Im Feuer geboren
Vor 85 Jahren wurde die Rote Armee gegründet.
Heute wird der 23. Februar in der Russischen Föderation als »Tag des Vaterlandsverteidigers« begangen
»Das sozialistische Vaterland ist in Gefahr!« – Mit diesem
Dekret rief Lenin am 21. Februar 1918 angesichts des deutschen Vormarsches auf
Petrograd dazu auf, alle Kräfte des Landes in den Dienst der revolutionären
Verteidigung zu stellen. Nicht nur das Deutsche Reich, das am 3. März 1918 in
Brest Litowsk einen Raubfrieden mit Rußland schloß, bedrohte den Sowjetstaat.
Überall im Land hatten sich die Weißen um zaristische Generäle gesammelt. In
Wladiwostok landeten japanische Truppen, und eine Legion ehemaliger
tschechischer Kriegsgefangener in Sibirien besetzte beim Marsch nach Westen russische
Städte und wurde zum Kern der antibolschewistischen Opposition.
Bereits am 11. Februar hatte der Rat der Volksbeauftragten daher ein
Gründungsdekret verabschiedet, in dem es hieß: »Die alte Armee diente der
Bourgeoisie als Klasseninstrument zur Unterdrückung der Werktätigen. Mit dem
Übergang der Macht an die werktätigen und ausgebeuteten Klassen ergab sich die
Notwendigkeit, eine neue Armee zu schaffen, eine Armee, welche in der Gegenwart
die feste Stütze der Sowjetmacht ist, in allernächster Zukunft das Fundament
für die Ablösung der regulären Armee durch die allgemeine Volksbewaffnung
bilden und der Unterstützung der in Europa herannahenden sozialistischen
Revolution dienen soll.«
Die Wurzeln dieser Arbeiter-und-Bauern-Armee lagen in der Roten Garde, die die
Petrograder Arbeiterschaft im August 1917 zur Abwehr des gegenrevolutionären
Putschversuchs von General Kornilow gebildet hatte. Weitgehend spontan hatten
sich zudem überall in Rußland kleine Trupps von Arbeitern und Bauern zu
Guerillaverbänden zusammengeschlossen, um die Gegenrevolution zu bekämpfen.
Diesen Verbänden war das Überleben des Sowjetstaates in seinen ersten Monaten
zu verdanken. Doch viele ihrer Führer waren von anarchistischem Geist erfüllt
und nicht bereit, sich einem zentralen Kommando unterzuordnen.
Befehlsverweigerung und Desertion waren an der Tagesordnung.
Im März 1918 wurde ein Oberster Kriegsrat gebildet und zu dessen Vorsitzenden
der Volkskommissar für Militärangelegenheiten Leo Trotzki ernannt. Seine
militärischen Kenntnisse hatte sich Trotzki als Kriegsberichterstatter während
der Balkankriege erarbeitet. Er war der Auffassung, nur eine zentral geführte
reguläre Armee könne den an vielen Fronten auf den Sowjetstaat einstürmenden
Aggressoren Paroli bieten. Die linken Kommunisten um Nikolaj Bucharin
erblickten dagegen in kleinen Partisaneneinheiten mit wählbaren Kommandeuren
das revolutionäre Ideal. Trotzki dazu: »Den Guerillakrieg zu predigen, ist
dasselbe, wie eine Rückkehr von der Großindustrie zum Handwerk zu empfehlen.«
Die Wählbarkeit der Kommandeure wurde abgeschafft, der Oberste Kriegsrat führte
Disziplinarstrafen bis hin zur Todesstrafe ebenso wieder ein wie die Vergabe
von Orden für Tapferkeit und besondere Verdienste.
Aufgrund weitreichender Kriegsmüdigkeit gelang es nicht, mehr als 200 000 Mann
auf freiwilliger Basis zu rekrutieren. Der Rat der Volksbeauftragen verfügte
daher zuerst eine 96stündige militärische Ausbildung aller werktätigen Männer
zwischen 18 und 40 Jahren und führte Ende Mai 1918 die Militärdienstpflicht
wieder ein. Um die politische Zuverlässigkeit der Truppe zu gewährleisten,
bildeten Mitglieder der bolschewistischen Partei den Kern der Truppe, um den
zunächst neu ausgehobene Industriearbeiter gruppiert wurden. Erst dann ging
Trotzki an die Einberufung der Bauernschaft, die später 85 Prozent der Truppe
stellte.
Gegen heftigen Protest der linken Kommunisten und vieler Soldaten, die eine
Rückkehr ihrer einstigen Schinder befürchteten, sprach sich Trotzki für die
Aufnahme ehemaliger zaristischer Offiziere als Militärspezialisten in die Rote
Armee aus, solange nicht genügend neue Kräfte aus der Arbeiterschaft für
Führungspositionen ausgebildet sind. Rund 8000 Offiziere waren bereit, ihr
Wissen zur Verfügung zu stellen. Der später unter Stalin hingerichtete
ehemalige Gardeoffizier M.N. Tuchatschewski gehörte ebenso zu diesen Offizieren
wie der Schöpfer der Roten Reiterei S. M. Budjonny und der legendäre W. I.
Tschapajew.
Knapp 50 000 weitere ehemalige Offiziere wurden in den nächsten zwei Jahren zum
Dienst an der Front zwangsverpflichtet. Um die Kooperation dieser Männer zu
erzwingen, wurden Familienangehörige als Geiseln genommen. Wirkungsvoller war
das Kommissarsystem. So gehörten den dreiköpfigen Militärräten, die das
Kommando über die einzelnen Truppenteile führten, neben dem Militärspezialisten
zwei Bolschewiki als Kriegskommissare an. Sie übernahmen als Vertreter der
Sowjetregierung in der Armee die politische Verantwortung für die militärischen
Entscheidungen der Spezialisten und waren für die kommunistische Erziehung der
Truppe zuständig.
Ende 1918 hatte die Rote Armee einen Mannschaftsbestand von 1,7 Millionen
Soldaten, der bis zum Ende des Bürgerkrieges auf über fünf Millionen anwuchs.
»Die Rote Armee wurde im Feuer aufgebaut, folglich nicht nach einem
vorgezeichneten Plan und mitunter infolge ziemlich ungeordneter
Improvisationen«, gestand Trotzki, der an Bord seines legendären Panzerzuges
Frontlinien von insgesamt 5 000 Meilen zu befehligen hatte. Drei Jahre nach der
Oktoberrevolution konnte er im November 1920 den Sieg der Roten Armee an allen
Kriegsfronten melden.
junge Welt 22.02.2003 Nick Brauns