Junge Welt 29.04.2010 / Thema / Seite 10


Das »internationale Komplott«

Vorabdruck. »PKK – Perspektiven des kurdischen Freiheitskampfes. Zwischen Selbstbestimmung, EU und Islam«

Von Nick Brauns und Brigitte Kiechle

Für eine friedliche und demokratische Entwicklung im Mittleren Osten ist die Lösung der kurdischen Frage Voraussetzung. Die erfordert die Einbeziehung der von EU und USA als »terroristisch« verfolgten Arbeiterpartei Kurdistans PKK, meinen Nick Brauns und Brigitte Kiechle in ihrem Anfang Mai erscheinenden Buch »PKK – Perspektiven des kurdischen Freiheitskampfes: Zwischen Selbstbestimmung, EU und Islam«.

Die Autoren setzen sich ausführlich mit der Geschichte der kurdischen Befreiungsbewegung einschließlich ihrer starken Frauenbewegung auseinander. Die Kurdenpolitik der amtierenden islamischen AKP-Regierung wird analysiert, nach den Folgen eines türkischen EU-Beitritts gefragt und die Rolle Deutschlands als Kriegspartei deutlich gemacht. Wir veröffentlichen aus dem Buch vorab die gekürzte Fassung eines Abschnitts aus dem zweiten Kapitel, der sich mit der Entführung und Verschleppung Abdullah Öcalans befaßt.

Ende der 90er Jahre war die Guerilla der PKK zwar nicht besiegt, da eine Guerilla allen geschichtlichen Erfahrungen nach durch eine konventionelle Armee niemals endgültig geschlagen werden kann. Doch rückblickend wird deutlich, daß der bewaffnete Kampf in dem Sinne gescheitert war, als es keine Aussichten gab, das in der ersten Hälfte der 90er Jahre errungene strategische Gleichgewicht in eine Offensive zur Befreiung Kurdistans zu überführen. Der ehemalige Kommandant Selahattin Çelik sieht die PKK ab 1998 militärisch in einer Sackgasse. »Einerseits führten die Konzentrationen des Aktionsradius auf begrenzte Gebiete und die Anwendung der immer gleichen Taktik dazu, daß der Kriegsschauplatz sich immer weiter nach Südkurdistan1 verlagerte und sich dort schließlich konzentrierte, was zu einem hohen Anstieg der Verluste führte. Andererseits bot die PKK dem türkischen Staat auf dem Gebiet der internen Nachrichtenbeschaffung immer größer werdende Angriffsflächen. Durch die Bildung und Entsendung professioneller Einheiten durch den türkischen Staat und die Aktivitäten, die die Konterguerilla entfaltete, wurden mehr und mehr verheerende Verwüstungen angerichtet2 Die genaue Zahl der Opfer während des 15jährigen bewaffneten Befreiungskampfes und des vom Staat geführten schmutzigen Krieges zwischen dem 15. August 1984 und dem 15. August 1999 sind nur schwer zu schätzen und die Angaben zutiefst widersprüchlich. Schätzungen auf kurdischer Seite gehen für diesen Zeitraum von 35000 bis 45000 Menschenleben aus, davon zwei Drittel Guerillakämpfer und Zivilisten. (…) Die Zahl der zerstörten oder entvölkerten Dörfer, Weiler und Siedlungen liegt je nach Zählweise zwischen 3400 und 6000. (…)

Beginn einer Odyssee

Das vorläufige Ende des Krieges wurde nicht durch einen militärischen, sondern einen politischen Sieg des türkischen Staates erreicht: der Gefangennahme Abdullah Öcalans.3 Dieses Drama ist in die kurdische Geschichte als »internationales Komplott« eingegangen, und der 15. Februar als Tag von Öcalans Verschleppung wird seitdem von PKK-Anhängern als nationaler Trauertag alljährlich mit Kundgebungen begangen. Am Weltfriedenstag, dem 1. September 1998, hatte die PKK ihren dritten einseitigen Waffenstillstand erklärt. In dieser Zeit schoß sich die türkische Propaganda erneut auf Syrien als Unterstützer der PKK ein. Entsprechende Aussagen des ehemals als rechte Hand Öcalans geltenden, 1998 zur KDP4 übergelaufenen und von dieser an den türkischen Geheimdienst ausgelieferten PKK-Kommandanten S¸emdin Sakik wurden weithin verbreitet. Ultimativ drohte Staatspräsident Süleyman Demirel bei der Eröffnung des türkischen Parlaments am 1. November mit einem Einmarsch in das Nachbarland, wenn Syrien weiterhin dem PKK-Führer Asyl gewähre.5 An der syrischen Grenze fuhren Zehntausende türkische Soldaten mit Panzern auf, um dieser Drohung Nachdruck zu verleihen. Während sich Ankara dabei von Israel, mit dem seit 1996 eine enge Militärpartnerschaft bestand, unterstützt wußte, ließen die arabischen Staaten, der Iran, Rußland und Griechenland Syrien gegenüber den Einmarschdrohungen alleinstehen. Im Auftrag der USA, deren Kriegsschiffe im Mittelmeer die Drohkulisse gegen Syrien verstärkten, fungierte der ägyptische Präsident Hosni Mubarak als Vermittler und überbrachte Damaskus die türkischen Forderungen. Daß Mubarak sich persönlich einschaltete, signalisierte dem syrischen Präsidenten Hafez Al-Assad den Ernst der Lage. Die syrische Führung konnte diesem Druck nicht standhalten und erklärte Öcalan, er müsse das Land verlassen, sonst gäbe es Krieg. Am 9. Oktober 1998 verließ Öcalan Syrien nach 19jährigem Aufenthalt mit einem Flugzeug. Wenige Tage später unterzeichneten Ankara und Damaskus das Adana-Abkommen, in dem sich Syrien verpflichtete, auf seinem Boden keine PKK-Aktivitäten mehr zu dulden.

Verfolgt von internationalen Geheimdiensten – allen voran dem israelischen Mossad, der dem türkischen Nachrichtendienst MIT die Spur vorgab – begann Öcalans 130tägige Odyssee über einen »Planeten ohne Visum«. Manche nationalistische Kritiker werfen Öcalan Feigheit vor, weil er in dieser Situation nicht zur Guerilla in die Berge ging. Doch Öcalan rechtfertigte sich später, daß dies ein Zeichen für eine Verschärfung des bereits in einer Sackgasse angelangten Befreiungskrieges gewesen wäre. Statt dessen setzte er darauf, die kurdische Frage durch seine Anwesenheit in Europa auf die internationale Agenda zu setzen und für eine politische Lösung zu werben.

Nationalistische Hetzkampagne

Auf Einladung des Vorsitzenden der ultranationalistischen russischen Liberaldemokraten Wladimir Schirinowski landete Öcalan zuerst in Moskau, wo er einen Asylantrag stellte. Zwar stimmte die Duma mit nur einer Enthaltung für die Asylgewährung, doch Ministerpräsident Jewgeni Primakow und Staatspräsident Boris Jelzin forderten aufgrund internationalen Drucks die Ausweisung Öcalans. Vermittelt durch Abgeordnete der italienischen Kommunisten flog Öcalan am 12. November 1998 nach Italien, wo er aufgrund eines in Deutschland bestehenden internationalen Haftbefehls am Flughafen verhaftet wurde. Schon vor seiner Einreise hatte Öcalan sich gegenüber den italienischen Abgeordneten bereit erklärt, notfalls nach Deutschland ins Gefängnis zu gehen. Während Öcalan auch in Italien einen Asylantrag stellte, begann in der Türkei eine nationalistische Hetzkampagne mit der Verbrennung italienischer Fahnen und Produkte. Die türkische Regierung beschloß einen Wirtschaftsboykott gegen Italien, entsprechende Verträge mußten gekündigt werden. Büros der legalen kurdischen HADEP-Partei wurden vom nationalistischen Mob in Brand gesetzt, und die Polizei verhaftete Hunderte HADEP-Unterstützer.6 Mehrere HADEP-Anhänger wurden öffentlich gelyncht.

Die Verschleppung

Eine Auslieferung Öcalans an die Türkei lehnte die von den Linksdemokraten geführte italienische Regierung unter Massimo D’Alema ab. Vergeblich suchte D’Alema ein anderes europäisches Land zur Aufnahme Öcalans zu bewegen. Aus Angst vor Unruhen der millionenstarken kurdisch- und türkischstämmigen Migration in Deutschland erklärte der deutsche Kanzler Gerhard Schröder (SPD), die Bundesrepublik wolle Öcalan trotz eines seit 1990 offenen Haftbefehls wegen eines angeblich von ihm angeordneten Mordes an einem PKK-Dissidenten nicht haben.

Im Januar 1999 verkündete Öcalan eine äußerst weitgehende Friedensinitiative, die durch europäischen Druck auf die Türkei umgesetzt werden sollte. Im Gegenzug zu Friedensmaßnahmen des türkischen Staates und einer Amnestie würde der bewaffnete Kampf dauerhaft eingestellt und die PKK sich auf eine Legalisierung innerhalb des politischen Systems der Türkei vorbereiten. Als Grundlage einer friedlichen Lösung könne das Konzept einer »demokratischen Republik«, in der den Kurden das Recht auf volle Meinungsfreiheit garantiert sei, akzeptiert werden. Die PKK werde nun ihre Politik unter der Parole »für gesellschaftlichen Frieden, Amnestie und Brüderlichkeit« betreiben. Die Umsetzung eines solchen Friedensprozesses solle von der UNO, der EU und der OSZE überwacht werden. Doch die europäischen Institutionen schwiegen zu Öcalans Initiative, so wie sie zuvor zu den Massakern der türkischen Armee geschwiegen hatten. Am 16. Januar 1999 verließ Öcalan Italien. Er blieb mehrere Tage in Rußland und Tadschikistan. Am 30. Januar landete er nach einer von der griechischen Regierung nicht genehmigten Zwischenlandung in Griechenland in Belarus. Doch Premierminister Primakow erwirkte den Beschluß, daß kein Staat der GUS Öcalan aufnehmen dürfe. Erneut flog Öcalan nach Griechenland, wo er vom Geheimdienst in Empfang genommen und auf die Insel Korfu gebracht wurde. Hier übernahm der US-Geheimdienst CIA die weitere Regie. Der US-Botschafter in Athen, Nicholas Burns, schlug dem griechischen Außenminister Theodoros Pangalos vor, Öcalan nach Kenia zu bringen, denn dort hatte die CIA einen großen Stützpunkt errichtet und kontrollierte auch die Polizei. Am 2. Februar landete das Flugzeug mit Öcalan auf dem Flughafen von Nairobi, und er wurde in die griechische Botschaft gebracht. Nun bot die CIA dem türkischen Geheimdienst eine gemeinsame Operation an, die von einem Kommando des MIT durchgeführt werden sollte. Die Entscheidung begann am Morgen des 15. Februar. Das siebenköpfige MIT-Team war mit einem Falcon-Flugzeug auf dem Flughafen in Nairobi gelandet. Unterdessen besuchte der kenianische Geheimdienst die Botschaft und drohte mit Gewalt, falls Öcalan nicht freiwillig mitkomme. Der griechische Botschafter behauptete, die Niederlande seien nun doch bereit, Öcalan aufzunehmen. Öcalan willigte ein und ließ sich im Jeep zum Flughafen fahren. Dabei wurde er von seinen Begleitern getrennt. Im Flugzeug begrüßten ihn die MIT-Agenten mit den berühmten Worten »Willkommen in der Heimat«. Bereits am folgenden Tag wurde der prominente Gefangene auf die Gefängnisinsel Imrali im Marmarameer gebracht.

»Es waren USA und NATO …«

Die praktische Operation war von der CIA und dem türkischen Geheimdienst MIT durchgeführt worden. Der israelische Mossad, der Öcalan während seiner Odyssee ständig verfolgt hatte und sich kurz vor der Verschleppung mit dem MIT in Ankara traf, dementierte dagegen in einer ungewöhnlichen Erklärung jede Verwicklung in das Öcalan-Kidnapping. Zuvor waren bei Protesten vor der israelischen Botschaft in Berlin am 17. Februar vier unbewaffnete kurdische Demonstranten vom Wachpersonal erschossen worden. »Es waren die USA und die NATO, die mich hierher gebracht haben«, benannte Öcalan später die Hauptverantwortlichen für sein Kidnapping. Die europäischen Staaten und Rußland, die sich von Washington unter Druck setzen ließen, hatten Öcalan durch ihre Weigerung, Asyl zu gewähren förmlich ausgeliefert. Sie trifft damit ebenfalls die volle Verantwortung für das Schicksal Öcalans und die bis heute ungelöste kurdische Frage. »Doch Öcalan wurde letztendlich ein Opfer seiner selbst«, meint die US-amerikanische PKK-Expertin Aliza Marcus. »Die gleiche einseitige Fokussierung und der absolute Glaube in ihn selbst, der es Öcalan ermöglichte, die PKK in eine mächtige Volksbewegung zu verwandeln, trug auch dazu bei, ihn selbst zu zerstören. Er war nicht in der Lage zu erkennen, daß er nicht allmächtig war, nicht immer richtig lag und daß ihn am Ende nicht jeder so sah, wie er sich selber sah. Dies ließ Öcalan einen fatalen Fehler begehen. Er floh aus Italien. Zu diesem Zeitpunkt hätte es allerdings keine andere Möglichkeit mehr gegeben, als abzuwarten7

Unter großer medialer Aufmerksamkeit und aufgeheizt durch lautstarke Demonstrationen von Angehörigen gefallener Soldaten fand vom 31. Mai bis zum 29. Juni 1999 der von der PKK als »Prozeß des Jahrhunderts« bezeichnete Hochverratsprozeß gegen Abdullah Öcalan auf der Insel Imrali statt. In seiner Verteidigungsrede entschuldigte sich Öcalan bei den Angehörigen der im Kampf gegen die Guerilla gefallenen Soldaten. Gleichwohl nannte er die Entstehung der PKK eine legitime Reaktion auf Unterdrückung und Verleugnung der Kurden in der damaligen Pe­riode. Mit ihrem Aufstand habe die PKK die kurdische Frage erst auf die Tagesordnung gebracht. Öcalan erteilte jeder militärischen Lösung der kurdischen Frage sowohl seitens des türkischen Staates als auch durch die Guerilla eine Absage, denn dies habe zur momentanen ausweglosen Situation geführt. Die Geschichte habe gezeigt, daß die Forderung nach einem eigenen Staat überholt sei und »Unabhängigkeit als auch die Freiheit sinnvollerweise in der Einheit der Türkei als der fortschrittlichste und praktischste Weg zu verwirklichen« seien. Öcalan ging noch weiter und erklärte: »Nicht nur für die Kurden in der Türkei, sondern auch für alle Kurden im Nahen Osten und in der Welt gilt, daß demokratische Errungenschaften am ehesten im Rahmen der Republik der Türkei zu verwirklichen sind Öcalans Schlußplädoyer endete mit den Worten: »Auch wenn ich nach Paragraph 125 des Strafgesetzbuches verurteilt werde, betone ich meine Überzeugung, daß ich in ethischer und politischer Hinsicht von der Geschichte freigesprochen werde. Ich begrüße und halte es für eine ehrenhafte und tugendhafte Aufgabe, mich für einen stolzen und gerechten Frieden in den Dienst der Demokratischen Republik zu stellen8 Erwartungsgemäß endete der Prozeß am 29. Juni 1999 mit der Verkündung des Todesurteils gegen Abdullah Öcalan wegen Hochverrats und Bildung einer terroristischen Vereinigung.

EU kritisiert Prozeß

Das Urteil wurde unter anderem auf Druck der EU nicht vollstreckt und 2002 mit einer im Rahmen des EU-Beitrittsprozesses vollzogenen Gesetzesänderung zur Aufhebung der Todesstrafe in Friedenszeiten in lebenslange Haft umgewandelt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in letzter Instanz am 12. Mai 2005 das Verfahren gegen Öcalan wegen Verletzung seiner Verteidigungsrechte als unfair bezeichnet und die Türkei zur Übernahme der Verteidigerkosten verpflichtet. Die Anordnung einer Wiederaufnahme des innerstaatlichen Strafverfahrens wurde dagegen abgelehnt. Der Gerichtshof entschied, daß die Feststellung einer Verletzung der Artikel 3, 5 und 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention eine hinreichende gerechte Entschädigung für sämtlichen erlittenen Schaden darstellt.

Zur künftigen Rolle Abdullah Öcalans erklärte die PKK auf ihrem 7. Parteikongreß im Februar 2000: »Unser Kongreß betrachtet den Prozeß auf Imrali gegen unseren Vorsitzenden, Abdullah Öcalan, als Ursache und Folge der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Anatolien und Mesopotamien. In dieser Hinsicht sind die Bedingungen unseres Vorsitzenden ein Ausdruck der Bedingungen, unter denen auch das kurdische Volk leben muß. Sein Lebensrecht ist auch das Lebensrecht des kurdischen Volkes, und seine Freiheit ist auch die Freiheit des kurdischen Volkes. Auf dieser Grundlage kämpft unser Vorsitzender trotz schwieriger Bedingungen für den Frieden. Das Leben und die Freiheit Abdullah Öcalans sind die Voraussetzungen für die Umsetzung und Verwirklichung des vorgelegten Friedensprojektes Aus dieser Perspektive wird die Zentralität Öcalans in allen öffentlichen Aktivitäten der kurdischen Bewegung bis heute verständlich. Auch die Vertreter des türkischen Staates wissen dies. Willkürakte gegenüber dem politischen Gefangenen, wie verschärfter Arrest oder Demütigungen wie Haareschneiden wider Willen, können einerseits so zur gezielten Provokation von Teilen der kurdischen Bevölkerung genutzt werden. Andererseits besuchten immer wieder hochrangige Vertreter von Militär und Geheimdienst den Gefangenen auf Imrali zum Meinungsaustausch.

Türkisches Guantánamo

Für zum Teil militante Proteste unter Kurden in aller Welt sorgt seit langem der durch die Folgen der Isolationshaft angeschlagene Gesundheitszustand Öcalans. Im März 2007 behaupteten Öcalans Rechtsanwälte, ihr Mandant werde systematisch vergiftet. Laboruntersuchungen der Haarproben Öcalans zeigten eine Konzentration der Elemente Strontium und Chrom, die deutlich über den Normalwerten liegt. Nachdem Ende März 2007 eine unabhängige Ärztedelegation des Antifolterkomitees des Europarates (CPT) Öcalans Gesundheitssituation untersucht hatte, gab das Komitee am 6. März 2008 bekannt, daß keine Anzeichen einer Vergiftung gefunden werden konnten. Das Antifolterkomitee forderte allerdings ein Ende der Isolationshaft, die zur Verschlechterung von Öcalans Geistes- und Gesundheitszustand geführt habe. Im November 2009 wurden schließlich nach fast elfjähriger Isolationshaft Öcalans auf der von 1500 Soldaten und Zivilangestellten bewachten Insel fünf weitere zu lebenslänglicher Haft verurteilte politische Gefangene nach Imrali verlegt. »Sie verkaufen meine Verlegung hierher als eine positive Initiative, aber die Realität sieht anders aus«, beklagt Öcalan gegenüber seinen Anwälten Verschlechterungen seiner Haftsituation in einem Gefängnisneubau. »Der einzige Zweck der Verlegung ist, den Druck der ausländischen Öffentlichkeit zu reduzieren So sei seine Zelle mit sechs Quadratmetern nur noch halb so groß wie zuvor. »Die Luft in der Zelle stellt meine Atemwege vor große Probleme. Um atmen zu können, muß ich mich ans Fenster lehnen, aber dort brennt die Sonne

Manche kurdische Kritiker sehen Öcalan weniger als Opfer denn als »Busenfreund der Militärs«. Im Gegenzug für angeblich privilegierte Haftbedingungen agiere die von Öcalan geführte PKK im Interesse der Generäle, so die Kritiker. Tatsache ist, daß Öcalan in Haft nur über eingeschränkte und gefilterte Informationen über die politische Lage verfügt. Sicherlich wird von türkischer Seite versucht, Öcalan im Sinn der Militärs zu beeinflussen und ihm falsche Versprechen zu machen. So besuchten auch hochrangige Militärs, die nun im Verdacht stehen, Mitglieder der nationalistischen Putschisten-Organisation Ergenekon zu sein, Öcalan auf Imrali. Laut Öcalans Angaben gegenüber seinen Anwälten bot ihm ein Major, der im Auftrag des damaligen Ministerpräsidenten Bülent Ecevit zu sprechen vorgab, eine Lösung der kurdischen Frage mit der PKK statt mit Barzani und den USA an.9 Es wäre naiv zu glauben, daß Öcalan als Gefangener, dessen Gespräche mit Anwälten und Verwandten strenger Überwachung unterliegen, seine Meinung völlig frei und unzensiert äußern kann. Dies weiß auch die PKK-Führung, die sich zwar an den strategischen und philosophischen Konzepten Öcalans orientiert, taktische Entscheidungen aber weiterhin selbständig faßt. Wenn Öcalan tatsächlich ein so williges Werkzeug in den Händen seiner Gefängniswärter wäre, wie seine Kritiker behaupten, dann ist unverständlich, warum er weiterhin Schikanen ausgesetzt ist und oft wochenlang von der Außenwelt abgeschnitten wird. Immer wieder werden die Besuche von Öcalans Anwälten und Verwandten auf der Gefängnisinsel von den türkischen Behörden mit der Begründung verhindert, schlechtes Wetter oder ein Motorschaden des Bootes ließen die Überfahrt nicht zu. Zum Teil wochen- oder sogar monatelang brach deshalb der Kontakt der Anwälte zu ihrem Mandanten ab. Neben seinen in der Haft verfaßten Büchern sind die jeweils in der kurdischen Presse veröffentlichten Gesprächsprotokolle (görüs¸me notlar) der Anwälte mit Öcalan der einzige Weg einer Kontaktaufnahme mit der Außenwelt. Der türkische Staat sieht darin eine Steuerung der PKK aus dem Gefängnis heraus und bestrafte Öcalan mehrfach mit verschärftem Arrest.

»Imrali ist jedoch nicht nur ein rechtsfreier Raum, sondern gleichzeitig ein Synonym für den Umgang der Türkei mit der kurdischen Frage oder mit anderen gesellschaftlichen Konflikten«, beklagt die nach Öcalans Inhaftierung gebildete »Internationale Initiative Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan«. »Weiterhin gilt Ankaras staatliche Repression als geeignetes Mittel, um oppositionellen Bewegungen Herr zu werden. Dies wird durch die immer noch katastrophale Menschenrechtslage bestätigt. Mit dem EU-Beitrittsprozeß der Türkei ist jedoch die kurdische Frage im gewissen Sinne zu einer europäischen Frage geworden. Das ›türkische Guantánamo‹ wird so zu einem ›europäischen Guantánamo‹. Doch Europa schaut weg10

1 gemeint ist der kurdische Nordirak

2 Selahattin Çelik: Den Berg Ararat versetzen, Frankfurt/Main 2002, 217 f.; das ehemalige ZK-Mitglied Çelik hatte sich 1999 von der PKK getrennt

3 Abdullah Öcalan (geb. 1949 in Urfa/Türkei), Vorsitzender der von ihm 1979 mitbegründeten Arbeiterpartei Kurdistans PKK

4 feudal strukturierte Demokratische Partei Kurdistans von Massoud Barsani im Nordirak

5 seit 1979 lebte Öcalan in Damaskus, und die PKK unterhielt in der syrisch kontrollierten libanesischen Bekaa-Ebene ihre Parteischule

6 linksgerichtete »Partei der Demokratie des Volkes«, setzte sich für politische Lösung der kurdischen Frage ein

7 Aliza Marcus: Blood and Belief – The PKK and the Kurdish fight for independence, New York 2009, S. 279

8 Abdullah Öcalan: Zur Lösung der kurdischen Frage – Visionen einer demokratischen Republik (Verteidigungsschriften), Köln 2000

9 Der KDP-Vorsitzende Masud Barsani ist seit 2005 US-gestützter Präsident der kurdischen Autonomieregion im Nordirak

10 International Initiative Briefings: Der »europäische« Gefangene Öcalan, Februar 2006

Nikolaus Brauns/Brigitte Kiechle: PKK – Perspektiven des kurdischen Freiheitskampfes. Zwischen Selbstbestimmung, EU und Islam, Schmetterling Verlag, Stuttgart 2010, 510 S., kartoniert, 26,80 Euro; ISBN 978-3-89657-564-7, auch im jW-Shop erhältlich