junge Welt 24.11.2007 / Geschichte / Seite 15
Wir müssen große Inseln des Deutschtums im polnischen
Meere bilden.« Mit dieser Forderung warb der Reichskanzler und
preußische Ministerpräsident Bernhard Fürst von Bülow
am 26. November 1907 vor dem Preußischen Abgeordnetenhaus für
ein Gesetz zur Enteignung polnischen Grundbesitzes. Diese
Gesetzesinitiative war der Höhepunkt einer seit der
Jahrhundertwende betriebenen verschärften Germanisierungspolitik
gegenüber der polnischen Bevölkerung des Deutschen Reiches
deren Anteil um 1900 in Posen 61,3 Prozent und in Westpreußen
34,4 Prozent betrug.
Die Stellung Preußens im Reich
beruhte zudem wesentlich auf der Annexion polnischer Gebiete im 18.
Jahrhundert. Westpreußen bildete die Landverbindung nach
Ostpreußen und Posen die Verbindung nach Schlesien. Die
Ostgebiete waren die Kornkammer des Reiches und Quelle billiger
Arbeitskräfte für die Industrie. »Ist das denn nicht
angenehm für das deutsche Bürgertum, daß es Tausende
seiner Söhnchen in einkömmlichen Stellungen im Posenschen
als Beamte, Lehrer, Zeitungsschreiberlinge, Kaufleute und Handwerker
unterbringen und endlich einen Teil seiner Bauern mit polnischem
Boden satt machen kann? Alles dies wäre verloren, müßte
in polnischen Händen bleiben, wenn nicht die Notwendigkeit
erfunden worden wäre, die Polen einzudeutschen«, wies die
polnisch-deutsche Sozialdemokratin Rosa Luxemburg auf weitere
ökonomische Aspekte des »Germanisierungsgeschäfts«
hin (Gesammelte Werke, Bd. 1/1, S. 817). Bülow wollte zudem
durch seine rigide Polenpolitik dem russischen Zaren signalisieren,
daß er bereit sei, die auch auf der gemeinsamen Unterdrückung
polnischer Unabhängigkeitsbestrebungen beruhende
rußlandfreundliche Politik seines Vorgängers Otto von
Bismarck fortzusetzen.
Seit Mitte der 1890er Jahre setzte die preußische
Regierung auf Zwangsassimilation an polnischen Schulen, in denen
Deutsch zur alleinigen Unterrichtssprache wurde. »In Posen
[...] soll die Schule nicht der Bildung der Kinder dienen, sondern
dazu, sie zu geistigen Krüppeln zu machen, die ihre eigene
Nationalität und Sprache nicht kennen, nicht zur Saat von Wissen
und Zivilisation, sondern zur gewaltsamen Verbreitung des
Deutschtums«, beklagte Luxemburg dieses »System der
Entnationalisierung« (GW 1/1, S. 810). Als auch der
Religionsunterricht nur noch in Deutsch erfolgen durfte, brach ein
Schulstreik aus, dem sich im November 1906 rund 67000 Schüler an
1318 Schulen in Posen und Westpreußen anschlossen.
Für
Kanzler von Bülow war der »Kampf um den Boden« das
»A und O unserer nationaldeutschen Politik im Osten«.
Grundlage war das Ansiedlungsgesetz aus dem Jahr 1886, mit dem ein
millionenschwerer Fonds »zur Stärkung des deutschen
Elements in den Provinzen Westpreußen und Posen gegen
polonisierende Bestrebungen« geschaffen wurde. Doch in der
Praxis diente die Ansiedlungskommission weitgehend zur Bereicherung
deutscher Gutsbesitzer, die im Falle wirtschaftlicher Schwierigkeiten
mit Landverkauf an Polen drohten. So flossen von 42 Millionen Mark,
die die Kommission 1906 zum Kauf von 30000 Hektar Land ausgab, 37
Millionen in die Taschen deutscher Besitzer.
1904
verabschiedet der preußische Landtag ein Gesetz, das es
polnischen Kleinbauern weitgehend untersagte, Häuser auf ihrem
Land zu errichten. So sollte eine von polnischen Genossenschaften und
Banken geförderte Parzellierung verhindert werden, die einen
deutschen Aufkauf ehemaligen Großgrundbesitzes erschwerte.
Auf seiner Generalversammlung im August 1907 forderte der
einflußreiche Deutsche Ostmarkenverein, eine von Großagrariern
gegründete und vom Rüstungsindustriellen Alfred Krupp
mitfinanzierte nationalistische Lobbyorganisation mit 40600
Mitgliedern, ein Gesetz zum Zwangsverkauf polnischen Grundbesitzes
durch Enteignung. Der völkische Alldeutsche Verband schloß
sich dieser Forderung an. Am 26. November legte Bülow dem
Preußischen Abgeordnetenhaus ein entsprechendes Gesetz zur
Beratung vor. Lediglich die Nationalliberalen als Partei des
Monopolkapitals sprachen sich vorbehaltlos dafür aus. Die
Vertreter der polnischen Minderheit, des katholischen Zentrums und
der linksliberalen Freisinnigen lehnten das Gesetz ab, während
die Konservativen Bedenken mit der Enteignungsforderung hatten. Diese
Vertreter der Großagrarier befürchteten einen
Präzedenzfall, der sich gegen sie selbst richten konnte. Nach
langwieriger Kompromißsuche nahm das Abgeordnetenhaus das
Gesetz am 18. Januar 1908 in dritter Lesung an, und das Preußische
Herrenhaus folgte am 26. Februar. Die Enteignungsmöglichkeit war
auf Druck der Konservativen auf eine Fläche von 70000 Hektar und
solche Bezirke begrenzt, in denen die »Sicherung des
gefährdeten Deutschtums« der Abrundung durch weitere
Ansiedlungen bedurfte.
Führende Repräsentanten von Wissenschaft und Kultur
wie André Gide, H. G. Wells und Leo Tolstoi protestierten
gegen die rassistische Enteignungsvorlage. Nach einer Protestnote des
österreichischen Parlaments forderte von Bülow den
Landwirtschaftsminister in einer vertraulichen Note auf, seitens der
Ansiedlungskommission keine Enteignungsanträge zu stellen. Da
unter den Konservativen Eingriffe in das Privateigentum weiter
umstritten waren, kam das Gesetz kaum zur Anwendung. Lediglich 1912
beschloß der Ministerrat die Enteignung von vier polnischen
Gütern mit einer Gesamtfläche von knapp 1700
Hektar.
Andere antipolnische Maßnahmen gab es weiterhin.
So verbot das 1908 beschlossene Reichsvereinsgesetz den Gebrauch
einer anderen als der deutschen Sprache auf Versammlungen mit
Ausnahme von Reichs- und Landtagswahlversammlungen, internationalen
Kongressen sowie in Kreisen mit mehr als 60 Prozent alteingesessener
fremdsprachiger Bevölkerung. Damit wurde für die polnische
Bevölkerung das Versammlungsrecht und das gewerkschaftliche
Koalitionsrecht weitgehend abgeschafft.
Zwar gelang es bis zum
Weltkrieg nicht, eine deutsche Majorität in Posen und
Westpreußen zu schaffen, da die Abwanderung aus
wirtschaftlichen Gründen anhielt und die Polen sogar 100000
Hektar Landzuwachs verzeichnen konnten. Doch das Junkertum hatte sich
sanieren und seinen politischen Einfluß ausbauen können,
und mit der staatlich finanzierten Ansiedlung von 150000 Siedlern an
fast 22000 Siedlungsstellen sowie der Entschuldung von 7700
Besitzungen schuf sich die Reichsregierung einen deutschnationalen
Stützpunkt für ihre weiteren Expansionsabsichten. Vor allem
hatte die preußische Ostmarkenpolitik die Schaffung eines
Feindbildes Polen bewirkt, dessen Folgen bis heute nachwirken.
Vor allem, meine Herren, ist es der Königlichen
Ansiedlungskommission, die doch den Kernpunkt der deutschen
Verteidigungsstellung im Osten bildet, möglich gewesen, ihre
Ansiedlungstätigkeit zu beschleunigen und umfangreicher zu
gestalten, als ich dies vor fünf Jahren in Aussicht gestellt
hatte. [...]
Was die Leistungen der Ansiedlungskommission
angeht, so sind im ganzen bis zum 31. Dezember 1906 rund 326000
Hektar von der Kommission erworben und davon rund 235000 Hektar
ausgegeben worden. Die Gesamtzahl der in Ansiedlungsdörfern und
-gütern ansässigen Deutschen mit ihren Familienangehörigen
hat in diesem Sommer die hunderttausend überschritten; sie
vermehrt sich jährlich reichlich um zirka zehn- bis zwölftausend
Köpfe. Die Zahl der neu begründeten deutschen Dörfer
betrug in der letzten Zeit jährlich etwa 50, im ganzen 315.
[...]
Für jeden, der die Verhältnisse der Provinzen
Posen und Westpreußen kennt, ist es klar, daß uns mit
vereinzelten Ansiedlungen nicht gedient ist. Wir müssen große
Inseln des Deutschtums im polnischen Meere bilden, und unbedingt
notwendig ist die starke Massierung der Kolonien nicht nur im
Interesse ihrer eigenen Erhaltung, sondern auch um den
Ansiedlergemeinden einen politischen Einfluß zu sichern. Am
stärksten muß diese Massierung in der Nähe der Städte
einsetzen, um diese einer allmählichen Verdeutschung zuzuführen.
[...]
Wir können nicht dulden, daß die Polen durch
eine rücksichtslose nationale Verhetzung den deutschen Staat in
seinem Erwerb auf deutschen Besitz beschränken, und daß
hierdurch in Verbindung mit einer ungesunden Preistreiberei der alte
deutsche Privatbesitz in den Provinzen Posen und Westpreußen in
der bedenklichsten Weise gelockert und seiner allmählichen
Vernichtung entgegengeführt wird. Wir können unseren
Landbedarf im freihändigen Ankauf nicht mehr decken, und daraus
ergibt sich mit zwingender Notwendigkeit, daß ein eminentes
Staatsinteresse die Einräumung der Enteignungsbefugnis an die
Ansiedlungskomission erfordert.
aus: Dokumente zur deutschen Geschichte 1905–1909, hg. v. Dieter Fricke, Berlin 1976, S. 86 f.