junge Welt 19.01.2008 / Geschichte / Seite 15


»Die Wache ist müde«

Vor 90 Jahren wurde die Konstituierende Versammlung in Rußland aufgelöst – fast niemand trauerte ihr nach

Von Nick Brauns

Die Auflösung der Konstituierenden Versammlung im Januar 1918 wird von bürgerlichen und sozialdemokratischen Historikern als entscheidender Sündenfall der Oktoberrevolution gesehen. Das einzige freigewählte Parlament Rußlands sei durch den Terror der Bolschewiki auseinandergejagt und so seien die Wurzeln für den Stalinismus gelegt worden, lautet der Tenor. Als Kronzeugin wird dabei Rosa Luxemburg bemüht, die in ihrer unvollendeten Schrift zur russischen Revolution in einer Randnotiz gefordert hatte: »Sowohl Sowjets als Rückgrat wie Konstituante und allgemeines Wahlrecht.« (GW 4, 358)

Die Forderung nach einer verfassungsgebenden Nationalversammlung war bereits in der Februarrevolution aufgestellt worden. Doch die nach dem Sturz des Zarismus gebildete bürgerlich-sozialdemokratische Provisorische Regierung zögerte die Wahl der Konstituante, der sie die Umsetzung der Hauptforderungen des Volkes nach Landverteilung und Frieden anvertrauen wollte, hinaus. Nach der Oktoberrevolution beschlossen die Bolschewiki, den noch von der Provisorischen Regierung angesetzten Wahltermin am 25. November (12. November alter Zeit) einzuhalten, um nicht als Betrüger zu erscheinen.

Zur Wahl standen Parteilisten, die noch vor der Oktoberrevolution aufgestellt worden waren und daher die politische Linksentwicklung nicht spiegelten. So hatten sich die unter den Bauern einflußreichen Sozialrevolutionäre mittlerweile in einen rechten Minderheitsflügel und die hinter der Sowjetmacht stehende Partei der Linken Sozialrevolutionäre gespalten; auf den Wahllisten dominierten jedoch zu drei Vierteln rechte Sozialrevolutionäre um den gestürzten Ministerpräsidenten Alexander Kerenski, der sich durch seine Zusammenarbeit mit konterrevolutionären Truppen vollständig diskreditiert hatte. Dazu kam der Umstand, daß die Nachrichten von den revolutionären Veränderungen erst langsam in die Provinzen drangen und viele Bauern noch nichts von den Dekreten über Landverteilung und Frieden wußten.

Die Wahl wurde so zu einem Triumph der eben erst von der Macht verdrängten rechten Sozialrevolutionäre, die 390 von 703 Sitzen eroberten. Die Bolschewiki errangen 168 und die Linken Sozialrevolutionäre 39. Siebzehn Mandate gingen an die bürgerlichen Kadetten. In Moskau und Petrograd stimmten allerdings 47,9 bzw. 45 Prozent der Wähler für die Bolschewiki, während die Sozialrevolutionäre nur auf 8,2 bzw. 16,2 Prozent und die Kadetten auf 34,5 bzw. 26,2 Prozent kamen. Die Menschewiki waren landesweit auf ein Häufchen von gerade einmal drei Prozent geschrumpft.

Zur Eröffnungssitzung der Versammlung am 18. Januar (5. Januar) demonstrierten 15000 Offiziere, Beamte und Angehörige der Intelligenz durch Petrograd. »Vornehme, in Pelze gehüllte und scharlachrot geputzte Damen, alte Monarchisten, rote Fahnen in den Händen, und wohlbeleibte Gutsbesitzer sangen: ›Wir hungerten und vergossen unser Blut für die Sache des Volkes.‹ Sie taten ihr möglichstes, um einem revolutionären Zug zu gleichen. Doch bloß ihre Fahnen und Lieder waren rot. Die Vorbeimarschierenden waren zum größten Teil Weißgardisten und Schwarzhunderter (eine für zahlreiche Judenpogrome verantwortliche monarchistische Organisation – N.B.) – kaum ein Bauer oder Arbeiter«, beschrieb der US-Journalist Albert Rhys Williams die Unterstützer der Konstituante. Als die Demonstranten vor dem Taurischen Palast auf revolutionäre Soldaten und Matrosen trafen, kam es zu einer Auseinandersetzung, bei der mehrere Demonstranten erschossen wurden.

Gleich zu Beginn der Versammlung stellte der Vorsitzende des allrussischen Exekutivkomitees der Räte, Jakow M. Swerdlow, eine von Lenin verfaßte »Erklärung der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes« zur Abstimmung, in der es hieß: »Da die Konstituierende Versammlung aufgrund von Kandidatenlisten gewählt worden ist, die von den Parteien vor der Oktoberrevolution aufgestellt wurde, als das Volk noch nicht imstande war, sich in seiner ganzen Masse gegen die Ausbeuter zu erheben, als es die ganze Stärke des Widerstands der Ausbeuter bei der Verteidigung ihrer Klassenprivilegien nicht kannte und den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft praktisch noch nicht in Angriff genommen hatte – in Anbetracht dieser Tatsache würde es die Konstituierende Versammlung (...) für grundfalsch halten, sich der Sowjetmacht entgegenzustellen. (...) Die Konstituierende Versammlung unterstützt die Sowjetmacht und die Dekrete des Rats der Volkskommissare und ist der Auffassung, daß ihre Aufgaben mit der Festlegung der grundlegenden Richtlinien für die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft erschöpft sind.« (LW 24, 426) Da die Mehrheit der Delegierten es ablehnte, Swerdlows Antrag zu diskutieren, verließen Bolschewiki und Linke Sozialrevolutionäre den Sitzungssaal. »Es ist nicht nötig, die konstituierende Versammlung zu zerstreuen: Laßt sie einfach solange schwatzen, wie sie wollen und es beenden und morgen lassen wir keinen einzigen mehr rein«, schlug Lenin vor.

Die Versammlung erklärte Rußland zu einer demokratischen föderativen Republik – ein Beschluß, der sich gegen die Rätemacht richtete. Schließlich forderte um vier Uhr früh der Kommandant der Palastwache, ein anarchistischer Matrose mit Namen Anatoli Shelesnjakow, den Präsidenten der Konstituante Viktor Tschernow zum Schluß der Versammlung auf. »Die Wache ist müde. Ich schlage vor, daß Sie die Sitzung beenden und alle nach Hause gehen lassen.« In derselben Nacht hatte der Rat der Volkskommissare ein Dekret über die Auflösung der Konstituierenden Versammlung verabschiedet, da diese als Kulisse für Konterrevolutionäre diene. Entgegen aller Legenden wurde die Versammlung bei ihrem erneuten Zusammentreten am Nachmittag des 19. Januar nicht mit Waffengewalt auseinandergejagt, sondern die Delegierten von Rotgardisten schlicht ausgesperrt.

Während russische Bourgeois und westliche Sozialdemokraten wie Karl Kautsky über den angeblichen Gewaltakt der Bolschewiki gegen die »Demokratie« aufheulten, rührte sich unter Rußlands Arbeitern und Bauern keine Hand zur ihrer Verteidigung. Schließlich war mit dem Rätesystem eine höhere Form der Demokratie für die breite Masse geschaffen worden, als es der bürgerliche Parlamentarismus je sein konnte. In diesem Sinne korrigierte Rosa Luxemburg, die sich nach ihrer Entlassung aus dem Breslauer Zuchthaus gegen eine Veröffentlichung ihrer Broschüre zur russischen Revolu­tion ausgesprochen hatte, während der deutschen Novemberrevolution ihre Haltung. »Entweder will man die Nationalversammlung als ein Mittel, das Proletariat um seine Macht zu prellen, seine Klassenenergie zu paralysieren, seine sozialistischen Endziele in blauen Dunst aufzulösen, oder man will die ganze Macht in die Hände des Proletariats legen, die begonnene Revolution zum gewaltigen Klassenkampf um die sozialistische Gesellschaftsordnung entfalten und zu diesem Zwecke die politische Herrschaft der großen Masse der Arbeitenden, die Diktatur der Arbeiter- und Soldatenräte errichten. Für oder gegen den Sozialismus, gegen oder für die Nationalversammlung. Ein Drittes gibt es nicht.« (GW 4, 425)

Quellentext: Ein US-Bürger über das Schicksal der Konstituante

Die Konstituierende Versammlung kam zu spät. Sie war eine Totgeburt. Im raschen Vordringen der Bolschewiki waren die revolutionären Massen vollständig zum Sowjet übergegangen. (...) Der Sowjet war den arbeitenden Klassen teuer, weil er ihre eigene Institution war, aus ihrer Klasse geboren und imstande, ihre Ziele zu verwirklichen. Jede herrschende Klasse baut sich den Staatsapparat, der ihre Macht am besten sichert, vermittels dessen sie am besten in ihrem eigenen Interesse regieren kann. Solange Könige und Edelleute die Macht in den Händen hielten, war der Staatsapparat, dessen sie sich bedienten, die Autokratie und die Bürokratie. Als sich dann im 18. Jahrhundert die kapitalistische Bourgeoisklasse erhob und zur Macht gelangte, schaltete sie den alten Staatsapparat aus und schuf einen neuen, der ihren Zwecken entsprach – das Parlament, den Kongreß. In der gleichen Art brachten auch die zur Macht gelangenden werktätigen Klassen Rußlands ihren eigenen Staatsapparat mit: den Sowjet. Sie hatten ihn in Tausenden von örtlichen Sowjets erprobt und geprüft. Sie waren mit ihm vertraut. Er war Teil ihrer Alltagserfahrung. Durch ihn hatten sie ihre Herzenswünsche wahrgemacht – Boden, Betriebe und Friedensangebote. Mit ihm waren sie zum Sieg marschiert, hatten ihn zur Regierung Rußlands erhoben. Und nun weigerte sich diese veraltete Konstituierende Versammlung, den Sowjet als die Regierung Rußlands anzuerkennen. Sie weigerte sich, die »Deklaration der Rechte des werktätigen und ausgebeuteten Volkes« anzuerkennen, die Magna Charta der russischen Revolution. Dies war, als hätte sich die Französische Revolution geweigert, die Erklärung der Menschenrechte anzuerkennen. Deshalb wurde die Konstituierende Versammlung aufgelöst.

aus: Albert Rhys Williams: Ein Amerikaner im revolutionären Rußland, Berlin/DDR 1982, S. 143 f.