Regierung wurde ein Kompromiss ausgehandelt. Das Sandschak-Statut definierte das Gebiet als eine »besondere Einheit«, die in allen innenpolitischen Angelegenheiten volle Souveränität hatte, aber offiziell zum syrischen Staat gehörte.

Gesteuerte Wahlen

Vom Völkerbund überwachte Wahlen für ein Regionalparlament im April 1938 mussten aufgrund blutiger Auseinandersetzungen annulliert werden. Einerseits gingen Araber und Armenier angesichts der unverhohlenen Annexionspläne der Türkei auf die Barrikaden. Und andererseits setzte Ankara aufgrund der Befürchtung, dass die türkischsprachige Volksgruppe noch keine gesicherte Mehrheit bildete, auf die Gewalt bewaffneter Banden.

Um die türkische Regierung nicht in die Arme des Deutschen Reiches zu treiben, das nicht nur gute ökonomische Beziehungen zur Türkei unterhielt, sondern auch deren Annexionsgelüste unterstützte, gab Frankreich seinen Widerstand schrittweise auf. Nach dem Abzug der Völkerbundbeobachter vereinbarten Paris und Ankara einen neuen Wahltermin für Ende Juli. Die Türkei wurde ermächtigt, 2.500 Soldaten in den Sandschak zu entsenden. Der als Verwalter der Provinz eingesetzte französische Major Collet sicherte der türkischen Seite seine Unterstützung für eine Erlangung einer Mehrheit der Parlamentssitze zu. Während an der Grenze 30.000 türkische Soldaten aufmarschierten, die der bereits schwer kranke Mustafa Kemal Atatürk noch persönlich auf einer Militärparade verabschiedet hatte, wurde der Belagerungszustand über den ­Sandschak verhängt. Arabisch-nationalistische Anführer wurden verhaftet und die innersyrische Grenze geschlossen, so dass ins Landesinnere ausgereiste arabische und armenische Einwohner nicht zu den Wahlen zurückkehren konnten. Gleichzeitig wurden Tausende Türken mit falschen Pässen eingeschleust und als Wähler registriert. Die unter der Aufsicht französischer und türkischer Soldaten durchgeführten Wahlen am 22. Juli 1938 erbrachten das von Ankara gewünschte Ergebnis. 22 der 40 Abgeordneten waren türkischsprachige Sunniten. Alawiten kamen auf neun, Armenier auf fünf, orthodoxe Christen und sunnitische Araber auf je zwei Sitze.

Am 2. September 1938 wurde die Republik Hatay ausgerufen. Atatürk selbst hatte sich für diesen Namen ausgesprochen, der sich von den Hethitern als vermeintlichen Prototürken ableitete. Der aus seinem türkischen Exil zurückgekehrte Führer der türkischen Nationalbewegung im Sandschak, Tayfur Sökmen, der 1934 als Abgeordneter ins Parlament in Ankara gewählt worden war, wurde zum Staatspräsidenten der neuen Republik ernannt. Antakya, das frühere Antiochia, wurde zur Hauptstadt. Nicht nur die Staatsflagge von Hatay glich derjenigen der Türkei, auch im Inneren erfolgte nun eine rapide Türkifizierungspolitik. Der Schulunterricht richtete sich an Lehrplänen aus der Türkei aus und erfolgte in türkischer Sprache. Arabische Beamte wurden durch Beamte aus der Türkei ersetzt. Türkische Gesetze hatten seit Februar 1939 Geltung. Nachdem im Herbst 1938 bereits die Zollgrenze zur Türkei aufgehoben worden war, wurde im März 1939 die türkische Lira als Währung übernommen.

Erkaufte Neutralität

Nach der deutschen Annexion Österreichs und dem Einmarsch der Wehrmacht in die Tschechoslowakei sowie der Okkupation Albaniens durch das faschistische Italien wuchs der Druck auf Paris, eine endgültige Einigung mit Ankara zu finden. Diese wurde am 23. Juni 1939 mit dem »Abkommen bezüglich einer exakten Lösung territorialer Fragen zwischen der Türkei und Syrien« von Vertretern beider Staaten unterzeichnet. Beide Regierungen akzeptierten damit Grenzveränderungen zugunsten der Türkei. Ein Abzug der französischen Soldaten innerhalb eines Monats wurde zugesichert. Bürger von Hatay würden automatisch die türkische Staatsbürgerschaft erhalten, könnten sich aber innerhalb eines halben Jahres auch für die syrische oder libanesische entscheiden. In Artikel 7 sicherte Ankara ansonsten die Wahrung der territorialen Integrität Syriens zu. Aus Sicht der syrischen Regierung, die das Abkommen als illegal bezeichnete, wurde der ­Sandschak von Frankreich geopfert, um die Neutralität der Türkei im kommenden Krieg zu erkaufen.

Das Parlament von Hatay beschloss am 29. Juni einstimmig den Anschluss an die Türkei, der nach der Zustimmung des türkischen Parlaments und dem Abzug der französischen Truppen am 23. Juli vollzogen wurde. Zwar hat die 1946 ausgerufene Arabische Republik Syrien ihren Anspruch auf die Küstenregion nie aufgegeben. Doch mit dem nach Kriegsdrohungen der Türkei unter ägyptischer und iranischer Vermittlung unterzeichneten Adana-Abkommen, das sich wesentlich gegen die bisherige Präsenz kurdischer PKK-Guerilla in syrischen Trainingscamps richtete, akzeptierte Damaskus im Jahr 1998 faktisch die türkische Herrschaft über die verlorene Provinz. Während der Jahre des Syrien-Krieges hat Ankara gestützt auf einheimische Kollaborateure und eingeschleuste Söldnerbanden auch die an Hatay angrenzenden syrischen Regionen Idlib, Afrin und Al-Bab unter seine indirekte oder direkte Kontrolle gebracht. Wie in den 30er Jahren geschah dies unter Ausnutzung der Widersprüche zwischen den um die Gunst Ankaras buhlenden Großmächten.

 

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 Sandschak Alexandrette

Die Stadt Alexandrette (türkisch: Iskenderun) wurde von Alexander dem Großen nach seinem Sieg gegen die Perser in der Schlacht von Issos im Jahre 333 vor unserer Zeitrechnung gegründet. Alexanders Feldherr und Diadoche Seleukos machte nach seinem Sieg gegen seinen Rivalen Antigonos im Jahr 301 v. u. Z. Syrien zum Zentrum seines Reiches. Antiochia (türkisch: Antakya) wurde zur Hauptstadt und stieg zur führenden Mittelmeermetropole neben Rom und Alexandria auf. Ab dem 16. Jahrhundert war die Region Teil des Osmanischen Reiches.

Aufgrund des geheimen Sykes-Picot-Abkommens, mit dem Großbritannien und Frankreich im Ersten Weltkrieg ihre Interessensphären im Mittleren Osten festlegten, wurde die syrische Küstenregion ebenso wie das übrige Syrien und Libanon zum französischen Einflussgebiet erklärt. Die französische Militärverwaltung fasste am 27. November 1918 die Unterbezirke Alexandrette und Antiochia des Bezirks Aleppo zum 5.600 Quadratkilometer großen Sandschak Alexandrette mit der gleichnamigen Stadt als Verwaltungssitz zusammen. In Bestätigung vorangegangener Beschlüsse der britisch-französischen Konferenz von San Remo 1918 erteilte der Völkerbund 1922 Frankreich offiziell das Mandat für Syrien und den Libanon.

Die geopolitische Bedeutung der Küstenregion ergibt sich durch den Hafen von Alexandrette/Iskenderun, der früher zentral für die Handelsmetropole Aleppo war und heute einer der wichtigsten Mittelmeerhäfen der Türkei ist. Dort endet zudem eine wichtige Erdölpipeline aus dem Irak. Iskenderun spielt auch als Eisenbahnknotenpunkt eine Rolle.

Nick Brauns

 

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