Junge Welt 19.03.2012 / Politisches Buch / Seite 15

Imam-Armee

Eine texanische Wissenschaftlerin hat eine gänzlich unkritische Studie über die Gülen-Bewegung verfaßt

Von Nick Brauns

 

In der Türkei ist die Gemeinde (Cemaat) des in den USA lebenden pensionierten Imam Fethullah Gülen mit bis zu sieben Millionen Anhängern die einflußreichste islamische Strömung. Das Gülen-Netzwerk umfaßt weltweit über 1000 Privatschulen, Studentenwohnheime und Krankenhäuser in über 100 Ländern. Dazu kommen Medien und Wirtschaftsunternehmen wie die auflagenstärkste türkische Tageszeitung Zaman, der Fernsehsender Samanyolu und die Bank Asya. Kritiker werfen der Gülen-Bewegung die systematische Unterwanderung von Polizei und Justiz in der Türkei und Inhaftierung Tausender Oppositioneller – von kurdischen Kommunalpolitikern über kritische Journalisten bis zu hochrangigen Militärs – vor.

Ohne Distanz


Obwohl auch in Deutschland in jeder größeren Stadt Schulen und Lobbyvereine der Gülen-Bewegung existieren, ist sie hierzulande weitgehend unbekannt. Dem will das nun vom katholischen Herder Verlag auf deutsch vorgelegte Buch der texanischen Religionssoziologin Helen Rose Ebaugh »Die Gülen-Bewegung – Eine empirische Studie« abhelfen. Ebaugh möchte ausdrücklich keine »kritische Analyse der Bewegung aus verschiedenen Perspektiven« bieten, sondern eine soziologische Analyse ihrer Struktur mit Schwerpunkt auf Mitglieder- und Spendengewinnung. Doch auch bei der Auswertung von Gesprächen mit Gülen-Anhängern läßt die Wissenschaftlerin jegliche kritische Distanz vermissen. In geradezu naiver Weise folgt sie der Selbstdarstellung der Bewegung, als deren Grundprinzipien sie Dialog, Toleranz, Meinungsfreiheit, Bekenntnis zur Demokratie und Integration benennt.

Dies beginnt bereits bei der Darstellung der Lebensgeschichte des 1941 in der ostanatolischen Stadt Ercurum geborenen Gülen und seines Aufstiegs vom Provinzimam zum geistigen Führer einer weltweit agierenden Bewegung. Kurzerhand übergeht Ebaugh den für die Türkei bis heute so prägenden Militärputsch 1980 und unterschlägt, wie Gülen die Militärs in seinen Artikeln und Reden als Retter des Vaterlandes vor Ungläubigen und Kommunisten gefeiert hatte. Von da an protegierten die Militärs die Cemaat als Gegengewicht zur radikalen Linken. Auch als die Militärs am 28. Februar 1997 den ersten offen islamischen Ministerpräsidenten der Türkei, Necmettin Erbakan, zum Rücktritt zwangen, stellte sich der von Ebaugh als »Verfechter der Demokratie« bezeichnete Gülen auf die Seite des Militärs.

»Gülen ist die treibende Kraft hinter der Gestaltung eines ›neuen‹ Islams in der Türkei, zu dessen Hauptkennzeichen die Logik der Marktwirtschaft und das osmanische Erbe gehören«, schreibt Ebaugh. Statt auf Moscheen und lediglich religiöse Bildung setzt Gülen auf Schulen, in denen sich eine »goldene Generation« moderne Wissenschaft und Bildung aneignen soll, um der Türkei in einer globalisierten Welt eine neue Rolle als islamische Vormacht zu ermöglichen. Zu Sponsoren von Gülens Bildungseinrichtungen und Medien wurde eine neu entstandene Schicht frommer anatolischer Unternehmer, die von der durch die Militärjunta eingeleiteten autoritär-neoliberalen Politik unter Präsident Turgut Özal profitierten. Ebaugh führt deren Spendenbereitschaft auf eine Wiederbelebung der traditionellen »türkisch-islamischen Philantrophie« zurück.

Justiz-Unterwanderung


Während sich erst kürzlich führende Politiker der regierenden islamisch-konservativen AKP öffentlich zum Bündnis mit der Gülen-Cemaat bekannten, behauptet Ebaugh, Gülen hielte sich aus der Politik heraus. Nirgendwo habe sie zudem Hinweise darauf entdeckt, daß Gülens Anhänger systematisch in staatliche Stellen eingeschleust wurden, um diese zu übernehmen. Die in der Türkei weithin diskutierten autobiographischen Aufzeichnungen des früheren Gülen-Gefolgsmannes und Vizedirektors des Polizeinachrichtendienstes Hanefi Avci hat sie dabei ebensowenig zur Kenntnis genommen wie die Darstellungen der Enthüllungsjournalisten Ahmet Sik und Nedim Sener über die Unterwanderung von Polizei und Justiz. Alle drei Autoren wurden unter fingierten Terrorismusvorwürfen inhaftiert und Siks Buch »Die Armee des Imams« – gemeint ist die türkische Polizei – noch vor Erscheinen verboten. Als strikter Gegner einer Verhandlungslösung im blutigen Kurdenkonflikt rief Gülen vergangenen Oktober in einer Videobotschaft Armee und Polizei im Namen Allahs und der nationalen Einheit zum Massenmord an kurdischen Aktivisten auf: »Lokalisiert sie, umzingelt sie (...) zerschlagt ihre Einheiten, laßt Feuer auf ihre Häuser regnen, überzieht ihr Klagegeschrei mit noch mehr Wehgeschrei, schneidet ihnen die Wurzeln ab und macht ihrer Sache ein Ende!« Während kurdische Medien von einer »Fatwa ruft zum Massenmord« schrieben, ignoriert Ebaugh solche Reden und nennt die Gülen-Bewegung eine »Förderin des Dialogs und des Weltfriedens«.

Entgegen der von Ebaugh wiedergegebenen Befürchtungen kemalistischer Gülen-Kritiker hat Gülen sicherlich keine geheime Agenda zur Ausrufung eines islamischen Staates. Es handelt sich vielmehr um eine im religiösen Gewand auftretende Bewegung der aufstrebenden anatolischen Kapitalisten und der unter dem Kemalismus von der Teilhabe an der Macht ausgeschlossenen »schwarzen Türken« Inneranatoliens. Mit ihrer neoliberalen Ausrichtung, ihrer Frontstellung zum schiitischen Iran bei gleichzeitiger wohlwollender Toleranz gegenüber Israel ist die Gülen-Bewegung dabei ein natürlicher Verbündeter der US-Regierung und ihres Greater Middle East Projekts.

Helen Rose Ebaugh: Die Gülen-Bewegung - Eine empirische Studie. Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2012, 220 Seiten, 9,95 Euro