Aus: junge
Welt Ausgabe vom
07.09.2015, Seite 11 / Feuilleton
Von den »Troubles« erzählen
In Dublin und Belfast ist die Geschichte des irischen
Freiheitskampfes noch sehr lebendig. Ein Reisebericht
Von Nick
Brauns
Der
Osteraufstand von Dublin, bei dem sich 1916 Republikaner und Sozialisten gegen
die britische Besatzung und Auspressung Irlands erhoben und die Gründung der
Republik verkündeten, war militärisch ein Desaster. Doch die Exekution der
Anführer wurde zum Fanal, das die antibritische Stimmung im Land anheizte, eine
neue Generation von Freiheitskämpfern wachrüttelte und zum Unabhängigkeitskrieg
führte. »Wer einen solchen Aufstand einen Putsch nennt, ist entweder der
schlimmste Reaktionär oder ein hoffnungsloser Doktrinär, der unfähig ist, sich
die soziale Revolution als eine lebendige Erscheinung vorzustellen«, hat Lenin
Kritikern dieser Erhebung ins Stammbuch geschrieben.
Lebendig
vermittelt werden die Eckdaten des Aufstands bei der »1916 Rebellion Walking
Tour«, einer seit fast 20 Jahren angebotenen Stadtführung zu den zentralen
Punkten der fünftägigen Kämpfe. Auch wenn es in Strömen regnet, ein Dutzend
Interessierte kommen am Ausgangspunkt, der »International Bar« mit ihrer
hölzernen Originaleinrichtung von 1886, eigentlich immer zusammen, darunter
einige irischstämmige Amerikaner und Kanadier. Der
von Historikern des Trinity College fachkundig
geleitete Spaziergang führt zur O’Conell Street,
deren georgianische Fassaden heute Fastfoodläden beherbergen. Auf der Prachtmeile ist das
Hauptpostamt (General Post Office, GPO), das den wenigen hundert Aufständischen
der bürgerlich-patriotischen Freiwilligenmiliz »Irish
Volunteers« und der aus Gewerkschaftern gebildeten »Irish Citizen Army«
unter Führung des Sozialisten James Connolly als Zentrale diente. Hier wurde
die Bildung der Republik Irland unter einer provisorischen Regierung mit dem
Dichter Patrick Pearse als Präsidenten verkündet.
Die
Aufständischen blieben von der Bevölkerung isoliert. Während sie sich aus den
oberen Stockwerken der besetzten Gebäude Feuergefechte mit britischen Truppen
lieferten, plünderten die Bewohner der angrenzenden Slums und Rotlichtviertel
die Nobelgeschäfte. Ein britisches Kanonenboot auf der Liffey
schoss derweil große Teile des Geschäfts- und Verwaltungsviertels in Schutt und
Asche. In den engen, dreckigen Gassen hinter dem GPO sind heute Orte markiert,
an denen fliehende Kämpfer zu Tode kamen. Eine Metalltafel zeigt einen
Abschiedsbrief, der in der Tasche eines Gefallenen gefunden wurde.
Unweit vom
GPO steht eine Statue des Gewerkschaftsführers James »Big Jim« Larkin. Sie
zeigt ihn mit weit ausgestreckten Armen. Während der von ihm initiierten
Streiks der Straßenbahner und Guinness-Arbeiter, die 1913 der irischen
Gewerkschaftsbewegung zum Durchbruch verhalfen, gründete Larkin zusammen mit James
Connolly die Irish Citizen Army, eine Arbeitermiliz gegen Polizeigewalt. Zum Zeitpunkt
des Osteraufstandes war Larkin in den USA, von wo er 1923 als »krimineller
Anarchist« wieder nach Irland deportiert wurde. Auf dem Denkmalsockel steht:
»Die Mächtigen sind nur so groß, weil wir auf den Knien sind – erheben wir uns!«
Großer
Touristenandrang herrscht etwas außerhalb der Innenstadt am Kilmainham
Gaol. In diesem 1796 eröffneten und 1924 außer
Betrieb genommenen Gefängnis waren Generationen von Freiheitskämpfern
inhaftiert. Während der großen Hungersnot 1879 ließen sich Arme freiwillig
einsperren, um ein Stück Brot am Tag zu bekommen. Schon Betteln war ein
Haftgrund. In der Gefängniskapelle wurde Joseph Plunkett,
einer der Anführer des Osteraufstands, wenige Stunden vor seiner Hinrichtung
getraut.
Nahe der
Exekutionsmauer haben Dubliner Gewerkschafter einen Kranz zum »stolzen
Gedenken« an den »Oberkommandierenden« des Osteraufstandes, James Connolly,
drapiert. Bei seiner Exekution musste er aufgrund einer schweren Verwundung auf
einem Stuhl festgebunden werden. In der Nähe des Custom House erinnert eine
Statue an den Marxisten, Patrioten und Katholiken, dessen Überlegungen zur
nationalen Frage Lenin stark beeinflussten.
Ortswechsel.
»Willkommen in West-Belfast« empfängt ein farbenfrohes Wandgemälde mit Motiven
aus der keltischen Mythologie und Folklore den Besucher am Fuße des Divis Tower
in der Metropole des weiterhin zur britischen Krone gehörenden Nordirland. Die
britische Armee hatte zwischen 1972 und 2005 die obersten Stockwerke dieses
Hochhauses mit Scharfschützen besetzt und auf dem Dach einen
Hubschrauberlandeplatz eingerichtet, um das dahinterliegende katholische
Viertel um die Falls Road – eine Hochburg der republikanischen Bewegung – unter
Kontrolle zu halten. Wer diese überaus friedlich wirkende Wohngegend nicht zu
Fuß erkunden will, kann auf Touren in Black Cab Taxis
zurückgreifen. Die Fahrer, altgediente Aktivisten, können aus eigenem Erleben
von den »Troubles« berichten.
In einem »Garten der Erinnerung« zeigt eine von Sturmgewehren flankierte Karte
Orte, an denen Militante der IRA von der Armee oder unionistischen
Todesschwadronen aus der Nachbarschaft getötet wurden. Auf großflächigen
Wandgemälden entlang der Falls Road finden sich nicht nur Motive aus dem
irischen Freiheitskampf. Freiheit für den baskischen Politiker Arnaldo Otegi wird dort ebenso gefordert wie für den Vorsitzenden
der Arbeiterpartei Kurdistans, Abdullah Öcalan, und das palästinensische Volk.
Etwas versteckt im Komplex der Conway-Mühle befindet sich ein privat
betriebenes »Museum der irisch-republikanischen Geschichte«. Ausgestellt sind
hier etwa Waffen, Plakate, Fotos und Erinnerungsstücke aus dem Kampf der IRA.
Die Exponate stammen aus der Sammlung der 2006 verstorbenen republikanischen
Politikerin Eileen Hickey, die der Jugend ein Bild
von der Geschichte des irischen Freiheitskampfes vermitteln wollte. Man sieht
auch die Einrichtung der Gefängniszelle, in der sie in den 70er Jahren
eingekerkert war.
Hinter dem
wohl meistfotografierten Wandgemälde in West-Belfast, dem Bildnis des 1981 in
einem Hungerstreik gestorbenen IRA-Gefangenen Bobby Sands, bietet ein Buchladen
der linksrepublikanischen Partei Sinn Féin an
Heiligenbilder erinnernde Holztafeln der hingerichteten Osteraufständischen und
Tassen mit IRA-Emblem an.
Der bewaffnete Kampf der IRA ist Geschichte, aber Frontverläufe sind in Belfast
allgegenwärtig. Dutzende »Friedensmauern« trennen katholische von unionistisch-protestantischen
Nachbarschaften. Die bis zu acht Meter hohen Barrieren aus Stahl, Beton und
Stacheldraht haben eine Gesamtlänge von mehr als 20 Kilometern.