junge Welt 08.09.2007 / Thema / Seite 10


Kampf gegen Kornilow

Serie 90 Jahre Oktoberrevolution. Im Sommer 1917 scheiterte die Errichtung einer Militärdiktatur in Rußland – Das Blatt wendete sich zugunsten der Kommunisten

Von Nick Brauns

Im Sommer 1917 mußte es einem unvoreingenommenen Beobachter so erscheinen, als habe die russische Revolution ihren Zenit bereits überschritten. Nach der Niederschlagung der Julidemonstrationen und der Verhaftung führender Bolschewiki (siehe jW v. 24.7.) ging die Provisorische Regierung unter dem »sozialistischen« Ministerpräsidenten Alexander F. Kerenski im Bunde mit konservativen Militärkreisen daran, weitere durchgreifende Maßnahmen gegen die radikale Linke in Rußland vorzubereiten.

In der Armee wurden Sondereinheiten mit Namen wie »Todesbataillone« oder »Ritter des Georgsordens« aufgestellt, während sich in Petrograd patriotische Organisationen wie der »Bund der Ehre und Heimat« oder das »Bündnis der Militärpflicht« mit Tausenden bewaffneten Männern bildeten. Deren Ziel war es – wie die Zeitung Utro Rossii (Der Morgen Rußlands) von 25. August 1917 schrieb – eine starke, feste und unerschütterliche Macht zu errichten. »Sie muß bei der Armee beginnen«, hieß es, »und sich auf das ganze Land ausdehnen.«1

Sowjetfeind

Als zukünftigen starken Mann hatten sich die konservativen Gegenrevolutionäre General Lawr Georgijewitsch Kornilow (1870–1918) ausersehen. »In der schwersten Stunde harter Prüfungen blickt das ganze denkende Rußland auf Sie mit Hoffnung und Glauben«2, hieß es in einer Grußbotschaft einer Versammlung von »Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens« an den General. An dieser vom Millionär und Vorsitzenden des Gesamtrussischen Kongresses des Industrie- und Handelsbundes P. Rjabuschinski einberufenen Zusammenkunft nahmen Industrielle, Bankiers, Generäle, Geistliche und der Führer der noch an der Regierung beteiligten bürgerlich-liberalen Kadettenpartei Pawel N. Miljukow teil.

Kornilow hatte als Offizier der zaristischen Armee im russisch-japanischen Krieg (1904/1905) gekämpft und von 1907 bis 1911 als Militärattaché in China gedient. Als Kommandeur einer Infanterieeinheit wurde er im April 1915 in den Karpaten von österreichischen Truppen gefangengenommen. Aufgrund seiner Flucht aus der Kriegsgefangenschaft im Juli 1916 genoß er breite Verehrung als Kriegsheld unter den russischen Truppen und wurde vom Zaren mit dem Georgskreuz ausgezeichnet. Nach Ausbruch der russischen Februarrevolution übertrug ihm die Provisorische Regierung im März das Kommando über den Petrograder Militärbezirk, wo er sich in beständigem Kampf mit dem Sowjet befand und Ende April unverrichteterdinge an die Front zurückversetzen ließ. In einem Telegramm an die Provisorische Regierung vom 20. Juli 1917 forderte Kornilow die sofortige Einführung von Feldgerichten und der Todesstrafe, um die Flucht kriegsmüder Truppen zu stoppen. »Entweder wird die revolutionäre Regierung dieses Unheil beheben«, drohte der General, »oder, wenn ihr das nicht gelingt, werden durch den unvermeidlichen Lauf der Geschichte andere Menschen hervorgebracht«.3 Kornilows Warnruf wurde erhört; Kerenski ernannte den »Mann mit dem Herzen eines Löwen und dem Gehirn eines Hammels«4– wie ihn ein anderer General charakterisierte – am 1. August zum Obersten Befehlshaber der russischen Armee.

Das Programm der Gegenrevolution wurde auf einer Ende August in Moskau von Kerenski einberufenen »Staatsberatung« von über 2500 Delegierten der Gewerkschaftsbürokratie, von Berufsverbänden, Industrie- und Handelskreisen, Regierungsvertretern, der Kirche und des Offizierskorps der sozialdemokratisch dominierten Sowjets verkündet: Auflösung aller Sowjets und der Soldatenräte innerhalb der Armee, Übergabe der »von den Sowjets usurpierten« Verwaltung an die städtischen Behörden, Fortführung des Krieges »bis zum siegreichen Ende in voller Einheit mit unseren Verbündeten«, ein Ende aller »sozialen Reformen und sozialen Experimente« und energischer Kampf gegen die Bolschewiki.5 Während sich Kornilow auf der Moskauer Tagung von Bürgertum, Großgrundbesitzern und Kirchenvertretern als zukünftiger Retter des Vaterlandes feiern ließ, beschlossen 41 Moskauer Gewerkschaften auf Initiative der Bolschewiki, gegen den Willen der von den sozialdemokratischen Menschewiki und Sozialrevolutionären beherrschten Sowjets massive Proteste gegen die konterrevolutionäre Verschwörung. »Der Streik (...) verlief großartig. Es gab kein Licht, keine Trambahn; Fabriken, Betriebe, Eisenbahnwerkstätten und -depots feierten, sogar die Kellner in den Restaurants streikten«6, schilderte der Bolschewik Ossip Pjatnitzki den Ausstand von rund 400000 Moskauer Arbeitern zum Auftakt der Staatsberatung am 22. August. »Als die Stadt sich in Dunkelheit hüllte, erkannte ganz Rußland die bolschewistische Hand am Stromschalter«7, heißt es in Trotzkis »Geschichte der russischen Revolution«. Zu Streiks, Demonstrationen und Vollversammlungen von Arbeitern und Soldaten kam es unter anderem auch in Petrograd, Gus-Charustalny, Kostoma, Kiew, Tula, Nishni Nowgorod und Samara. Dabei wurde der Ruf nach Neuwahlen der Sowjets lauter.

Provozierte Unruhe

Am 3. September 1917 eroberten deutsche Truppen Riga, nachdem Kornilow den Rückzug der russischen Armee aus der Stadt angeordnet hatte. Es gibt deutliche Hinweise, daß die Besetzung Rigas von einer Offiziersverschwörung unter Einbeziehung Kerenskis gewollt war, um revolutionäre Agitation an der Front für die Niederlage verantwortlich zu machen und patriotische Erregung unter den besitzenden Schichten im Land hervorzurufen. So sollte die Stimmung für die Errichtung einer Militärdiktatur geschaffen werden. Am 5. September forderte Kerenski von Kornilow die Entsendung des 3. Kavalleriekorps nach Petrograd. Anschließend sollte der Belagerungszustand über die Hauptstadt ausgerufen, ein Aufstand der Bolschewiki durch neue Repressionsmaßnahmen provoziert und so die Handhabe für ein militärisches Vorgehen gegen die revolutionäre Linke gegeben werden. Diesen Plan hatten Kerenski und sein Vertrauter Boris W. Sawinkow, ein ehemaliger sozialrevolutionärer Bombenleger, ohne Wissen der Regierung und der Sozialrevolutionären Partei mit der Militärführung ausgeheckt. In ähnlicher Weise sollte der deutsche sozialdemokratische Reichskanzler Friedrich Ebert in der Novemberrevolution 1918 an seiner Partei vorbei einen Pakt mit der Obersten Heeresleitung schließen, dem Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und Tausende sozialistische Arbeiter zum Opfer fielen.

Im Namen des Ministerpräsidenten schlug der Reichsdumaabgeordente W. Lwow dem Oberkommandierenden am 7. September die Bildung einer breiten »Volksfront« vor. Dieses Angebot einer Teilhabe an der Macht war Kornilow nicht genug. Kerenski erschien ihm zu zögerlich, denn sein Ziel war die völlige Zerschlagung der Räte, die Vernichtung auch der gemäßigt sozialistischen Parteien und die Errichtung einer Militärdiktatur. Daher forderte Kornilow am folgenden Tag ultimativ die Übergabe der »gesamten militärischen und zivilen Macht«8 in seine Hände und ließ das 3. Kavalleriekorps direkt auf Petrograd und die Kaukasische »Wilde« Kavalleriedivision auf Zarskoje Selo sowie die 1. Donkosakendivision mit Eisenbahnen auf Gattschina vorstoßen, um Petrograd in den Zangengriff zu nehmen. »Rußland, unser großes Vaterland liegt im Sterben. Der Tag seines Endes ist nahe. Ich, General Kornilow, erkläre, daß die Provisorische Regierung unter dem Druck der maximalistischen (i. e. bolschewistischen – N.B.) Mehrheit der Komitees in völliger Übereinstimmung mit den Mitgliedern des deutschen Stabes handelt«, hieß es in einem Aufruf des meuternden Oberbefehlshabers. »Ich, General Kornilow, der Sohn eines Kosakenbauern, erkläre allen, daß ich persönlich nichts anderes begehre und im Sinne habe als die Rettung unseres großen Rußland. (...) Russisches Volk, in deinen Händen liegt jetzt das Schicksal deines Landes.«9

Ministerpräsident Kerenski, der eben noch den Kosakengeneral gegen die Bolschewiki zur Hilfe gerufen hatte, enthob diesen nun seines Postens als Oberbefehlshaber und ließ sich diktatorische Vollmachten zur Niederschlagung des Putsches geben. Die Minister der liberalen Kadettenpartei erklärten dagegen in offener Sympathie mit Kornilows Diktaturplänen am 11. September ihren Austritt aus der Regierung.

Das Kapital triumphiert

Ein allgemeiner Anstieg der Werte an der Börse signalisierte die Sympathie des Kapitals für den gegenrevolutionären Putsch. Die englische Regierung stellte Kornilow Panzerfahrzeuge nebst Fahrern zur Verfügung, und selbst im deutschen Kaiserreich begrüßte die imperialistische Presse das scheinbar nahe Ende der russischen Revolution. Über die Stimmung unter den Arbeitern und Bauern in Uniform gibt dagegen der Brief eines Soldaten vom 135. Regiment von Kertsch Aufschluß: »Wir hören an der Front, daß Kornilow die alte Ordnung wiederherstellen will«, schrieb Iwan Petrotsch Malinow in der »Prawda der Schützengräben« an die »Genossen Deputierte der Arbeiter und Soldaten«: »Wenn ihr es zulaßt, ärgert euch nicht, aber die Stellungen werden von der ganzen russischen Armee verlassen werden, und dann wird die Gegenrevolution beginnen, und zwar nicht nur im Hinterland, sondern auch an der Front. Möge der Krieg bald ein Ende haben. Rußland ist verloren, und wenn das alte Regime wiederhergestellt wird, dann kümmert die Soldaten Deutschland oder Rußland wenig. Von unsren Schützengräben aus sagen wir: Gebt uns den Frieden!«10

Angesichts der drohenden Militärdiktatur stellte sich für die Bolschewiki die Frage, ob sie nun die verhaßte Provisorische Regierung verteidigen sollten. Die richtige Taktik gab Lenin aus dem finnischen Exil in einem Brief an das Zentralkomitee vor. »Die Kerenski-Regierung dürfen wir selbst jetzt nicht unterstützen. Das wäre Prinzipienlosigkeit. Man wird fragen: Sollen wir etwa nicht gegen Kornilow kämpfen? Natürlich sollen wir das. Aber das ist nicht dasselbe; da gibt es eine Grenze, sie wird von manchen Bolschewiki überschritten, die in ›Verständigungspolitik‹ verfallen, sich vom Strom der Ereignisse mitreißen lassen. Wir werden kämpfen, wir kämpfen gegen Kornilow ebenso wie die Truppen Kerenskis, aber wir unterstützen Kerenski nicht, sondern entlarven seine Schwäche. (...) Es wäre falsch anzunehmen, daß wir uns von der Aufgabe der Eroberung der Macht durch das Proletariat entfernt haben. Nein. Wir sind dieser Aufgabe ganz erheblich näher gekommen, aber nicht direkt, sondern von der Seite her. Und auch die Agitation muß momentan nicht so sehr direkt gegen Kerenski gerichtet sein, wie indirekt gegen ihn, indirekt, indem wir den aktiven, den alleraktivsten, den wahrhaft revolutionären Krieg gegen Kornilow fordern. Einzig und allein die Entwicklung dieses Krieges kann uns an die Macht bringen, doch davon soll bei der Agitation möglichst wenig geredet werden (...) Jetzt ist es Zeit zu handeln. Den Krieg gegen Kornilow muß man revolutionär führen, indem man die Massen hineinzieht, sie in Bewegung bringt, sie entflammt (Kerenski aber fürchtet die Massen, fürchtet das Volk). Im Krieg gegen die Deutschen gilt es gerade jetzt zu handeln: sofort unbedingt den Frieden zu präzisen Bedingungen anbieten.«11

Tatsächlich war Kerenski zur Abwehr des Putsches auf die tatkräftige Hilfe der eben noch von ihm verfolgten Bolschewiki angewiesen. Der Sekretär des ZK Jakow Swerdlow führte eine Beratung mit Vertretern der bolschewistischen Zellen in den Petrograder Reserveregimentern durch, und die Militärorganisation der Bolschewiki leitete konkrete Maßnahmen zur Mobilisierung der Massen für die Verteidigung der Hauptstadt ein. Hierzu stellten die Bolschewiki einen Forderungskatalog auf; dessen Kernpunkte waren: sofortige Entfernung der konterrevolutionären Generäle aus der Truppe und ihre Ersetzung durch gewählte Führer, die Abschaffung der Todesstrafe, die Übergabe des Großgrundbesitzes an die Bauernkomitees, die gesetzliche Sicherung des Acht-Stunden-Tages und demokratische Kontrolle der Fabriken durch die Arbeiterschaft, das Selbstbestimmungsrecht der nationalen Minderheiten Rußlands, die Einberufung der Konstituierenden Versammlung sowie ein allgemeiner demokratischer Frieden. Nur durch den vollständigen Bruch der Revolution mit dem Bürgertum und die Übernahme der Macht durch die revolutionären Arbeiter, Bauern und Soldaten könnten diese Forderungen durchgesetzt und die Konterrevolution zurückgeschlagen werden, erklärten die Bolschewiki.

Die Kommunisten nutzten die Gunst der Stunde, um die nach den Juliunruhen von der Regierung entwaffneten Arbeiter wieder zu bewaffnen. Lange Schlangen bildeten sich an den Rekrutierungsstellen der neu geschaffenen Roten Garde. 60000 Rotgardisten, Soldaten und Matrosen standen schließlich zur Verteidigung Petrograds bereit. Im Kampf gegen die Konterrevolution lebten die eingeschlafenen Arbeiter- und Soldatenräte im Hinterland und an der Front wieder auf, und vielerorts bildeten sich neue »Komitees zur Verteidigung der Revolution«. »Der rebellische General hatte mit dem Fuß gestampft – und aus der Erde waren Legionen aufgetaucht: Doch es waren Legionen des Feindes«12, resümierte Leo Trotzki, der zu diesem Zeitpunkt noch als Gefangener der Provisorischen Regierung im Kresty-Gefängnis saß. Es waren allerdings auch nicht die Truppen der Provisorischen Regierung. »Jene Armee, die sich gegen Kornilow erhob, war die zukünftige Armee des Oktoberumsturzes.«13

Die Arbeiter der Putilow-Werke und anderer Betriebe erhöhten die Produktivität, um Maschinengewehre, Kanonen und Munition für die Roten Garden zu fertigen. Der Verband der Eisenbahnarbeiter demontierte Schienen, um den Bahnweg nach Petrograd für die Truppen der Gegenrevolution zu sperren. Angestellte der Telegrafenämter leiteten Befehle aus Kornilows Hauptquartier direkt an das Militärische Revolutionskomitee weiter, in dem die Bolschewiki über eine Mehrheit verfügten. Der Chauffeurverband stellte Fahrzeuge zum Transport der Rotgardisten zur Verfügung. An der Front nahmen Armeekomitees die Stäbe unter ihre Kontrolle und stellten eigene Abteilungen zur Abwehr des Putsches auf. Unter der Leitung von Michail W. Frunse gelang es dem Revolutionären Militärkomitee und dem Stab der revolutionären Truppen des Bezirks Minsk, die nach Petrograd entsandten konterrevolutionären Truppen zu isolieren.

Verbrüderung als Waffe

Die schärfste Waffe gegen die Konterrevolution war die Verbrüderung. Der kaukasischen »Wilden Division« wurde eine moslemische Delegation entgegengeschickt, der auch der Enkel des berühmten tschetschenischen Freiheitskämpfers Chamil angehörte. Schnell war eine gemeinsame Sprache gefunden, und eine rote Fahne mit der Aufschrift »Land und Freiheit« wurde über dem Zug der Bergkrieger gehißt. Die Truppe, die eben noch ihrem »obersten Helden« Kornilow versichert hatte, »ihren letzten Tropfen Blut«14 für die Heimat zu vergießen, unterwarf sich Stunden später der Provisorischen Regierung. Auf der ganzen Front um Petrograd verbrüderten sich die von den Putschgenerälen getäuschten Truppen mit revolutionären Arbeitern und Soldaten oder zogen sich freiwillig zurück. Die Verschwörer in Petrograd traten überhaupt nicht in Erscheinung, ihre Führer wurden betrunken in Vorstadtrestaurants aufgefunden oder setzten sich mit Organisationsgeldern ins Ausland ab.

Der Putschversuch General Kornilows scheiterte Mitte September, ohne daß es zu einem einzigen Kampf kam. Neben einer schlecht durchgeführten militärischen Vorbereitung des Aufstandes – allein den 1350 Kämpfern der »Wilden Division« fehlten 600 Gewehre und 500 Säbel – mangelte es den Putschisten schlicht an der Unterstützung der Bevölkerung. Die Bauern wußten, daß ein Sieg Kornilows das Ende ihrer Träume vom eigenen Land bedeutete, und die einfachen Soldaten waren voller Haß gegenüber Offizieren, die sie mit der Reitpeitsche gedemütigt und die Todesstrafe wieder eingeführt hatten. Ein einziger Schuß fiel am Ende doch. General Krymow, ein von Kornilow an die Spitze der auf Petrograd marschierenden Truppen gestellter erfahrener gegenrevolutionärer Verschwörer, erschoß sich nach seiner Verhaftung durch die Provisorische Regierung.

Erst die Abwehr der Militärdiktatur bewog Kerenski am 14. September – ein halbes Jahr nach dem Sturz der zaristischen Selbstherrschaft – die Republik auszurufen. Menschewiki und Sozialrevolutionäre weigerten sich, der neu gebildeten Regierung beizutreten, um sich nicht noch weiter in den Augen der Massen zu diskreditieren. Die Kadettenpartei wiederum mißbilligte Kerenskis Vorgehen gegen Kornilow. Kerenski war gezwungen, ein unrepräsentatives fünfköpfiges »Direktorium zur Wiederherstellung der erschütterten Staatsordnung« zu bilden, das weiterhin versuchte, das konterrevolutionäre Programm Kornilows mit anderen Mitteln umzusetzen. Lenin charakterisierte Kerenski daher als »Kornilowianer, der sich zufällig mit Kornilow verzankt hat und mit den übrigen Kornilowianern weiter im intimsten Bundes bleibt.«15

Kornilow und weitere Putschoffiziere wurden von der Provisorischen Regierung zwar verhaftet, aber niemals verurteilt. Nach der Oktoberrevolution gelang Kornilow die Flucht, er fiel im April 1918 im Kampf der Weißgardisten gegen die Bolschewiki im Kaukasus.

Jähe Wendung

Die von Lenin vorgeschlagene Taktik, die Kompromißparteien der Provisorischen Regierung im praktischen Kampf zu entlarven, war aufgegangen. Die Bolschewiki, die sich in den Augen des Volkes als die tatkräftigsten Verteidiger der Revolution gezeigt hatten, konnten einen Zustrom neuer Mitglieder vermelden, während die Menschewiki rapide an Unterstützung in der Arbeiterschaft verloren und sich von den Sozialrevolutionären ein linker Flügel abspaltete, der mit den Bolschewiki sympathisierte. Der Stimmungswandel wurde im Petrograder Sowjet deutlich, wo Grigori J. Sinowjew und der am 17. September gegen Kaution aus dem Gefängnis entlassene Trotzki im Namen der Bolschewiki eine Untersuchung der Hintergründe des Kornilow-Putsches und insbesondere der Rolle Kerenskis darin forderten. Weil sich Sozialrevolutionäre und Menschewiki weigerten, Kerenski von ihrer Wahlliste zu nehmen, erhielten die Bolschewiki am 22. September erstmals die Mehrheit bei einer Abstimmung im Sowjet. Die Delegierten entschieden sich für die von den Bolschewiki vorgeschlagene Resolution, in der die Zusammenarbeit mit bürgerlichen Kräften verurteilt, die Übernahme der ganzen Macht durch die Sowjets und die revolutionäre Umgestaltung des Landes gefordert wurde. Nachdem die Bolschewiki auch in Moskau und anderen Sowjets die Mehrheit erhielten, trat die noch beim VI. Parteitag Mitte August auf Lenins Drängen zurückgestellte Losung »Alle Macht den Sowjets« wieder auf die Tagesordnung. Jetzt bedeutete diese Losung allerdings nicht Macht für die Versöhnler mit der Provisorischen Regierung, sondern für die Bolschewiki als Repräsentanten der neuen Mehrheit.

Wieder einmal hatte die Revolution eine jähe Wendung genommen. Der gescheiterte Putsch öffnete breiten Kreisen der russischen Arbeiter und Bauern die Augen über den volksfeindlichen Charakter der Kerenski-Regierung und rief die größte Umgruppierung der Kräfte vor der Oktoberrevolution zugunsten der Kommunisten hervor.



1 zit. n. Albert Nenarokow, Geschichte der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution in Wort und Bild, Köln 1987, S. 189

2 Ebd., S. 189

3 Ebd., S. 189

4 Leo Trotzki, Geschichte der russischen Revolution–Oktoberrevolution, Berlin 1933, S. 134

5 Nenarokow, S. 190

6 zit. n. Trotzki, Revolution, S. 138

7 ebd., S. 139

8 Nenarokow 194

9 Die Russische Revolution in Augenzeugenberichten, München 1977, S. 333 f.

10 Ebd., S. 336

11 Lenin Werke, Bd. 25, S. 292-296

12 Trotzki, Revolution, S. 213

13 Leo Trotzki, Mein Leben, Berlin 1930, S. 305

14 zit. n. Trotzki, Revolution, S. 205

15 Ebd., S. 301



Teil I (Ein Zug mit brisanter Fracht. Lenins Reise in das revolutionäre Rußland) erschien am 5.4., Teil II (Die »Aprilthesen« Lenins – Frieden, Sowjetmacht, Partei) am 20.4; beide Folgen verfaßte Günter Judick. Am 24.7. (Teil III) schrieb Werner Pirker über die Juli-Ereignisse 1917. Die Serie wird fortgesetzt.