Aus: junge Welt Ausgabe vom 17.12.2016, Seite 4 (Beilage) / Wochenendbeilage

Unter Verdacht

In der algerischen Kabylei wächst das Streben nach Unabhängigkeit. Doch auch der Islamismus dringt vor

Von Nick Brauns

Grüne Täler und waldbedeckte Berge – ein solches Bild kommt wohl den wenigsten in den Sinn, wenn sie an das in weiten Teilen aus Wüste bestehende nordafrikanische Land Algerien denken. Rund achtzig Kilometer östlich der Hauptstadt Algier beginnt die Kabylei. Diese gebirgige, aber über eine lange Mittelmeerküste mit kleinen Fischereihäfen verfügende Region gehört zu den ärmsten, mit rund fünf Millionen Einwohnern zugleich zu den bevölkerungsreichsten Gebieten Algeriens.

Typisch sind die Steindörfer auf den Gebirgskämmen, während die kargen Äcker in der Ebene liegen. Einige stattliche Villen zeugen vom Reichtum, zu dem es manche Kabylen als Auswanderer gebracht haben. Ein Großteil der in Frankreich lebenden Algerier stammt ursprünglich aus der Kabylei. Bis heute hält diese Region sprachlich und kulturell eine engere Bindung zur einstigen Kolonialmacht als das übrige Algerien. Auswanderung – das bedeutet häufig die lebensgefährliche Flucht über das Mittelmeer – ist für viele junge Kabylen weiterhin die einzige erstrebenswerte Perspektive, denn Arbeit gibt es hier keine. Selbst staatliche Aufträge beim Straßen- und Staudammbau werden an Firmen aus der Türkei oder China vergeben, die ihre eigenen Arbeiter mitbringen, und von denen die algerischen Bürokraten höhere Bestechungssummen einstreichen können.

Die Kabylen gehören zur Volksgruppe der Berber, der Ureinwohner Nordafrikas, zu denen sich in Algerien nach jahrhundertelangem Arabisierungsprozess noch etwa ein Drittel der Einwohner, darunter auch die Tuareg, zählen. In ihrer eigenen Sprache Tamazigh nennen sich die Berber Imazighen. Das bedeutet »freie Menschen«. Doch frei ist die Kabylei keineswegs. Das merkt der touristische Besucher am eigenen Leibe. Wer privat unterkommt, muss sich nach seiner Ankunft gemeinsam mit seinem Gastgeber bei der Polizei einfinden. Während des fast dreistündigen Verhörs in einem baufällig wirkenden Polizeirevier in der staubigen Kreisstadt Dra El Mizan wird nicht nur nach Eltern, Studienschwerpunkten, beruflichen Tätigkeiten und in Algier besuchten Museen gefragt, sondern auch nach algerischen Freunden in Deutschland und der eigenen politischen Überzeugung. Eine solche Befragung sei normal bei Touristen, versichert die junge, aufgrund ihrer Deutschkenntnisse eigens aus einer anderen Stadt hergeholte Polizistin. Doch Touristen gibt es hier in der Regel nicht. Im Eingangsbereich der Wache prangt der Spruch: »Das Volk ist Garant der Sicherheit – die Polizei ist nur das Werkzeug«. Doch in der Kabylei misstraut das »Werkzeug« offenkundig dem Volk.

Rebellenland

In dieser Region, die gerade einmal vier Prozent des algerischen Staatsgebietes ausmacht, ist mehr als ein Drittel der Sicherheitskräfte stationiert. Die aus anderen Landesteilen stammenden wehrpflichtigen Soldaten hausen in verbeulten Containern und Wellblechhütten, die eher an Slums als an Kasernen erinnern. Alle paar Kilometer befinden sich an Straßenkreuzungen und Dorfeinfahrten Checkpoints mit runden Betonbunkern. Offiziell dienen die Posten, die Fahrten innerhalb der Kabylei oder nach Algier mitunter um Stunden verzögern, da man sie nur im Schrittempo passieren darf, dem Kampf gegen den »Terrorismus«. Die Berge der Kabylei werden von dschihadistischen Kämpfern aus dem Umfeld der Al-Qaida als Versteck genutzt, immer wieder kam es in den letzten Jahren zu bewaffneten Auseinandersetzungen mit Regierungskräften. Doch meist winken die Soldaten alle Autos einfach durch, nachts sind viele Militärposten gar nicht besetzt.

Viele Kabylen sind der Überzeugung, dass die Armeepräsenz in Wahrheit der Kontrolle der Bevölkerung dient. Schließlich gilt die Kabylei traditionell als rebellisch. Erst 1857 wurde die bis dahin unabhängige Region nach einer Niederlage der von der Kriegerin Lalla Fatma n’Soumer geführten Widerstandsbewegung in die französische Kolonie Algerien eingegliedert. Während des Unabhängigkeitskampfes gegen Frankreich war hier eine Hochburg des Guerillakampfes. Doch nach Erlangung der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1962 setzten sich diejenigen Kader der Befreiungsfront FLN durch, die den neuen Nationalstaat auf einer arabisch-islamischen Grundlage errichten wollten und die zentralistische Staatsstruktur der einstigen Kolonialmacht kopierten. »Wir sind Araber, wir sind Araber, wir sind Araber«, skandierte der erste Präsident des unabhängigen Algerien, Ahmed Ben Bella, während die Armee bereits 1962 eine Rebellion in der Kabylei niederschlug.

Ein Auftrittsverbot für den Schriftsteller Mouloud Mammeri an der Universität von Tizi Ouzou löste 1980 eine als »Berber-Frühling« bekannt gewordene Protestwelle für die Anerkennung der Berbersprache aus. Erneut kam es im Frühjahr 2001 nach dem Tod eines studentischen Aktivisten auf einer Polizeiwache zu Massenprotesten, deren Ursachen auch in der sozialen Misere und Perspektivlosigkeit der Jugend bei einer Arbeitslosenrate von 38 Prozent zu suchen waren. Rund 120 Jugendliche wurden innerhalb von drei Monaten von der Militärpolizei erschossen. Am 14. Juni 2001 marschierten über eine Million Kabylen durch Algier. Doch ihre Hoffnung, dass der Funke der Unzufriedenheit auf die anderen Landesteile übergreifen würde, erfüllte sich nicht. Nach einem Bürgerkrieg zwischen Regierungstruppen und Dschihadisten mit rund 150.000 Toten in den 1990er Jahren, von dem die Kabylei weitgehend verschont geblieben war, sehnten sich die meisten Algerier nach Ruhe. Dazu kam die Hetze der im Zuge der Aussöhnung in die Regierung integrierten »gemäßigten« Islamisten, wonach die Kabylen nur Autonomie anstrebten, um »Kirchen und Kneipen zum Biertrinken zu eröffnen«.

Basisdemokratie

Zielten kabylische Protestbewegungen zuvor zugleich auf eine Demokratisierung des ganzen Landes, so brachte das Jahr 2001 einen Wendepunkt. »Damals haben wir die Scheidung eingereicht«, erklärt Bouaziz Ait-Chebib. Der untersetzte 43jährige grauhaarige Mann ist der Vorsitzende der »Bewegung für die Selbstbestimmung der Kabylei« (MAK). Die Mitglieder dieser vom algerischen Staat als »Separatisten« verfolgten, gewaltfrei agierenden Strömung treten für die politische, wirtschaftliche und kulturelle Souveränität der Kabylei ein. »Es geht um unsere Freiheit. Wir streben keinen ethnisch definierten, sondern einen auf republikanischen Werten beruhenden Staat an«, widerspricht Ait-Chebib dem von regierungsnahen Journalisten gegenüber der MAK erhobenen Vorwurf des antiarabischen Rassismus. »Für uns zählt nicht die Größe des Territoriums, sondern die Verwirklichung von Werten wie Laizismus und Frauenrechten Innerhalb der MAK finden sich neben nicht religiösen Menschen und Muslimen auch einige Christen, deren allerdings geringe Zahl in der Kabylei in den vergangenen Jahren durch Konvertiten angewachsen ist.

Regierung und Salafisten sind für Ait-Chebib zwei Seiten derselben Medaille. Beide würden das Ziel eines Staates auf islamischer Grundlage vorantreiben und seien geeint im »Feindbild Kabylei«. Dagegen setzt die MAK auf eine radikaldemokratische Tradition der Arush genannten Dorfversammlungen. »Früher war bei uns jedes Dorf eine eigene Republik«, erklärt Ait-Chebib. Die MAK macht sich für eine Wiederbelebung der Dorfräte stark, allerdings auf moderner Grundlage, damit auch Frauen und Jugendliche ihren Platz darin finden.

Innerhalb der beiden sozialdemokratischen Parteien FFS und RCD, die die Berber traditionell im Parlament repräsentieren, gibt es ebenfalls Sympathisanten der Bestrebungen nach Unabhängigkeit. Doch sich offen zur MAK zu bekennen, ist mit Risiken verbunden. Wirkungsvolleres Repressionsmittel als die auch vorkommenden politisch begründeten Anklagen ist der ökonomische Druck, den der Staat als größter Arbeitgeber in der Region ausüben kann. So wird studentischen MAK-Aktivisten damit gedroht, dass ihre Eltern eine Anstellung bei der Kommune oder die Lizenz für einen Kiosk verlieren.

Seit 2010 wird die MAK im Ausland durch eine Provisorische Regierung der Kabylei unter dem Präsidenten Ferhat Mehenni, einem in Paris lebenden Volkssänger, vertreten. Doch kein Land – auch nicht Israel, wie die algerische Regierung gern unterstellt – erkennt diese Exilregierung bislang an. Die anfängliche Illusion, Europa werde die kabylische Bewegung als demokratisches Bollwerk gegen den radikalen Islam unterstützen, ist inzwischen der ernüchternden Erkenntnis gewichen, dass der Westen hinter dem algerischen Regime stehen wird, solange das Erdöl fließt und Flüchtlinge an der Ausreise nach Europa gehindert werden. Sollte es – wie einige Beobachter befürchten – in Zukunft zur erneuten Konfrontation zwischen dem verknöcherten Regime und einer islamistischen Massenbewegung kommen, könnte die Kabylei allerdings die Gunst der Stunde nutzen, um ihren eigenen Weg zu gehen.

Explosive Lage

»In 20 Jahren wird die Kabylei entweder frei oder salafistisch sein«, ist sich Ait-Chebib sicher. Traditionell leben die Bewohner der Kabylei eine sehr liberale Form des Sufi-Islam. Doch Not und Perspektivlosigkeit machen viele Menschen für die Einflüsterungen salafistischer Gruppierungen empfänglich, die über Geldmittel aus den Golfstaaten verfügen. Aus einigen Dörfern konnten jugendliche MAK-Anhänger radikale Imame allerdings vertreiben. Doch während ältere Kabylinnen bis heute unverschleiert in ihren traditionellen bunten Gewändern auf die Straße gehen, zeigen sich immer mehr junge Frauen verschleiert und sogar in tiefschwarzen Gewändern. Aufgrund salafistischer Drohungen trauen sich nur noch wenige Kneipen, offen Alkohol auszuschenken. So wird das in der Hafenstadt Béjaïa gebraute Bier mit dem Namen Albraü (sic!) vornehmlich im Auto genossen. Gruppen von Männern finden sich allabendlich entlang der Bergstraßen zum Trinken ein, die Straßenränder sind dort inzwischen grün von Tausenden weggeworfenen Albraü-Flaschen.

Der Textilkomplex von Draâ Ben Khedda war lange das größte Unternehmen in der 30.000-Einwohner-Stadt im Verwaltungsbezirk Tizi Ouzu. Doch Billigimporte aus dem Ausland führten in den zurückliegenden Jahrzehnten zu Rentabilitätsproblemen und dann zur Schließung der Fabriken. »Früher fanden in dem Werk 6.000 Menschen mit ihren Familien ein Auskommen, während nur wenige Dutzend in die Moscheen gingen. Heute gibt es in der Stadt zwei Großmoscheen mit Platz für 6.000 Gläubige, während nur noch einige Dutzend Menschen Arbeit haben«, weist ein Ingenieur auf die Umkehrung der Verhältnisse hin. Neben dem reli­giösen »Opium« ist es der Versorgung der Bevölkerung mit stark subventionierten Grundnahrungsmitteln zu verdanken, dass es nicht längst zu einer sozialen Explosion gekommen ist.

An den Hängen des Djurdjura, des höchsten Bergmassivs der Kabylei, weisen Schilder ein Naturschutzgebiet aus. Hier gibt es noch Kolonien wilder Berberaffen. Hilflos steht dort eine Handvoll Feuerwehrleute mit einem Spritzenwagen einer Feuerwalze gegenüber, die an einem bewaldeten Berghang wütet. Mit bloßem Auge lassen sich drei Bandherde erkennen. Es ist ein offenes Geheimnis, dass solche Brände jedes Jahr von der Armee gelegt werden. Wenn die als Brandstifter agierenden Soldaten ertappt werden, rechtfertigen sie sich, so die Verstecke von »Terroristen« zu vernichten. Doch vernichtet wird die Existenzgrundlage der Bauern. Allein Ende Oktober verwandelten mehr als 100 Brände 300 Hektar Wald und Olivenheine in Asche.

In vielen Orten erinnern Wandgemälde an Lounès Matoub. Der populäre Sänger wurde 1998 aus einem Hinterhalt erschossen. Die Regierung machte eine dschihadistische Gruppe dafür verantwortlich, doch die Umstände des Todes deuten auf das Werk staatlicher Kräfte hin. Der ermordete »Rebell« gilt heute als Symbol­figur im Ringen um den Erhalt der Berbersprache. Arabische Ortsnamen sind auf vielen Straßenschildern übermalt worden. In einigen Orten gibt es inzwischen dreisprachige Schilder: auf Arabisch, Französisch sowie Tamazigh – letzteres in Berberschrift.

Anfang des Jahres hat das algerische Parlament beschlossen, Tamazgih den Status einer offiziellen Sprache neben dem Arabischen zu verleihen. Doch wirklich entschärft wurde der Konflikt damit nicht. Denn muttersprachlicher Unterricht wird für die Berber weiterhin nicht angeboten. So sprechen die kabylischen Kinder bis zur Einschulung ihre Muttersprache. Dann werden sie auf Hoch­arabisch unterrichtet, das von dem von der Mehrheit der Algerier gesprochenen arabischen Volksdialekt erheblich abweicht, so dass sie in den ersten Schuljahren vom Unterrichtsstoff fast nichts verstehen. Erst ab der vierten Klasse wird fakultativ die Berbersprache angeboten – in arabischer Schrift, obwohl nahezu die gesamte Tamazigh-Literatur in lateinischer Schrift verfasst wurde. Zudem verweigern viele Schuldirektoren schlicht die Anstellung von Tamazigh-Lehrern.

Repression

»Die Verfassungsänderung ist nur Augenwischerei für das Ausland«, schimpft Ahmed Amrioui. Der Ingenieur, der in der DDR Maschinenbau studiert hat, und seit seiner Rente zwischen Deutschland und Algerien pendelt, nahm die Sache in die eigenen Hände. In seinem 15 Kilometer von Tizi Ouzou entfernt gelegenen Dorf Ilunisen richtete er in einer Garage das durch Spenden finanzierte und von ehrenamtlichen Pädagogen betreute »Axxam n Tmusni« – das »Haus des Wissens« – ein. Dort konnten die Kinder des Ortes Tamazigh lesen und schreiben lernen und – darauf legt Amrioui besonderen Wert – nicht-religiöses Wissen durch Bücher und Filme vermittelt bekommen. Selbst einige analphabetische Erwachsene aus dem Dorf, darunter Amriouis Bruder, lernten gemeinsam mit den Kindern Lesen und Schreiben.

Schon die Eröffnung des Freizeitheims im Jahr 2012 war argwöhnisch vom Staatsschutz überwacht worden. Eltern wurden von Behörden unter Druck gesetzt, ihre Kinder nicht mehr in das Haus des Wissens zu schicken. Schließlich ließ die Regierung diese bislang einzige Tamazigh-Schule des Landes im April 2016 schließen – wenige Wochen nach der vollmundig verkündeten Anerkennung der Berbersprache durch das Parlament. In einem Akt von Sippenhaft ließ das Innenministerium zudem Amriouis deutsche Ehefrau Monika aus Algerien ausweisen, das seit 40 Jahren ihre zweite Heimat ist. Traurig schüttelt Amrioui den Kopf: »Wie kann eine 23 Quadratmeter kleine Hütte für Kinder eine 2,38 Millionen Quadratkilometer große Republik derart in Hysterie versetzen Doch aufgeben wird der umtriebige Aktivist, an dessen Geländewagen der Spruch »Unabhängigkeit für die Kabylei« prangt, auf keinen Fall.