„Kämpfer gegen bürgerlich-sozialdemokratische Heuchelei“

Karl Kraus und die Rote Hilfe Österreichs

 

Von Nick Brauns

 

 Nachdem ein Wiener Geschworenengericht am 14.Juli 1927 rechtsextreme Frontkämpfer frei sprach, die im Burgenländischen Ort Schattendorf auf eine Demonstration der sozialdemokratischen Wehrorganisation „Republikanischer Schutzbund“ geschossen und dabei zwei Personen getötet hatten, entlud sich die aufgestaute Wut der Wiener Arbeiterschaft am folgenden Tag in spontanen Streiks und Massendemonstrationen. Nach Polizeiangriffen mit blanken Säbeln erstürmte die Menge den Justizpalast und setzte das verhasste Symbol der Klassenjustiz in Brand. Nun eröffneten 600 mit Mannlicher-Gewehren bewaffnete Polizisten unter ihrem Polizeipräsidenten Johann Schober das Feuer auf die Menge.  Fliehende Arbeiter wurden wie die Hühner abgeknallt. 86 tote Arbeiter und vier tote Polizisten sowie über 1000 Verwundete waren die Folge von zwei Tagen blutiger Massaker.  Über 1300 Arbeiter wurden verhaftet. Die folgenden Wochen wurden zur Bewährungsprobe der Roten Hilfe Österreichs (RHÖ), der unter ihrer kommunistischen Vorsitzenden Malke Schorr neben KPÖ-Mitgliedern und Parteilosen auch zahlreiche Sozialdemokraten angehörten. Trotz polizeilicher Repression -  der sozialdemokratische Bürgermeister von Wien Karl Seitz hatte der RHÖ das Sammeln von Geldern für die Opfer der Kämpfe verboten - wurde die Rote Hilfe zu einer zentralen Sammelstelle für Augenzeugenberichte der Ereignissen des 15.Juli. Dem Versuch des Polizeipräsidenten Johann Schober, in einem „Weißbuch“ den Opfern des Polizeimassakers die Schuld zu geben, trat die Rote Hilfe Ende Januar 1928 mit einem „Rotbuch“ entgegen. Darin legte sie Rechenschaft über ihre Hilfsaktion ab, die sie mit der umfangreichen finanziellen Hilfe der deutschen Schwesterorganisation und sowjetischer Gewerkschaften geleistet hatte. 43.800 Schilling, das entsprach 250 durchschnittlichen Monatseinkommen eines Arbeiters, wurden zur Unterstützung der Opfer ausgegeben. Bis zum ersten Jahrestag des Polizeimassakers im Jahre 1928 stieg die Summe auf 51.500 Schilling. Nur 15 Prozent der Unterstützten waren Kommunisten, der Rest Sozialdemokraten oder Parteilose.[1]

Doch nicht nur aus der internationalen Arbeiterbewegung erhielt die Rote Hilfe Unterstützung in ihrem Kampf für die Freilassung der zahlreichen Juli-Gefangenen und ihrer Forderung, die verantwortlichen Politiker für das Massaker zur Rechenschaft zu ziehen. „An den Polizeipräsidenten von Wien Johann Schober / Ich fordere Sie auf, abzutreten“ - hieß es auf Plakaten, die im September 1927 an Wiener Litfaßsäulen geklebt waren. Unterzeichnet war die Rücktrittsaufforderung von Karl Kraus, dem Herausgeber der seit 1899 erscheinenden satirischen Zeitschrift Die Fackel. Das „Fanal der Republik“, als das der niedergeschlagene Juliaufstand wirkte, hatte den liberalen Publizisten und scharfzüngigen Intellektuellen Kraus, der bislang eher als Wegbegleiter der Sozialdemokratie wahrgenommen wurde, an die Seite der Roten Hilfe Österreichs geführt. Ebenso, wie diese in ihrem Rotbuch, dokumentierte Kraus in seiner Fackel Zeugenaussagen über die Ereignisse des 15.Juli, die bewiesen, dass Polizeipräsident Schober die volle Verantwortung für das Massaker traf.

Am Sonntag 23. Oktober 1927 veranstaltete die Rote Hilfe in Weigls Antoniesaal eine Lesung mit Karl Kraus zugunsten der Juliopfer. Die Zeitung der RHÖ berichtete: „Wie vorauszusehen war, ist der Saal lange vor Beginn überfüllt gewesen. Unsere Mitglieder – und besonders die Arbeiter – hatten zum ersten Mal Gelegenheit, Karl Kraus zu hören. Die Szenen aus dem Buche Die letzten Tage der Menschheit, welches in so treffender Weise die Greueltaten und die Absurditäten des Krieges schildert, wurden durch die herrliche Vorlesung von Kraus plastisch dargestellt. Gerade jetzt, wo die internationale Bourgeoisie zu neuen Kriegen rüstet, wo die Antisowjetfront durch den englischen Imperialismus formiert wird und wo die Gefahr eines Krieges wieder droht, hat die Vorlesung eine besondere Bedeutung. Der Applaus und die nicht enden wollenden Rufe haben gezeigt, welche Wirkung die Vorlesung hervorrief. Zum Schluss wurde die Internationale gesungen.“[2]

Eine weitere Kraus-Lesung am 17.November des folgenden Jahres war – obwohl Eintrittskarten nur an Rote-Hilfe-Mitglieder vergeben wurden, so überfüllt, dass viele keinen Einlass mehr fanden. Der Reingewinn von 615 Schilling ging auf Kraus` Wunsch zu Gänze an die Opfer des 15.Juli und die politischen Gefangenen. „Mit großem Applaus dankte das Publikum Karl Kraus für seinen herrlichen Vortrag Das Schober-Lied, welches den Polizeipräsidenten Schober so trefflich charakterisiert. Die Sonderausgabe der Fackel mit diesem Liede hat an diesem Abend besonders starken Absatz gefunden.“[3] Mit dem beißend formulierten Schober-Lied aus seinem Vierakter Die Unüberwindlichen rechnete Kraus mit dem Polizeipräsidenten Schober und dessen Verständnis von Pflichtbewusstsein ab. "Ja das ist meine Pflicht, bitte sehn S’ denn das nicht. Das wär’ so a G’schicht, tät’ ich nicht meine Pflicht. Auf die Ordnung erpicht, bin ich treu meiner Pflicht. Wenn ein Umsturz in Sicht, ich erfüll’ meine Pflicht. Die Elemente vernicht’ ich bezüglich der Pflicht“, heißt es da.

Kraus äußerte den Wunsch, dass dieses nach der Melodie von „Üb` immer Treu und Redlichkeit“ gesungene Lied zum „Gassenhauer aus Proletarierwohnungen“ würde. Hauptsächlich von der Roten Hilfe wurde das Schoberlied mit 19.000 Exemplaren zum Preis von 10 Groschen zugunsten der Opfer des 15.Juli vertrieben. Schober ordnete ein Kolportageverbot der Spottverse an und die Sozialdemokratie weigerte sich feige, den Text in ihrer Arbeiter-Zeitung zu veröffentlichen. Die Zensur heizte den Verkauf erst Recht an: „Einem unserer Kolporteure, der vorgestern in der Postgasse innerhalb einer Stunde von 200 Exemplaren des Schober-Liedes 197 verkauft hatte, sind von der dortigen Wachstube die restlichen 3 konfisziert worden“, teilte die Rote Hilfe mit.[4] Als Rote Helfer auf dem Wiener Arbeiter-Sängerfest am 5.August 1928 das Schober-Lied verkaufen wollte, wurden sie von den sozialdemokratischen Ordnern daran gehindert. So mussten die Roten Helfer in  die Nähe der Sängerhalle ausweichen, wo sie nach einer Stunde von der Polizei verhaftet wurden. „Schon wieder einer von Ihrer Rass und von Ihrem Charakter, denn nur solche Leute können solche niedrigen Lieder gegen unseren Polizeipräsidenten verkaufen!“, erklärte der diensthabende Wachmann während er die Hand zum Schlage ausholte, gegenüber einem der Festgenommenen. „Der 15.Juli war für euch zu wenig, aber wir werden es schon besser machen“, drohte der Beamte und nannte als Beispiel unter anderem das faschistische Italien.[5]  Am 26. September 1929 wurde der Arbeitermörder Schober, der bereits Anfang der 20er Jahre die Regierung führte, zum dritten Male Bundeskanzler und bildete eine Regierung aus parteilosen Ministern und Vertretern der Christlichsozialen, Großdeutschen Partei und des Landbundes.

Nicht nur das Schober-Lied, auch andere Werke von Kraus waren den österreichischen Behörden ein Dorn im Auge. So hatte der in Österreich verhaftete ungarische Kommunist Szekely um ein Exemplar der „Letzten Tage der Menschheit“ gebeten, das ihm die Rote Hilfe ins Gerichtsgefängnis schickte. Der Untersuchungsrichter Meixner weigerte sich, dem Gefangenen das Werk auszuhändigen, da dieses Buch im Landesgericht nicht gelesen werden dürfe. Mehr noch als über den Richter ärgerte sich Karl Kraus über das Verhalten der Sozialdemokratie. „Schon vorher hatte die Rote Hilfe auch der Arbeiter-Zeitung Anzeige von diesem Fall einer republikanischen Binnenzensur gemacht. Die Arbeiter-Zeitung brachte kein Wort, weil oder wiewohl ein Kommunist der Häftling war, der das Buch verlangte, weil oder wiewohl dieses `Die letzten Tage der Menschheit´ waren“[6], kommentierte er. Kraus beteiligte sich an weiteren Kampagnen der Roten Hilfe. So engagierte er sich 1927 im Rahmen der weltweiten Kampagne der Internationalen Roten Hilfe gegen die Hinrichtung der Anarchisten Sacco und Vanzetti in den USA aufgrund eines von ihnen erwiesenermaßen nicht begangenen Raubmordes. Er protestierte 1928 zusammen mit seinem französischen Schriftstellerkollegen Henri Barbusse gegen die drohende Auslieferung des jugoslawischen Kommunisten Anton Mavrak an die jugoslawische Justiz durch die österreichischen Behörden. Im Juni 1930 bezog Kraus ebenfalls mit Barbusse gemeinsam in einem Schreiben an den polnischen Staatspräsidenten und den Sejmmarschall Stellung gegen die drohende Hinrichtung der drei Jungkommunisten Hirsch, Proper und Jugend, die revolutionäre Flugblätter verbreitet hatten. „Wir erheben Protest im Namen der Menschlichkeit gegen dieses furchbare Urteil umsomehr, als es auschliesslich ein Gesinnungsdelikt betrifft. Wir sind der Meinung, dass dieses Urteil von der zivilisierten Welt als ein Ausfluss hemmungslosen Wütens des Faschismus in Polen gedeutet werden müsste und erwarten die Aufhebung.“[7] Im Juli 1932 trat Kraus einem Komitee aus international renommierten Persönlichkeiten wie dem Dichter Ernst Toller, dem Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld und dem sozialdemokratischen Theoretiker Karl Kautsky bei, um gegen die drohende Hinrichtung ungarischer Revolutionäre zu protestieren.[8] Im August 1932 findet sich Kraus unter den Mitgliedern eines „Internationalen Initiativ-Komitees zur Einberufung des Kampfkongresses gegen den imperialistischen Krieg“. „Die Teilnahme dieses Mannes ist als Symptom für den geistigen Wert des Kongresses von allergrößter Bedeutung“, jubelte die Rote Hilfe. „Denn keiner der zahllosen Geistesführer aus bürgerlichen und anderen Lagern, die sich heutzutage auf anderen Kongressen zum Frieden bekennen, hat schon während des Weltkrieges 1914-1918 eine so mutige Stellung gegenüber dem Treiben der Kriegshetzer eingenommen, wie dieser Schriftsteller, der vom ersten bis zum letzten Tage jenes Massengemetzels den Krieg gegen den imperialistischen Krieg in wahrhaft heroischer Weise geführt hat. Wir erinnern – soweit das noch notwendig ist, da diese Werke jedem ernsthaften Kriegsgegner bekannt sein sollten – an die Tragödie Die letzten Tage der Menschheit, die während des Weltkrieges von Karl Kraus geschrieben und zum Teil schon damals öffentlich vorgelesen, die furchtbarste Greuel des Völkermordens unter voller Namensnennung der beteiligten Kriegsverbrecher und ihrer Opfer zu packender Anschauung bringt.“[9] Am Kongress selber, der Ende August 1932 in Amsterdam stattfand, nahm Kraus allerdings nicht teil.

Karl Kraus, der 1932 in der Fackel seine Leser zum Austritt aus der opportunistischen Sozialdemokratischen Partei aufforderte und bei aller Skepsis gewisse Sympathien für die Kommunisten erkennen ließ, entfernte sich nach der  Machtübernahme des Nazifaschismus in Deutschland von der politischen Linken. Der im Vergleich zu Hitler „kleine Diktator“ Dollfuß erschien ihm als „Lebensretter“. Er denke an „nichts als alles nur nicht Hitler“ und hoffte auf das Widerstandspotential der Austrofaschisten gegen die nationalsozialistische Bedrohung.[10] In Wirklichkeit wurden die Austrofaschisten, die die sozialdemokratische wie die kommunistische Arbeiterbewegung blutig zerschlen hatten, zum Steigbügelhalter des Nazi-Faschismus.

In der Roten Fahne war Karl Kraus einmal als „aufrechter Kämpfer gegen bürgerlich-sozialdemokratische Korruption und Heuchelei“ gewürdigt worden.[11] Ein Kommunist war Kraus allerdings eben so wenig gewesen, wie vor 1927 ein Sozialdemokrat. Seine Motive waren ethisch-humanistischer Natur. Die von ihrer Mitgliedschaft und ihrem Statut her überparteiliche Rote Hilfe hatte er gerade unterstützt, weil er – gerade nach allen Enttäuschungen mit der Sozialdemokratie - „der Arbeitersache Gefolgschaft leisten“ wollte, und nicht einer Partei.[12]  Er werde „jeden Hilferuf eines zur Rettung von der Gewalt unmittelbar bedrohten Menschenlebens ohne Ansehen der Mitrufenden unterstützen“[13], so die Maxime des 1936 verstorbenen Literaten.

 

Rund 60 Jahre nach seiner Schöpfung erklang das Schober-Lied 1988 erneut in Österreich. Ein "Spontankomitee" namens "Gesellschaft zur Pflege des Werkes von Karl Kraus" hatte einen "kulturpolitischen Kurzfilm" produziert, der im Vorprogramm österreichischer Kinos lief. Die Kritik galt dem im Film nicht namentlich genannten neuen obersten „Pflichterfüller“ Österreichs Bundespräsident Kurt Waldheim. Dieser hatte sich auf den Vorwurf, er sei als NS-Offizier an Kriegsverbrechen der Wehrmacht auf dem Balkan beteiligt gewesen, seinen unter anderem vom Jüdischen Weltkongress geforderten Rücktritt mit den Worten verweigert, er habe „nur seine Pflicht getan, wie hunderttausende andere Österreicher auch". Im Schober-Lied heißt es dazu:

Daß ich aufs Amt nicht verzicht',
das gebietet die Pflicht.
Wohl wagt's mancher Wicht
und verkennt meine Pflicht.
Doch vors G'richt geh' ich nicht,
das ist nicht meine Pflicht.[14]

 

Aus: Die Rote Hilfe 2/2010

 



[1] Rotbuch gegen Schobers Weißbuch, Wien 1928, 61.

[2]Kerker und Flüchtling, November 1927.

[3] Rote Hilfe Dezember 1928.

[4]Karl Kraus, Vor der Walpurgisnacht, Auswahl 1925-33, Berlin 1971, 349.

[5] Ebda. 348.

[6]Ebda. 352.

[7] Rote Fahne 21.6.1930.

[8] Rote Fahne 24.7.1932.

[9] Rote Hilfe Nr. 9 September 1932.

[10] Siehe Eckart Früh: Karl Kraus und der Kommunismus, in: Karl Kraus et son temps, Hg. von Gilbert Krebs und Gerald Stieg, Universitee´ de la Sorbonne Nouvelle Nr. 10, Asnières, o.J., S.27-50.

[11] Rote Fahne 22.9.1931.

[12] Die Fackel 781-86, 1928, S.47.

[13] Rote Fahne 14.4.1933.

[14] als von Kraus gesungenes Tondokument: http://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Schoberlied.ogg