Aus: Sozialistische Alternativen erkämpfen, Beilage der jungen Welt vom 14.01.2017

In den Kerkern des Sultans

Mit Massenverhaftungen von Oppositionellen bereitet der türkische Staatschef Erdogan den Weg zur Präsidialdiktatur

Von Nick Brauns

Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan scheint fest entschlossen, bis zum Referendum über die Einführung einer auf ihn zugeschnittenen Präsidialdiktatur im Frühjahr jegliche Opposition und Kritik an seiner Person auszuschalten. Seit dem gescheiterten Militärputsch im Juli 2016 wurden 82.000 Personen unter Terrorismusvorwürfen fest- und die Hälfte davon anschließend in Untersuchungshaft genommen.

Bei einem Großteil der Inhaftierten handelt es sich um mutmaßliche Anhänger der für den Putschversuch verantwortlich gemachten Sekte um den in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen, die in jahrzehntelanger Wühlarbeit einen regelrechten Parallelstaat innerhalb der staatlichen Institutionen der Türkei aufgebaut hatte. Bis es im Jahr 2013 im Streit um Posten und Pfründe zum Bruch zwischen Gülen und Erdogan kam, waren die Gülenisten innerhalb des Staatsapparates an führender Stelle verantwortlich für die Verfolgung der kurdischen Befreiungsbewegung und der revolutionären Linken. Nun erfahren die Anhänger des Predigers – darunter Unternehmer, hohe Militärs, Justiz- und Polizeibeamte – am eigenen Leib die von ihnen zuvor im Kolonialkrieg gegen die Kurden etablierten Methoden von Willkürjustiz, Folter und Enteignungen.

Der Machtkampf zwischen Erdogans islamisch-konservativer Regierungspartei AKP und der Gülen-Bewegung stellt letztlich eine Auseinandersetzung zwischen zwei Fraktionen innerhalb der herrschenden Klasse dar. Doch gleichzeitig eskaliert der Kampf des Staates gegen die kurdische Freiheitsbewegung und die linke Opposition.

Die laufende Verhaftungswelle gegen kurdische und sozialistische Aktivisten setzte bereits nach dem Abbruch der Friedensgespräche mit der kurdischen Befreiungsbewegung im Juli 2015 ein. Es handelte sich um eine Reaktion Erdogans auf den Wahlerfolg der als linkes und prokurdisches Bündnis konzipierten Demokratischen Partei der Völker (HDP), deren Parlaments­einzug im Juni 2015 der AKP bis zu den Neuwahlen im November 2015 ihre für die Alleinregierung notwendige absolute Mehrheit gekostet hatte.

Von der Repression betroffen ist insbesondere die Demokratische Partei der Regionen (DBP). Diese ist nur kommunalpolitisch tätig, stellt im mehrheitlich von Kurden bewohnten Südosten der Türkei die am besten organisierte politische Kraft dar und ist die mitgliederstärkste Gruppierung innerhalb der HDP. Anders als die Gülen-Bewegung oder die kemalistisch-sozialdemokratische Oppositionspartei CHP, die beide grundsätzlich am autoritären Staatsmodell unter der nationalistischen Devise »ein Staat, eine Fahne, eine Nation« festhalten, verfügt die kurdische Bewegung über die Vision einer fortschrittlichen gesellschaftlichen Alternative für die ganze Türkei. In den von ihr regierten Kommunen hatte die DBP ein auf basisdemokratischen Stadtviertel- und Gemeinderäten beruhendes System der Selbstverwaltung errichtet. Um diese in der Bevölkerung verankerte Machtbasis zu zerstören, ließ die AKP-Regierung im Frühjahr ganze Stadtviertel in Hochburgen der kurdischen Bewegung, in denen DBP und HDP auf Rekordergebnisse von 60 bis 90 Prozent gekommen waren, zu Ruinen schießen und Hunderttausende Bewohner vertreiben.

Laut einer Statistik der kurdischen Nachrichtenagentur Firat wurden im Jahr 2016 rund 7.250 DBP-Mitglieder und Funktionäre fest- und über 3.000 längerfristig in Haft genommen. Darunter sind die Parteivorsitzenden Sebahat Tuncel und Kamuran Yüksek sowie zahlreiche Provinz- und Bezirksvorstände sowie 70 Bürgermeister. In den von der DBP regierten Kommunen werden die Bürgermeisterämter jeweils paritätisch von einer Frau und einem Mann besetzt. In 50 dieser Städte und Gemeinden – so auch in der Metropole Diyarbakir – wurden mittlerweile durch die Regierung per Dekret Zwangsverwalter eingesetzt.

Die nach der DBP am stärksten von der Repression betroffene HDP-Mitgliedsorganisation ist die Sozialistische Partei der Unterdrückten (ESP), der auch die HDP-Kovorsitzende Figen Yüksekdag angehört. Den bei landesweiten Razzien verhafteten Mitgliedern der ESP und ihres Jugendverbandes wird vorgeworfen, Vorfeldorganisation für die illegale Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) zu sein. Der tatsächliche Hauptgrund für die Verfolgung der ESP besteht jedoch darin, dass sich diese Strömung konsequenter als die meisten anderen Gruppen der radikalen Linken um ein Bündnis von Sozialisten mit der kurdischen Befreiungsbewegung bemüht.

Auch gegen außerhalb der HDP stehende linksradikale Gruppierungen gehen türkische »Sicherheitskräfte« vor. So befinden sich mittlerweile alle in der Türkei lebenden Mitglieder der bekannten Musikgruppe »Grup Yorum« in Haft, die von ihnen betriebenen Kulturzentren wurden geschlossen.

Am 3. November 2016 wurden die Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag, sowie weitere Parlamentarier inhaftiert. Aktuell sitzen elf HDP-Abgeordnete im Gefängnis, gegen weitere Volksvertreter bestehen Haftbefehle. Als Terrorpropaganda wird ihnen bereits die Forderung nach Autonomierechten für die kurdische Bevölkerung oder die Teilnahme an Trauerfeiern für Sozialisten ausgelegt, die bei Anschlägen der Dschihadistenmiliz »Islamischer Staat« (IS) getötet wurden. Für die Aufhebung der parlamentarischen Immunität dieser Abgeordneten hatten bereits im Mai 2016 – rund zwei Monate vor dem Putschversuch – die Fraktionen der regierenden AKP, der faschistischen MHP und ein Teil der sozialdemokratischen CHP-Fraktion gestimmt.

Zentral für die Errichtung der Präsidialdiktatur in der Türkei ist die Gleichschaltung der Medien. Insgesamt nahezu 200 Zeitungen, Radio- und Fernsehsender sowie Nachrichtenagenturen wurden in den vergangenen Monaten geschlossen. Die Zahl der inhaftierten Journalisten beträgt annähernd 150. Betroffen sind nicht nur die Mitarbeiter Gülen-naher oder kurdischer Medien. Auch der Herausgeber und neun weitere Journalisten der renommierten liberalen Tageszeitung Cumhuriyet befinden sich in Haft. Ende des Jahres wurde zudem der bekannte Investigativjournalist Ahmet Sik aufgrund regierungskritischer Äußerungen auf Twitter inhaftiert. Ein Ende der Masseninhaftierungen ist nicht in Sicht. Für 2017 kündigte Justizminister Bekir Bozdag bereits den Bau von 175 neuen Gefängnissen an.