Die junge Sowjetrepublik hatte
sich erfolgreich gegen nahezu übermächtige äußere und innere Gegner zur Wehr
gesetzt. Doch zu Ende des Bürgerkriegs 1920 war Sowjetrußland ein
wirtschaftlich zerrüttetes Land. Produktion und Produktivität waren auf einen
katastrophal niedrigen Stand gefallen, die Massen hungrig, erschöpft und
unzufrieden mit den harten Maßnahmen des Kriegskommunismus. Mit dem Sieg über
die Weißgardisten fiel das eindämmende Element für die durch Zwangsabgaben
gebeutelte Bauernschaft weg. In mehreren Gouvernements brachen bewaffnete
Bauernrebellionen aus. Nach Arbeiterunruhen mußte am 24. Februar 1921 der
Belagerungszustand über Petrograd (später: Leningrad) verhängt werden.
In dieser Krisensituation kam es zur Rebellion in der Petrograd vorgelagerten
Inselfestung Kronstadt. Eine vom Matrosen Stephan Petrichenko vorgeschlagene
Resolution wurde angenommen, in der die Legalisierung aller sozialistischen
Parteien und Neuwahlen zu den Sowjets gefordert wurde. Weiterhin verlangten die
Matrosen die Wiederherstellung des freien Handels. Die Situation verschärfte
sich durch das arrogante Auftreten des Vorsitzenden der Sowjetrepublik Michail
Kalinin auf einer Vollversammlung von über 12 000 Matrosen am 1. März. Nach
Gerüchten über einen drohenden Angriff der Petrograder Bolschewiki verhafteten
Kronstädter Matrosen bolschewistische Funktionäre. Im Gegenzug setzten die Petrograder
Bolschewiki eine Kronstädter Delegation fest. Am 2. März bildete sich auf einer
Delegiertenversammlung aller Einheiten ein »Revolutionäres Komitee« unter
Führung Petrichenkos, das die Macht über die Festungsstadt übernahm.
Nun begann eine demagogische Propagandakampagne der Bolschewiki. Da der – von
den Bolschewiki vorher als Artilleriefachmann eingesetzte – ehemalige
zaristische General Koslowski auf seiten der Aufständischen aktiv war, hieß es,
hinter dem Aufstand stünden die Weißgardisten. In Wirklichkeit dominierten
anarchistische und syndikalistische Elemente. 1917 waren die meist aus der
Industriearbeiterschaft stammenden Kronstädter Matrosen die Avantgarde der
Revolution gewesen. Doch während des Bürgerkrieges waren die erfahrensten
Matrosen in die Rote Armee oder die Sowjetinstitutionen abgewandert. Statt
dessen rekrutierten sich die Mannschaften nun aus einem bäuerlichen
ukrainischen Milieu, dessen Unzufriedenheit die Matrosen nach Heimaturlauben in
die Stadt mitbrachten. Victor Serge, ein französischer libertärer Kommunist,
der sich während des Aufstandes in Petrograd aufhielt, erkannte trotz seiner
Sympathien für die Anarchisten die Gefahr: »Die Konterrevolution des Volkes
übersetzte die Forderung freigewählter Sowjets durch die der ›Sowjets ohne
Kommunisten‹. Wenn die Diktatur fiel, so bedeutete das in Kürze das Chaos, und
durch das Chaos hindurch das Vordringen der Bauern, das Massaker der
Kommunisten, die Rückkehr der Emigranten und am Ende durch die Macht der
Umstände eine andere antiproletarische Diktatur.«
Für die Sowjetregierung wurde die Zeit knapp. Taute erst einmal das Eis, hätten
die Meuterer die Möglichkeit, sich vom Ausland versorgen zu lassen. Tatsächlich
stand die internationale Konterrevolution schon in Wartestellung, um über
Kronstadt das Festland zu erreichen und die Sowjetmacht zu zerschlagen. Der
amerikanische Historiker Paul Avrich hat in seinem 1970 erschienenen Buch
»Kronstadt 1921« entsprechende Dokumente aus Archiven weißgardistischer
Organisationen veröffentlicht.
Bis heute hält sich hartnäckig die Legende, Leo Trotzki habe persönlich die
Niederschlagung des Aufstandes geleitet. Tatsächlich beschränkte sich Trotzkis
Rolle als Volkskommissar für das Militärwesen auf die Unterzeichnung eines
letzten Ultimatums, in dem er am 5. März die Rebellen zur Kapitulation
aufforderte, bevor er nach Moskau abreiste. Berühmter als Trotzkis Ultimatum
wurde ein vom Petrograder Verteidigungskomitee verfaßtes, über der Festung
abgeworfenes Flugblatt: »Ihr ergebt Euch binnen 24 Stunden. Tut Ihr das, dann
vergeben wir Euch, aber wenn Ihr Widerstand leistet, werden wir Euch wie die
Rebhühner abknallen.«
Unter dem Befehl von Michail Nikolajewitsch Tuchatschewski und Sergei Kamenew
starteten 35 000 Mann am 8. März einen ersten Angriffsversuch. Doch ein Teil
der Rotarmisten ging zu den Aufständischen über. Aufgrund der Unzuverlässigkeit
der einfachen Kommunisten in dieser Ausnahmesituation griff die Sowjetregierung
auf Offiziersschüler der Roten Armee und Tschekisten zurück. Nach Trotzkis auf
dem X. Parteitag der Kommunistischen Partei Rußlands (KPR) vorgelegten
Lagebericht meldeten sich zudem 320 Delegierte als Freiwillige zum letzten
Sturm auf Kronstadt. Darunter waren auch die Vertreter der Oppositionsgruppen
Dezisten und Arbeiteropposition, die in vielen Punkten mit der Kritik der
Kronstädter übereinstimmten.
Auf 50 000 Mann angewachsen, begannen die Regierungstruppen am 16. März mit
einem nächtlichen Sturmangriff. In weiße Mäntel gehüllt, mußten sie viele
Kilometer schutzlos über das Eis vorrücken. Immer wieder brachen Granaten der
Festungsgeschütze die Eisdecke auf und verschlangen Dutzende von Kämpfern. Die
Gefechte dauerten bis zum Morgen des 18. März und endeten in einer Blutorgie
mit rund 600 getöteten Kronstädtern, über 1 000 Verletzten und 2 500
Gefangenen. Die Angreifer hatten ihrerseits rund 10 000 Gefallene zu
verzeichnen. Die Rache der Tscheka war grausam. Hunderte Gefangene wurden an
Ort und Stelle standrechtlich erschossen, weitere in den kommenden Monaten in
kleinen Gruppen hingerichtet.
»Kronstadt stellt eine Situation dar, in der der Historiker mit den
Aufständischen sympathisieren kann und gleichzeitig einräumt, daß die
Bolschewiki mit der Niederwerfung des Aufstandes recht hatten. Nur wenn man das
anerkennt, erfaßt man die volle Tragödie Kronstadts«, meint der New Yorker
Historiker Avrich. Und Trotzki, der die politische Verantwortung für die
Niederschlagung des Aufstandes übernahm, nannte das Vorgehen der
Sowjetregierung »eine tragische Notwendigkeit«.
Mehr als 8 000 Kronstädtern war die Flucht nach Finnland gelungen. Ihr
Sprecher, der angebliche Anarchist Petrichenko, gestand am 31. Mai 1921 in
einem Brief an General Pjotr N. Wrangel, die Losung »Alle Macht den Sowjets und
nicht den Parteien« sei ein »politisch bequemes Manöver« bis zum Sturz der
kommunistischen Herrschaft.
Mit der Einführung der Neuen Ökonomischen Politik erfüllte der X. Parteitag der
KPR einen Teil der Forderungen der Rebellen nach freiem Handel und bäuerlicher
Aktionsfreiheit. Voraussetzung dafür war freilich die Beibehaltung und
Straffung der politischen Macht der Bolschewiki.
Was bedeutet dieses Ereignis? Den Übergang der politischen
Macht von den Bolschewiki an irgendein unbestimmtes Konglomerat oder einen Bund
buntscheckiger Elemente, scheinbar nur ein klein wenig rechter als die
Bolschewiki, ja vielleicht sogar auch »linker« als die Bolschewiki – so
unbestimmt ist die Summe von politischen Gruppierungen, die in Kronstadt versucht
hat, die Macht an sich zu reißen. Zweifellos haben die weißen Generale – Sie
alle wissen das – dabei eine große Rolle gespielt. Das ist vollauf erwiesen.
Zwei Wochen vor den Kronstädter Ereignissen schrieb man bereits in den Pariser
Zeitungen, daß in Kronstadt ein Aufstand ausgebrochen sei. Es ist ganz klar,
daß hier die Sozialrevolutionäre und die ausländischen Weißgardisten ihre Hände
im Spiel hatten; und zugleich lief diese Bewegung auf eine kleinbürgerliche
Konterrevolution hinaus, kam das kleinbürgerliche anarchistische Element zum
Zuge. (...) So klein oder geringfügig zunächst – wie soll ich mich ausdrücken –
die Machtverschiebung, die die Kronstädter Matrosen und Arbeiter vorschlugen,
gewesen wäre – sie wollten die Bolschewiki in bezug auf die Freiheit des
Handels korrigieren, also scheinbar keine große Verschiebung, scheinbar
dieselben Losungen: »Sowjetmacht«, mit einer kleinen Änderung oder nur einer
Korrektur –, in Wirklichkeit aber dienten hier die parteilosen Elemente nur als
Trittbrett, als Stufe, als Brücke, über die die Weißgardisten kamen.
aus: »Bericht über die politische Tätigkeit des ZK der KPR (B)«, 8.März 1921
(in: LW 32, S. 183f.)