07.11.2007 / Thema / Seite 10
Das russische Reich wurde im Herbst 1917 immer stärker von
einer gesamtnationalen Krise erfaßt. Die Wirtschaft verfiel
zusehends, der Zusammenbruch der Staatsfinanzen drohte, Hungerunruhen
erschütterten das Land. Hunderttausende Soldaten begannen, die
Friedensfrage auf eigene Faust zu lösen, indem sie von der Front
desertierten. Bauern brannten die Gutshöfe nieder und besetzten
die Ländereien. Eine Streikwelle durchzog das Land, Arbeiter
sperrten die Betriebsleiter ein. In den nichtrussischen Landesteilen
des Zarenreiches – so in der Ukraine, in Belarus, Polen,
Bessarabien, im Baltikum und in Finnland – wurde die Forderung
nach Unabhängigkeit lauter.
Die Provisorische Regierung
unter dem Sozialrevolutionär Alexander Kerenski konnte
keine der Forderungen der Volksmassen nach Brot, Land und Frieden
einlösen. Statt dessen befahl Kerenski, das Kriegsrecht gegen
die aufständischen Bauern anzuwenden. Gegen Landbesetzer ließ
er ebenso eine Strafexpedition marschieren wie gegen den Sowjet von
Taschkent. Um der wachsenden Arbeiterbewegung entgegenzutreten,
schlossen viele Unternehmer ihre Betriebe und warfen Zehntausende
Arbeiter auf die Straße.
Das noch von den
sozialdemokratischen Menschewiki und den bäuerlich-sozialistischen
Sozialrevolutionären beherrschte Zentralexekutivkomitee der
Sowjets versuchte, die wachsende Unzufriedenheit durch die
Einberufung einer »Gesamtrussischen Demokratischen Beratung«
für den 14. September aufzufangen. Auf ihr standen die
mittlerweile meist auf bolschewistische Positionen übergegangenen
Räte als Minderheit kommunalen Selbstverwaltungsorganen und
Genossenschaften gegenüber. Letztere entsprachen in ihrer
Zusammensetzung längst nicht mehr der gegenwärtigen
Radikalisierung, sicherten aber den gemäßigten Sozialisten
eine solide Mehrheit, mit der sie die Bildung eines »Vorparlaments«
beschlossen. Das Vorparlament unterstützte die Neubildung der
Provisorischen Regierung mit Kerenski an der Spitze unter
Einbeziehung der bürgerlichen Kadettenpartei, die zuvor noch
offen mit dem gescheiterten Putsch von General Lawr Kornilow (siehe
jW v. 8.9.2007) und der Errichtung einer Militärdiktatur
sympathisiert hatte. Natürlich konnte auch diese
bürgerlich-sozialdemokratische Koalitionsregierung die Krise des
Landes nicht lösen. Es bildete sich eine klassisch revolutionäre
Situation heraus, in der die Herrschenden nicht mehr weitermachen
konnten wie bisher, die Beherrschten aber nicht mehr gewillt waren,
sich der alten Herrschaft zu beugen.
Lenin hatte dies in seinem finnischen Exil, wohin er aufgrund
eines Haftbefehls der Kerenski-Regierung nach den Juli-Unruhen
fliehen mußte, besser erkannt als viele führende
Bolschewiki in Rußland. »Nachdem die Bolschewiki in den
Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten beider Hauptstädte
die Mehrheit erhalten haben, können und müssen sie die
Staatsmacht in ihre Hände nehmen« (LW 26, S. 1), drängte
er in einem Brief an das ZK »Die Bolschewiki müssen die
Macht ergreifen«, geschrieben 25.–27. September, zum
Aufstand. Denn nur die Bolschewiki besaßen ein dem Volk
verständliches Programm, womit das Land aus der Krise geführt
werden konnte. Die wichtigsten Maßnahmen dieses
Übergangsprogramms, daß an den unmittelbaren Bedürfnissen
der Massen anknüpfte, in seiner Konsequenz aber zur Beseitigung
der kapitalistischen Schranken führte, hatte Lenin zuvor in dem
Artikel »Die drohende Katastrophe und wie man sie bekämpfen
soll« zusammengefaßt: »1.Vereinigung aller Banken
zu einer einzigen Bank und staatliche Kontrolle über ihre
Operationen oder Nationalisierung der Banken. 2. Nationalisierung der
Syndikate, d. h. der größten, der monopolistischen
Verbände der Kapitalisten (Zucker-, Erdöl-, Kohlen-,
Hüttensyndikat usw.). 3. Aufhebung des Geschäftsgeheimnisses.
4. Zwangssyndizierung (d.h. Zwangsvereinigung in Verbänden) der
Industriellen, Kaufleute und Unternehmer überhaupt.
5.Zwangsvereinigung der Bevölkerung in Konsumgenossenschaften
oder Förderung einer solchen Vereinigung und Kontrolle über
sie« (LW 25, S. 337f.). Die konsequente Realisierung dieser
Maßnahmen bedeutete jenen entschlossenen Schritt zum
Sozialismus, vor dem die sozialdemokratischen Parteien
zurückschreckten. Die Alternative aber war der Zusammenbruch des
Landes und die Errichtung einer Militärdiktatur im Interesse der
Kapitalisten, Großgrundbesitzer und der mit Rußland
verbündeten imperialistischen Westmächte. Die einzige
Chance zur Rettung der Revolution bestand so in der Übernahme
der Macht durch die in den Räten führenden Bolschewiki.
Einen Mittelweg gab es nicht. Doch das Zentralkomitee (ZK) der
Bolschewiki zögerte und beschloß erschrocken, Lenins Brief
mit der Aufstandslosung zu verbrennen. Wie schon in den Apriltagen
fand sich Lenin in Opposition zum Zentralkomitee, dem er Passivität
und Versöhnlertum vorwarf. In seiner Verzweiflung hatte er sogar
seinen Austritt aus dem ZK beantragt, um sich die Freiheit der
Agitation in den unteren Parteiorganisationen und auf dem Parteitag
vorzubehalten.
Gegen die ausdrückliche Weisung seiner
Genossen kehrte Lenin am 20. Oktober 1917 getarnt als Priester ohne
Bart, aber mit Perücke in die russische Hauptstadt zurück.
Dort konnte er am 23. Oktober seine Aufstandspläne endlich
direkt vor dem Zentralkomitee vortragen. Es sei eine gewisse
Gleichgültigkeit für die Frage des Aufstandes zu
beobachten, kritisierte er. Die internationale Lage – ein
Aufstand in der deutschen Flotte als Ausdruck des Heranwachsens der
sozialistischen Revolution in ganz Europa; die Gefahr eines
Friedensschlusses zwischen den kämpfenden imperialistischen
Lagern mit dem Ziel, die russische Revolution zu erdrosseln;
Kerenskis Absicht, das revolutionäre Petrograd den Deutschen
auszuliefern; die Vorbereitung eines weiteren gegenrevolutionären
Putsches; landesweite Bauernaufstände und die Eroberung der
Mehrheit in den Sowjets durch die Bolschewiki – all dies setzte
den bewaffneten Aufstand auf die Tagesordnung.
Nach einer
zehnstündigen erregten Debatte stimmten im Morgengrauen des 24.
Oktober zehn ZK-Mitglieder für die von Lenin mit einem
Bleistiftstummel auf einer karierten Schulheftseite hastig
niedergeschriebene Resolution, in der es heißt: »Das
Zentralkomitee stellt somit fest, daß der bewaffnete Aufstand
unumgänglich und völlig herangereift ist« (LW 26, S.
178). Ohne einen genauen Termin festzulegen, einigten sich die
ZK-Mitglieder darauf, den Aufstand unmittelbar vor dem kommenden
allrussischen Sowjetkongreß durchzuführen und anschließend
von diesem legitimieren zu lassen.
Gegen die Aufstandslosung
votierten Grigori J. Sinowjew und Lew B. Kamenew. Eine solche Aktion
sei verfrüht. Vielmehr gehe es darum, im Rahmen einer
Doppelherrschaft aus konstituierender Versammlung, in der die
Bolschewiki eine starke Oppositionskraft bilden würden, und
Sowjets, in denen die Bolschewiki in der Mehrheit waren, die Macht zu
erobern. Unter offener Mißachtung der Parteidisziplin verrieten
Sinowjew und Kamenew den noch nicht veröffentlichten
Aufstandsbeschluß in einer nichtbolschewistischen Zeitung.
Lenin empörte sich über dieses »Streikbrechertum«
seiner langjährigen Weggefährten: »Ich sage offen,
daß ich beide nicht mehr als Genossen betrachte und mit aller
Kraft sowohl im ZK als auch auf dem Parteitag für den Ausschluß
der beiden aus der Partei kämpfen werde« (LW 26, S. 205).
Rückendeckung bekamen die »Streikbrecher« dagegen
vom Chefredakteur der Rabotschi Put, Josef Stalin, der die »Schärfe«
des Leninschen Briefes rügte und seine »wesentliche«
Gesinnungsgenossenschaft mit Sinowjew und Kamenew bekundete.
Am 25. Oktober beschloß das Exekutivkomitee des Petrograder
Sowjets die Errichtung eines Revolutionären Militärkomitees
(RMK) aus Vertetern der Sowjets, des Zentralkomitees der baltischen
Flotte, des Finnischen Gebietskomitees, der Betriebskomitees und der
Militärorganisation beim ZK der Bolschewiki. Offiziell diente
dieses von Leo Trotzki geleitete Komitee – dem sich die
Petrograder Garnison ebenso bereitwillig unterstellte wie die seit
der Niederschlagung des Kornilow-Putsches bestehende rotgardistische
Arbeitermiliz – als revolutionärer Stab zur Verteidigung
der Stadt gegen eine drohende deutsche Offensive, gegen Pogrome und
zur Aufrechterhaltung der revolutionären Disziplin unter
Soldaten und Arbeitern. Doch praktisch war das RMK das legale Organ
zur Umsetzung des Aufstandsplans.
Zu einer gewaltigen
Heerschau der revolutionären Kräfte wurde der »Tag
des Petrograder Sowjets« am 4. November. In Betrieben und
Truppenteilen, Konzerthallen, Kinos und im Zirkus fanden
Massenkundgebungen statt. Die Stadt wurde überflutet von
revolutionären Arbeitern, Bauern und Soldaten.
Eine
gegenrevolutionäre Verschwörung stand unmittelbar bevor.
Der Stab der Petrogarder Garnison, der das RMK nicht anerkannte, ließ
Offiziersschüler in die Stadt einrücken. Am frühen
Morgen des 6. November wurde die Druckerei des bolschewistischen
Zentralorgans Rabotschi Put von den Offiziersschülern
geschlossen und das Telefonamt besetzt. Das RMK schickte eine
Abteilung Matrosen zu diesem Amt und stellte zwei kleine Geschütze
auf. So begann die Eroberung der Verwaltungsorgane durch die
Bolschewiki.
Ohne Blutvergießen öffneten
Rotgardisten die Druckerei der Rabotschi Put wieder. Um 14 Uhr
erschien die Zeitung mit dem Aufruf zum Sturz der Provisorischen
Regierung: »Alle Macht den Sowjets der Arbeiter, Soldaten und
Bauern! Friede, Land, Brot!« Entweder die Macht verbleibe in
den Händen der Bourgeoisie und Gutsbesitzer, hieß es –
das bedeute Fortsetzung des Krieges, Hunger und Tod –, oder die
revolutionären Arbeiter, Bauern und Soldaten übernehmen die
Macht. Das sei die Zerschmetterung der Gutsbesitzertyrannei und die
Niederlage der Kapitalisten. Die Bauern würden das Land
erhalten, die Arbeiter die Kontrolle über die Industrie, die
Hungernden Brot, ein sofortiger gerechter Frieden werde verkündet,
versprachen die Bolschewiki.
Zum Schutz des Petrograder
Sowjets im Smolny ließ das RMK zum Schrecken der
Sozialdemokraten eine Maschinengewehrabteilung aufziehen. »Es
ist sonnenklar, daß jetzt eine Verzögerung des Aufstands
schon wahrhaftig den Tod bedeutet«, warnte Lenin an diesem
Abend. »Man muß um jeden Preis heute abend, heute nacht
die Regierung verhaften« (LW 26, S. 223).
In dieser
Nacht besetzten revolutionäre Truppenteile, Kronstädter
Matrosen und Rotgardisten nach dem zuvor von Trotzki ausgearbeiteten
Plan fast lautlos die Regierungsgebäude, Post- und
Telegraphenämter, Bahnhöfe, das Elektrizitätswerk und
die Zentralbank. Nirgendwo stießen sie auf wirklichen
Widerstand, häufig wurden sie von revolutionären Arbeitern
schon erwartet. Beobachter vermerkten erstaunt, daß selbst die
Straßenbahnen während der Revolution weiterfuhren.
Rotgardisten verhinderten, daß die Brücken über die
Newa aufgezogen wurden, um die Innenstadt von den Arbeiterbezirken
abzuriegeln. Am Morgen des 7. November befand sich Petrograd mit
Ausnahme des Winterpalais, in dem sich die Provisorische Regierung
verschanzt hatte, unter der Kontrolle der Revolutionäre.
»Die
Provisorische Regierung ist gestürzt«, erklärte Lenin
um 10 Uhr vormittags in einem Aufruf des RMK »an die Bürger
Rußlands«. »Die Sache, für die das Volk
gekämpft hat: das sofortige Angebot eines demokratischen
Friedens, die Aufhebung des Eigentums der Gutsbesitzer am Grund und
Boden, die Arbeiterkontrolle über die Produktion, die Bildung
einer Sowjetregierung – sie ist gesichert« (LW 26, S.
227). Zu diesem Zeitpunkt flüchtete Kerenski in einem Wagen der
US-Botschaft zu den Truppen der Nordfront.
Erstmals nach den
Juli-Unruhen trat Lenin am Nachmittag auf einer Sitzung des
Petrograder Sowjets wieder an die Öffentlichkeit. »Die
unterdrückten Massen werden selbst die Staatsmacht schaffen. Der
alte Staatsapparat wird von Grund aus zerschlagen und ein neuer
Verwaltungsapparat in Gestalt der Sowjetorganisationen geschaffen
werden«, kündigte er an. »In Rußland müssen
wir jetzt den Aufbau des proletarischen sozialistischen Staates in
Angriff nehmen« (LW 26, S. 228 f.). Als Verbündete
benannte Lenin die Arbeiterbewegung in den anderen kriegführenden
Staaten und seine Rede schloß mit dem Ruf: »Es lebe die
sozialistische Weltrevolution.«
Gegen 18 Uhr hatten die
Revolutionäre den Winterpalast umzingelt. Der Sturm auf das von
Offiziersschülern und einem Frauenbataillon verteidigte Gebäude
begann gegen 21 Uhr mit dem berühmten Signalschuß des in
der Newa vor Anker gegangenen Kreuzers »Aurora«. Die
eingedrungenen Soldaten und Matrosen stießen nur auf geringen
Widerstand. »Im nächsten Raum trafen wir auf eine ganze
Gruppe von Menschen, die die Provisorische Regierung darstellten. Sie
saßen am Tisch, ein gräulich bleicher, zitternder Fleck«,
schilderte der mit einem Künstlerhut und Zwicker gekleidete
Sekretär des RMK, Wladimir Alexandrowitsch Antonow-Owsejenko.
»Im Namen des Revolutionären Militärkomitees erkläre
ich Sie für verhaftet!« Die Minister wurden in die Kerker
der Peter-Pauls-Festung gebracht.
Beim Sturm des
Winterpalastes waren fünf revolutionäre Matrosen und ein
Soldat getötet worden, auf Seite der Verteidiger gab es keine
Toten. Daß diese sechs Gefallenen die einzigen Toten der
Oktoberrevolution in Petrograd blieben, zeigt, wie morsch das alte
bürgerliche System und wie gering die Unterstützung für
die Provisorische Regierung bereits war.
Während noch Schüsse vom
Winterpalast ertönten, eröffnete Kamenew um 22.45 Uhr
nachts im Smolny, einer ehemaligen Klosterschule für adelige
Mädchen, den Zweiten Gesamtrussischen Kongreß der
Arbeiter- und Soldatendeputierten. Von den 649 Delegierten gehörten
jetzt 390 zu den Bolschewiki, 160 zu den Sozialrevolutionären
und 72 zu den Menschewiki. Angesichts dieser Mehrheitsverhältnisse
verließen die rechten Sozialrevolutionäre und Menschewiki
unter Protest gegen die Erstürmung des Winterpalastes den
Kongreß. Im Namen der bolschewistischen Fraktion verlas Anatoli
Lunatscharski den von Lenin verfaßten Aufruf »An die
Arbeiter, Soldaten und Bauern!«. Darin wurde die Übernahme
der ganzen Macht durch die Räte verkündet, und diese wurden
beauftragt, eine revolutionäre Ordnung zu gewährleisten. Um
fünf Uhr morgens bestätigte der Kongreß dieses
Dokument bei zwei Gegenstimmen und zwölf Enthaltungen. Damit
wurde Rußland zur Räterepublik.
Die folgende
Sitzung des Sowjetkongresses in der Nacht zum 9. November dominierte
Lenin. Nach minutenlangem Applaus verlas er eine »Proklamation
an alle kriegführenden Völker und Regierungen«, in
der der imperialistische Krieg zum größten Verbrechen an
der Menschheit erklärt und ein sofortiger Frieden ohne
Annexionen und Kontributionen angeboten wurde. Die Sowjetregierung
werde die Geheimdiplomatie abschaffen und alle Verhandlungen offen
vor dem Volk führen. Geheimverträge der Provisorischen
Regierung, die den Zweck hatten, den russischen Gutsbesitzern und
Kapitalisten Privilegien zu verschaffen und die Annexion der
Großrussen auf Kosten anderer Völker aufrechtzuerhalten,
würden bedingungslos und sofort gekündigt. Abschließend
folgte ein Aufruf an die »klassenbewußten Arbeiter der
drei fortgeschrittensten Nationen der Menschheit und der größten
am gegenwärtigen Krieg beteiligten Staaten: Englands,
Frankreichs und Deutschlands«, »die Sache des Friedens
und zugleich damit die Sache der Befreiung der werktätigen und
ausgebeuteten Volksmassen von jeder Sklaverei und jeder Ausbeutung
erfolgreich zu Ende zu führen« (LW 26, S. 241 f.).
Einstimmig wurde diese erste Deklaration der Sowjetmacht, die den
Ausstieg Rußlands aus dem gegenseitigen Völkermorden
bedeutete, angenommen und mit dem Absingen der Internationale
gefeiert.
Um zwei Uhr wurde das nächste Versprechen der
Revolution eingelöst. »Das Eigentum der Gutsbesitzer am
Grund und Boden wird unverzüglich ohne jede Entschädigung
aufgehoben«, verkündete das »Dekret über Grund
und Boden« (LW 26, S. 249). Die Verwaltung der
entschädigungslos enteigneten Ländereien wurde den
Landkomitees und Bauernräten anvertraut. Als Richtlinie für
die zukünftige Bodenverteilung sollten die vom
sozialrevolutionär dominierten Rat der Bauerndeputierten
festgelegten Anweisungen dienen, das Land denen zur Nutzung zu
überlassen, die es selbst bearbeiten wollten. Weiterverkauf oder
die Beschäftigung von Lohnarbeitern auf diesem Land sollte
verboten werden. Das »Dekret über Grund und Boden«
ist ein Meisterstück von Lenins »revolutionärer
Realpolitik« (Georg Lukács). Um die Millionenmasse der
Bauern, die auch innerhalb der Armee absolut dominierten, für
die Revolution zu gewinnen oder sich wenigstens ihre wohlwollende
Neutralität zu erkaufen und ein politisches Bündnis mit der
neu entstandenen Partei der Linken Sozialrevolutionäre zu
schließen, übernahm Lenin kurzerhand deren Programm in der
Landfrage. »Als demokratische Regierung können wir einen
Beschluß der Volksmassen nicht umgehen, selbst wenn wir mit ihm
nicht einverstanden wären« (LW 26, S. 252), begründete
Lenin diese vorübergehende Abkehr vom marxistischen Programm der
Kollektivierung der Landwirtschaft zugunsten von Kleinfarmen. »Das
Leben ist der beste Lehrmeister, es wird zeigen, wer recht hat; mögen
die Bauern an die Lösung dieser Frage von dem einen Ende
herangehen und wir von dem anderen. [...] Das Wesentliche ist, daß
die Bauernschaft die feste Überzeugung gewinnt, daß es auf
dem Lande keine Gutsbesitzer mehr gibt, daß es den Bauern
selbst überlassen wird, alle Fragen zu entscheiden, selbst ihr
Leben zu gestalten« (LW 26, S. 252 f.).
Schließlich
konstituierte sich auf dem Sowjetkongreß die Arbeiter- und
Bauernregierung, deren Minister sich zur Abgrenzung von bürgerlichen
Kabinetten Rat der Volkskommissare nannten. Da die Linken
Sozialrevolutionäre nicht bereit waren, dieser Regierung
beizutreten, solange die anderen sozialistischen Parteien abseits
standen, gehörten dem Rat der Volkskommissare nur Bolschewiki
an. Lenin wurde dessen Vorsitzender und damit russischer
Regierungschef. Trotzki war für die Außenpolitik
zuständig, Stalin für Nationalitätenfragen. Militär-
und Marineangelegenheiten wurden einem dreiköpfigen Komitee von
Alexandrowitsch Antonow-Owsejenko, Nikolai W. Krylenko und Pawel J.
Dybenko übertragen. Volkskommissar für Volksaufklärung
wurde Anatoli W. Lunatscharski. Abschließend erfolgte die
Neuwahl des 101köpfigen Zentralexekutivkomitees der Räte,
in das neben 62 Bolschewiki auch 29 linke Sozialrevolutionäre
gewählt wurden.
Eine Episode am Rande beschreibt Trotzki:
»Die Macht ist erobert, mindestens in Petrograd. Lenin hat noch
keine Zeit gehabt, seinen Kragen zu wechseln. Auf dem müden
Gesicht wachen Lenins Augen. Sie blicken auf mich freundschaftlich
milde, mit eckiger Verlegenheit innere Nähe ausdrückend.
›Wissen Sie‹, sagte er zögernd, ›gleich
nach den Verfolgungen und der Illegalität zur Macht (…)‹,
er suchte nach einem Ausdruck, geht plötzlich in die deutsche
Sprache über: ›es schwindelt‹. Er macht eine
kreisende Handbewegung um den Kopf. Wir blicken einander an und
lächeln kaum. Das Ganze dauert kaum eine bis zwei Minuten. Dann
– einfacher Übergang zu den laufenden Geschäften«
(L. Trotzki: Mein Leben, Berlin 1930, S. 323).