Junge Welt 10.11.2012
/ Geschichte / Seite 15
Revolutionäres Rotes Kreuz
Vor 80 Jahren tagte der 1. Weltkongreß
der Internationalen Roten Hilfe in Moskau
Von Nick
Brauns
Der Kongreß
ehrt das Andenken aller revolutionären Kämpfer, die während der letzten zehn
Jahre im Kampfe gegen den weißen Terror und Faschismus, im Kampf für die
proletarische Revolution und für die Befreiung der Arbeit vom Joch des
Kapitalismus gefallen sind.« Mit diesen Worten eröffnete der japanische Kommunist
Sen Katayama am Abend des 10. November 1932 im
Theater des Moskauer Gewerkschaftshauses den ersten Weltkongreß
der Internationalen Roten Hilfe (IRH). Er wird zwei Wochen dauern. Zehn Jahre
nach ihrer Gründung war diese proletarische Hilfsorganisation für politische
Gefangene und Verfolgte mit zusammen 13 Millionen Mitgliedern in 70 Ländern zur
weltgrößten politischen Vereinigung der Arbeiterbewegung angewachsen.
Die Wurzeln der IRH liegen in der revolutionären Nachkriegskrise, als die
Herrschenden auf Aufstände in vielen Staaten Europas mit »weißem Terror«
antworteten und diktatorische Regimes errichtet wurden. Angesichts der großen
Zahl inhaftierter oder untergetauchter Revolutionäre hatte der polnische
Altbolschewist Feliks Kon im Namen der »Vereinigung
der alten Bolschewiki« auf dem vierten Weltkongreß
der Kommunistischen Internationale im November 1922 die Gründung eines
»internationalen politischen Roten Kreuzes« beantragt.
In Deutschland gab es bereits seit der Niederschlagung des kommunistischen Aufstandes
im mitteldeutschen Industrierevier im Frühjahr 1921 Rote-Hilfe-Komitees der
Kommunistischen Partei. Diese unterstützten Hunderte politische Gefangene
juristisch und moralisch, versorgten die ihrer Ernährer beraubten
Arbeiterfamilien mit Geld und Lebensmitteln und statteten Untergetauchte mit
falschen Pässen aus. Neben Kommunisten, die in Deutschland rund die Hälfte der
im Jahr 1932 auf eine Million Einzel- und Kollektivmitglieder angewachsenen Roten
Hilfe ausmachten, gehörten vor allem Parteilose der IRH an. Während von
sozialdemokratischer Seite ein Unvereinbarkeitsbeschluß
bestand, gaben Schriftsteller, Wissenschaftler und Künstler wie Albert
Einstein, Käthe Kollwitz, Henri Barbusse und Carl von Ossietzky der Roten Hilfe
ein weit über das proletarische Milieu hinaus wahrgenommenes Gesicht.
Verschärfter Terror
Den Vorsitz der IRH hatte ab 1924 die deutsche Kommunistin Clara Zetkin. Ihr
zur Seite stand Jelena Stassowa. Die »Genossin
Absolut«, wie die Russin ehrfurchtsvoll genannt wurde, war seit Jahrzehnten in
der revolutionären Bewegung aktiv und hatte bereits 1921 im Auftrag Lenins am
Aufbau der Rote-Hilfe-Komitees in Deutschland mitgewirkt.
In ihrem Rechenschaftsbericht auf dem Moskauer IRH-Kongreß
stellte Stassowa eine wesentliche »Verschärfung des
Terrors« zu Beginn der 30er Jahre fest. »Sie verhaften die Revolutionäre, um
sich das Hinterland zu sichern«, sah die IRH-Vizevorsitzende darin ein Zeichen
für das »Herannahen des Krieges«. Hatte die Organisation 1925 weltweit 447 zum
Tode verurteilte oder durch Polizei, Militär und Faschisten ermordete
Revolutionäre gezählt, so stieg diese Zahl 1929 auf 14625 und 1931 gar auf
91158 an. Dazu kommt ein systematischer Angriff auf die politischen Gefangenen,
deren wenige Rechte in den Haftanstalten mißachtet
werden. »In italienischen Gefängnissen mißhandelt man
die Gefangenen auf die scheußlichste Art, man gießt ihnen Urin in den Mund, man
schlägt sie, zwingt sie im strengen Winter, im vereisten Wasser zu baden und
steckt sie für Monate in Zwangsjacken«, verwies IRH-Exekutivvertreter André
Marty auf Mussolinis Folterregime. Doch nicht nur in offenen Diktaturen wie dem
faschistischen Italien oder Polen unter Marschall Jozef Pilsudski (mit 12000
politischen Gefangenen und Dutzenden, von Sicherheitskräften massakrierten
streikenden Arbeitern) war die linke Bewegung scharfer Verfolgung ausgesetzt,
wie Delegierte detailreich schilderten. Erst am 9. November 1932 hatte die
Schweizer Armee in Genf ein Blutbad unter den Teilnehmern eines
antifaschistischen Protestes angerichtet, bei dem 13 Arbeiter getötet und mehr
als 60 verwundet wurden.
Die weltweite Repression machte vor der Roten Hilfe ebenfalls nicht halt, die
zum Zeitpunkt ihres Weltkongresses in 42 Ländern illegal oder halblegal
arbeiten mußte. Eine beständige auch finanzielle
Kraftquelle bildete in dieser Situation die solchen Repressalien nicht
ausgesetzte Internationale Organisation zur Unterstützung Revolutionärer
Kämpfer (MOPR) in der Sowjetunion mit ihren 5,6 Millionen Mitgliedern. Schon
1923 hatte die MOPR-Zelle von Wjatka die Patenschaft
für den Anarchisten Erich Mühsam und weitere in der bayerischen Festung Niederschönenfeld inhaftierte Räterepublikaner übernommen
und diesen Post und Tabak zukommen lassen. 1932 bestanden MOPR-Patenschaften
für Häftlinge in 267 Gefängnissen im kapitalistischen Ausland. Die MOPR
versorgte zudem Politemigranten, denen in ihren Ländern lange Haftstrafen oder
der Tod drohten, und errichtete in Iwanowo ein internationales Heim für die
Kinder ermordeter oder inhaftierter Revolutionäre.
Siege und Niederlagen
Die Rote Hilfe sei »nicht nur eine Sanitätskolonne, sondern eine
überparteiliche Massenorganisation«, die »auf der Grundlage des Klassenkampfes
steht«, kennzeichnete Jelena Stassowa den Unterschied
zu rein humanitären Organisationen. Für das Selbstverständnis der Roten Hilfe
spielten internationale Kampagnen gegen die Verfolgung von Revolutionären in
»Terrorstaaten« wie Bulgarien oder Polen, eine wichtige Rolle. Massencharakter
hatte vor allem 1926 und 1927 die Mobilisierung gegen die allerdings nicht
abzuwendende Hinrichtung der Anarchisten Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti
in den USA, bei der weltweit Millionen Unterschriften gesammelt, Hunderte
Kundgebungen und Demonstrationen organisiert und zahlreiche Delegationen zu
US-amerikanischen Konsulaten geschickt wurden.
Breiten Raum während des Moskauer Kongresses 1932 nahm die seit 1931 geführte
Kampagne zur Rettung der Scottsboro-Boys vor der
rassistischen Südstaatenjustiz der USA ein. Acht junge Afroamerikaner waren
aufgrund falscher und erpreßter Beschuldigungen wegen
einer angeblichen Vergewaltigung zweier weißer Prostituierter in Scottsboro/Alabama zum Tode verurteilt worden. Die IRH
hatte in so vielen Ländern öffentlichen Druck erzeugt, daß
der Oberste Gerichtshof der USA im Oktober 1932 die Todesurteile aufheben mußte. Ada Wright, die Mutter von zwei Scottsboro-Boys,
die zuvor auf einer von der Roten Hilfe organisierten Vortragsreise in Europa
für das Leben ihrer Kinder gekämpft hatte, wurde in Moskau stürmisch begrüßt
und in das Präsidium des Kongresses gewählt. Es sei gelungen, unseren Einfluß auf die Millionenmassen Farbiger und der
unterdrückten Völker zu verbreitern und zugleich einen »Schlag gegen die
Vereinigten Staaten, gegen das amerikanische Kapital« zu führen, betonte
IRH-Exekutivmitglied Kunert die Bedeutung der Scottsboro-Kampagne.
»Die ganze zehnjährige Geschichte der IRH ist ein klarer Ausdruck der
gesteigerten proletarischen Solidarität der internationalen Arbeiterklasse und
vor allem der Solidarität der Arbeiter und Werktätigen der UdSSR, die den
ersten Staat der proletarischen Diktatur errichtet haben«, charakterisierte
Jelena Stassowa in ihrem Rechenschaftsbericht die
Bedeutung der Roten Hilfe. Dabei verwies sie auf Lenins Feststellung wonach Internationalismus
nicht nur aus Redensarten, sondern aus der tatkräftigen Solidarität, nicht aus
Resolutionen, sondern aus Taten bestehen müsse.