Die kurdische
Frage und die PKK
Die
Doppelstrategie der türkischen Regierung
von Nick
Brauns
Seit Ende
letzten Jahres laufen Geheimverhandlungen zwischen dem Vorsitzenden der
Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan, der auf der Gefängnisinsel Imrali im Marmarameer inhaftiert ist, und dem türkischen
Geheimdienst. Glaubt man der türkischen Presse, ist ein Ende des 30-jährigen
Krieges in Kurdistan in greifbare Nähe gerückt – er hat weit über 40.000
Menschenleben gekostet. Doch gibt es ernste Zweifel an den Absichten der
islamisch-konservativen AKP-Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan.
Dass die AKP
überhaupt wieder das Gespräch mit Öcalan sucht, lässt sich als Eingeständnis
werten, dass sie die Guerilla – entgegen aller
Ankündigungen von deren baldiger Vernichtung – militärisch nicht besiegen kann.
So wurden im vergangenen Jahr bei der stärksten Guerillaoffensive seit den 90er
Jahren über 1000 türkische Soldaten und Polizisten getötet, große Gebiete im
Bergland kamen unter die Kontrolle der Guerilla.
Außenpolitisch
sieht sich die AKP mit der Realität konfrontiert, dass nicht nur im Nordirak
eine stabile Autonomieregion Kurdistan unter Präsident Massoud Barsani
existiert, mit der die Türkei längst wirtschaftliche und politische Beziehungen
unterhält. Auch in den kurdischen Enklaven Syriens haben Volksräte unter
Führung der an Öcalan orientierten Partei der Demokratischen Einheit (PYD) seit
Juli 2012 die Kontrolle über eine Reihe von Städten übernommen. Zehntausend in
Volksverteidigungseinheiten zusammengeschlossene Kurden verteidigen diese
Selbstverwaltungsstrukturen sowohl gegen das Baath-Regime als auch gegen die
von der Türkei unterstützten jihadistischen Banden.
Divide et impera
Im Zuge des sog. «arabischen Frühlings» ist die Bedeutung der Türkei im
Mittleren Osten gewachsen. Schließlich ist die AKP selber ein Flügel der in
Ägypten, Tunesien und Gaza regierenden und in Syrien um die Macht kämpfenden
Moslembrüderschaft. Doch als starke Regionalmacht kann die Türkei erst
bestehen, wenn sie ihr kurdisches Problem gelöst hat. Das stellten auch die
Teilnehmer der Abant-Plattform, einem Think Tank der
AKP-nahen islamisch-nationalistischen Gülen-Bewegung, im Februar 2013 fest.
Angesichts
dieser innen- wie außenpolitischen Realitäten setzt die AKP auf eine «Lösung»
der kurdischen Frage, die den konservativ geprägten Teil der kurdischen
Gesellschaft mit kleinen Zugeständnissen unter dem Dach des sunnitischen Islam
an den türkischen Staat zu binden sucht. Gleichzeitig versucht sie, den
emanzipatorischen Flügel der kurdischen Nationalbewegung um Öcalan
auseinanderzudividieren, zu entwaffnen und als politischen Akteur
auszuschalten.
Dazu gehört
auch der Versuch, Öcalans Autorität gegen die PKK-Führung im nordirakischen Kandil-Gebirge auszuspielen, um die Guerilla unter Zugzwang
zu setzen. AKP-nahe Medien verbreiteten wiederholt
Details über einen angeblich mit Öcalan vereinbarten Rückzug der Guerilla aus der
Türkei nach der Schneeschmelze. Die PKK-Führung bezeichnete dies als
Falschmeldung im Rahmen psychologischer Kriegsführung. Der türkischen
Öffentlichkeit, aber auch der EU und den USA suggeriert die AKP damit einen
«Friedensprozess», für dessen mögliches Scheitern die PKK verantwortlich
gemacht wird.
In der
Praxis ist von einem Friedensprozess bislang wenig zu spüren. Bis auf ein
einmaliges Treffen mit zwei BDP-Abgeordneten Anfang Januar bleibt Öcalan weiter
in Isolationshaft, seit Juli 2011 hat er keinen Kontakt zu seinen Anwälten
mehr. Auf der einen Seite kursieren Gerüchte über die baldige Freilassung
hunderter, wegen Propagandadelikten inhaftierter, kurdischer Politiker im
Rahmen einer Justizreform, auf der anderen Seite gehen die Massenverhaftungen weiter.
Die Militäroperationen gegen die Guerilla,
einschließlich der Luftangriffe auf Ziele im Nordirak, werden fortgesetzt. In
Deutschland wurde am 13.Februar Ali Ihsan Kitay als
erster kurdischer Politiker in einem Pilotverfahren wegen Mitgliedschaft in
einer «ausländischen terroristischen Vereinigung» zu einer Haftstrafe
verurteilt; in Frankreich und Spanien wurden mutmaßliche PKK-Aktivisten wegen
«Terrorfinanzierung» verhaftet
«Wir
verfolgen eine doppelte Strategie, in die wir alle Instrumente integrieren
wollen», hatte der stellvertretende AKP-Vorsitzende Besir Atalay am 2.Januar
eingeräumt: «Ziel ist dafür zu sorgen, dass sie die Waffen niederlegen. Die
Gespräche auf Imrali sind ein Teil dieser Strategie.
Auf der anderen Seite führen wir unsere Arbeiten national wie international
weiter fort. Wir stehen in Kontakt zu Nordirak, und auch unser Arbeiten mit den
USA und Europa halten an. Das ist der internationale Fuß unserer Strategie.»
Der
innenpolitische Hintergrund
Offenbar gehört auch politischer Mord zu dieser «doppelten Strategie». Laut
einem Bericht der Tageszeitung Hürriyet hat die türkische Regierung im
vergangenen Jahr darüber beraten, Kopfgelder in Millionenhöhe auf die Tötung
von PKK-Führungskadern auszusetzen. Am 9.Januar wurden im Pariser Kurdistan
Informationszentrum die Mitbegründerin der PKK, Sakine Cansiz,
die Diplomatin des Kurdistan-Nationalkongresses, Fidan Dogan, und die
Jugendaktivistin Leyla Saylemez mit Kopfschüssen
regelrecht hingerichtet [siehe SoZ 2/2013]. Während
AKP-Politiker unmittelbar nach dem Mord von einer «internen Abrechnung» der PKK
schwadronierten, erhärtet sich der Verdacht, dass der Täter ein in die
kurdische Gemeinde eingeschleuster Agent des türkischen Staates ist
Der von der
Staatsanwaltschaft präsentierte mutmaßliche Attentäter Ömer Güney war zwar
einfaches Mitglied in einem kurdischen Kulturverein. Recherchen kurdischer
Journalisten ergaben jedoch, dass Güney selber aus einer
türkisch-nationalistischen Familie stammt und Verbindungen ins faschistische
Graue-Wölfe-Milieu unterhält. Ein in der Schweiz lebender ehemaliger V-Mann des
türkischen Geheimdienstes identifizierte Güney überdies als «unseren Mann in
Paris». Als offene Drohung mit weiteren Morden muss Erdogans
Aussage verstanden werden: «Wir hatten von ihnen [den europäischen Behörden]
auch die Auslieferung von der in Paris ermordeten Sakine Cansiz
verlangt. Sie sind dem nicht nachgekommen. Nun ist diese Sache passiert. Von
nun an kann auch Deutschland mit solchen Schwierigkeiten konfrontiert werden.»
Die «Friedensgespräche»
müssen schließlich auch vor dem innenpolitischen Hintergrund der laufenden
Verfassungsdebatte in der Türkei gesehen werden. Ziel von Ministerpräsident
Erdogan, der die Gewaltenteilung offen als ein Hindernis beim Regieren
bezeichnet, ist die Einführung eines zentralistischen Präsidialsystems, dessen
erster Präsident er werden will. Beim Referendum über einen entsprechenden
Verfassungsentwurf ist die AKP auf die Unterstützung von Abgeordneten anderer
Parteien angewiesen. Da sich die kemalistische Hauptopposition dem Ansinnen
verweigert, kann Erdogan entweder die faschistischen Grauen Wölfe (MHP) mit ins
Boot nehmen, oder er kann versuchen, als Gegenleistung für kleine
Zugeständnisse – z.B. eine nicht mehr das Türkentum
betonende Definition der Staatsbürgerschaft in der Verfassung – einzelne
Abgeordnete des kurdischen Blocks zu gewinnen.
Erdogans derzeitige Strategie scheint auf einen Spagat
zwischen beiden Optionen hinauszulaufen. Während MHP-Führer Devlet Bahceli aufgrund der Friedensgespräche ein Komplott von AKP
und BDP «gegen das Türkentum» wittert, versucht
Erdogan die türkischen Nationalisten mit einer chauvinistischen Rhetorik zu
umschmeicheln: «So etwas wie eine kurdische Frage gibt es nicht! Nein zum Kurdischsein», erklärte Erdogan am 20.Januar. «Was haben
wir zu Beginn gesagt gehabt? Eine Nation, eine Flagge, ein Land. Wir werden
keine Veränderung unseres 780.000 m2-Heimatlands erlauben.»
Angesichts
der fortgesetzten Verleugnungs- und Vernichtungspolitik durch die türkische
Regierung wäre eine Entwaffnung der PKK zum jetzigen Zeitpunkt glatter
Selbstmord. «Die Regierung wartet darauf, dass wir die Türkei verlassen und
unsere Waffen niederlegen», meint PKK-Führer Murat Karayilan.
«Aber die Frage ist, warum wir überhaupt kämpfen. Wir haben einen Grund dafür,
dass wir in den Bergen sind.»
Aus: Soz – Sozialistische Zeitung
Nr. 3/2013