Tödliche Waffenbrüderschaft

Die deutsche Türkeipolitik und die Kurden

 

Von Dr. Nikolaus Brauns

 

In seiner Tragödie „Faust“ lässt der berühmteste deutsche Dichter Johann Wolfgang von Goethe einen deutschen Bürger wie folgt sprechen:

„Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen,
Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,
Wenn hinten, weit, in der Türkei,
Die Völker aufeinander schlagen.
Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus
Und sieht den Fluss hinab die bunten Schiffe gleiten;
Dann kehrt man abends froh nach Haus,
Und segnet Fried’ und Friedenszeiten.“

 

Vor 200 Jahren war dieser bequeme Standpunkt noch möglich. Doch heute haben „Krieg und Kriegsgeschrei“ in der Türkei mit Deutschland weit mehr zu tun, als vielen Menschen hierzulande bewusst ist. In keinem Land außerhalb des Nahen Ostens leben so viele türkisch und kurdischstämmige Menschen wie in Deutschland. Insgesamt leben 2,7 Millionen offiziell türkischstämmige Menschen in Deutschland, doch unter ihnen sind Hunderttausende kurdischstämmige Bürger, deren Identität auch in Deutschland nicht anerkannt wird. Schätzungen gehen von weit über einer halben Million bis zu 800.000 kurdischstämmigen Bürgern – viele von ihnen inzwischen mit deutscher Staatsbürgerschaft -  in Deutschland aus. Da bereits historisch zu nennende politische, militärische und wirtschaftliche Beziehungen zur Türkei bestehen, ist Deutschland mehr wie alle anderen europäischen Staaten unmittelbar in die kurdische Frage verwickelt.

 

Von der Bagdadbahn zur NATO-Partnerschaft

 

Bereits 1838 half der preußische Offizier Helmuth von Moltke dem osmanischen Sultan beim Aufbau einer schlagkräftigen Armee nach preußischem Muster und spielte als Militärberater eine wichtige Rolle bei der Niederschlagung kurdischer Aufstände. Ende des 19. Jahrhunderts war das Deutsche Reich in sein imperialistisches Stadium eingetreten und das Finanzkapital suchte neue Märkte, Anlagefelder und Rohstoffreservoirs außerhalb Deutschlands. ”Das wichtigste Operationsfeld des deutschen Imperialismus wurde die Türkei, sein Schrittmacher hier die Deutsche Bank und ihre Riesengeschäfte in Asien, die im Mittelpunkt der deutschen Orientpolitik stehen”[1], analysierte die Marxistin Rosa Luxemburg. Neben der Rüstungsindustrie wurde der Bahnbau zum wichtigsten Instrument für das Eindringen deutschen Kapitals in die Türkei. Mit Kaiser Wilhelms II. Schwur in Damaskus 1898, ein treuer Freund der Muslimischen Welt zu sein, wurde der Vorstoß des deutschen Imperialismus in den Orient zur Chefsache. Zum konfliktträchtigen Symbol deutscher Weltpolitik sollte ab 1902 der Bau der Bagdadbahn von Konya über Bagdad zum Persischen Golf werden. Die von der Deutschen Bank geführte Aktiengesellschaft erlangte zugleich Schürfrechte im mesopotamischen Ölgebiet um Mossul und Basra. ”Einzig und allein eine politisch und militärisch starke Türkei ermöglicht es uns, dafür zu sorgen, dass die großen Aussichten, welche sich in den Ländern am Euphrat und Tigris für die Vergrößerung unseres Nationalvermögens und die Verbesserung unserer wirtschaftlichen Bilanz bieten, auch wirklich mit einiger Sicherheit in die Sphäre der realen Existenz übergehen können. Für eine schwache Türkei keinen Pfennig, für eine starke, soviel nur irgend gewünscht wird”[2], schrieb der deutsche Kolonialstratege Paul Rohrbach 1902 in seinem Buch ”Die Bagdad-Bahn – Vom deutschen Weg zur Weltgeltung.” An dieser Politik hat sich auch über 100 Jahre später nichts geändert.

Kriegszieldenkschriften des deutschen Monopolkapitals wiesen der türkischen Armee im Ersten Weltkrieg die Aufgabe zu, für Deutschland die Kastanien aus dem Feuer zu holen und die Kaukasusgebiete mit den Ölquellen am Kaspischen Meer zu erobern. Unter deutschem Oberkommando kämpfte die Osmanische Armee an der Seite des deutschen Reiches. Deutsche Diplomaten wurden zu Mitwissern und deutsche Militärs gar zu Gehilfen an dem von ihren jungtürkischen Waffenbrüdern begangenen Völkermord an über einer Million Armenier in den Kriegsjahren 1915/16. Adolf Hitler nahm sich diesen Völkermord am 22. August 1939 zum Vorbild, als er vor hohen Militärs und Kommandeuren der SS die gnadenlose Ausrottung des Gegners im geplanten Krieg gegen die Sowjetunion forderte. "Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?"[3]

Im Rahmen der NATO lebte die deutsch-türkische Waffenbrüderschaft in den 1960er Jahren wieder auf. Türkische Offiziere wurden an der Bundeswehrakademie in Hamburg und der Panzerschule in Munster ausgebildet. Nach dem NATO-Beschluss von 1964, der Türkei unentgeltliche Rüstungshilfe zu leisten, nahm die Bundesrepublik im gleichen Jahr die Waffenlieferungen auf und wurde zum zweitgrößten Rüstungslieferanten der Türkei nach den USA. Allein bis 1991 wurden Rüstungsgüter in Höhe von 6,3 Milliarden Mark geliefert, mehr als die Hälfte davon nach 1985, als in Kurdistan bereits der bewaffnete Aufstand begonnen hatte. Die Waffenlieferungen unterliegen bis heute keinerlei Rüstungsexport-Restriktionen, da es sich um Lieferungen in ein NATO-Land handelt.

Unter dem Schutz des in den kurdischen Landesteilen der Türkei durchgeführten NATO-Herbstmanövers ”Anvil Express”, an dem auch 1000 Bundeswehrsoldaten beteiligt waren, putschte am 12. September 1980 die Armee unter Generalstabschef Kenan Evren. Wenige Tage später schloss die Bundesregierung mit der Türkei einen Vertrag über die Aufrüstung der türkischen Polizei ab. Seit 1986 bildete die deutsche Spezialeinheit GSG 9 türkische Sondereinheiten zur Aufstandsbekämpfung aus, die zahlreiche Gräueltaten in den kurdischen Landesteilen begangen haben. Während Hunderttausende Oppositionelle – Sozialisten, Gewerkschafter und kurdische Aktivisten - in den Kerkern der Militärjunta verschwanden und viele von ihnen ermordet wurden, setzte die Bundesregierung ihre gute Beziehung zur Türkei fort. Die konservative Tageszeitung ”Die Welt” hatte 1981 die Kontinuitätslinien erkannt: ”Damit setzt die Bundesrepublik Deutschland eine in die Zeit des deutschen Kaiserreichs, der Weimarer Republik und des Dritten Reiches zurückreichende außenwirtschaftliche Tradition fort, die ihren Ausdruck in einem spezifischen, engen deutsch-türkischen Bezugsverhältnis gefunden hat, wie es so mit keinem anderen Staat besteht.”[4]

Zu Beginn der 1990er Jahre entsorgte die Bundesregierung einen Großteil des Waffenbestandes der ehemaligen Nationalen Volksarmee der DDR an die Türkei. So kaufte sich die Bundesregierung mit ”Scheckbuchdiplomatie” bei der Aufrüstung des NATO-Partners von einer direkten Beteiligung am US-geführten Krieg gegen den Irak 1991 frei. Aus NVA-Beständen wurden unter anderem 300 Achtrad-Schützenpanzer vom Typ BRT-60 geliefert – die idealen Waffensysteme für die gebirgigen kurdischen Landesteile. Eine Viertelmillion Kalaschnikow-Gewehre aus NVA-Beständen fand insbesondere Verwendung bei der Ausrüstung von Zehntausenden paramilitärischen kurdischen Dorfschützern, die gegen die PKK aufgestellt wurden. 1992 berichteten Augenzeugen vom Einsatz solcher Panzer aus deutscher Lieferung beim Beschuss der Stadt Şırnak und im folgenden Jahr zeigte der Fernsehsender ZDF Bilder eines gefangenen Guerillakämpfers, der nahe der Stadt Cizre mit einem BRT-60-Schützenpanzer zu Tode geschleift wurde. Da laut NATO-Vertrag die gelieferten Rüstungsgüter nur zur Landesverteidigung eingesetzt werden dürfen, setzte die unter Druck geratene Bundesregierung kurzfristig ihre Waffenlieferungen an die Türkei aus, bestreitet aber bis heute, dass es ausreichende Beweise für den Einsatz von Waffen aus deutscher Lieferung im Krieg gegen die Kurden gäbe. Es könne sich auch um Schützenpanzer aus russischer Lieferung handeln, behauptete Bundesaußenminister Klaus Kinkel 1995, obwohl Russland nur wenige Dutzend dieser Panzer geliefert hatte.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion endete 1995 die unentgeltliche NATO-Militärhilfe für die Türkei, doch die Waffenlieferungen gingen als private Geschäfte der Rüstungsindustrie abgesichert durch Exportrisikogarantien der Bundesregierung weiter. Ankaras Wunsch nach Lieferung von Leopard 2 Kampfpanzern führte 1999 noch zu einer schweren Zerreißprobe der Bundesregierung. Damals setzten sich die Grünen gegenüber den Sozialdemokraten durch und der Panzerdeal kam nicht zustande. Doch kurz nach der Bundestagswahl 2005 unterzeichnete die bereits abgewählte rot-grüne Bundesregierung in einer ihrer letzten Amtshandlungen einen Vertrag über den Verkauf von 298 Leopard 2 an die Türkei. In seinem im Juni 2009 veröffentlichten Jahrbuch dokumentierte das  Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI, dass die Türkei neben Griechenland und Südafrika weiterhin wichtigster Abnehmer deutscher Waffen ist. Als im Februar 2008 die türkische Armee mit Tausenden Soldaten die Grenze nach Südkurdistan (Nordirak) überschritt, zeigten Fernsehaufnahmen, dass bei dem völkerrechtswidrigen Angriff zahlreiche Rüstungsgüter aus deutscher Lieferung, darunter Panzer und Unimog-Mannschaftstransporter der Firma Mercedes-Benz, eingesetzt wurden. Während im März 2010 erneut zehntausende türkische Soldaten an der Grenze zu Südkurdistan aufmarschierten, unterzeichnete Bundeskanzlerin Angela Merkel in Ankara den Liefervertrag für weitere 56 Leopard-II-Panzer.

 

Wirtschaftsinteressen vor Menschenrechten

 

Nach dem Ende des kalten Krieges hatte die Türkei für die deutsche Außenpolitik wie schon zu Zeiten des Bagdadbahnbaus die Funktion eines Tors zum Mittleren Osten bekommen. Für die deutschen Expansionsinteressen im Nahen und Mittleren Osten, zu den dortigen Rohstoffquellen und Märkten, ist die Türkei der strategische Partner. Deutschland ist seit langem wichtigster Handelspartner der Türkei und der türkische Markt mit rund 70,5 Millionen potenziellen Konsumenten und einer jungen Bevölkerung für deutsche Firmen von großem Interesse. Das bilaterale Handelsvolumen erreichte im Jahr 2007 einen Spitzenwert von 24,8 Milliarden Euro und ging 2009 aufgrund der Wirtschaftskrise auf 19,8 Prozent zurück. Die die deutschen Exporte in die Türkei betrugen im vergangenen Jahr rund 11,5 Milliarden Euro. Besonders starken Anteil an den deutschen Warenausfuhren in die Türkei haben neben Rüstungsgütern Maschinen, elektrotechnische Erzeugnisse sowie Kraftfahrzeuge und Zulieferteile für die Automobilindustrie. Deutschland ist mit einem Volumen von über 7,6 Milliarden US-Dollar seit 1980 der größte ausländische Investor in der Türkei. Inzwischen ist allerdings Russland dabei, Deutschland als wichtigsten Handelspartner der Türkei zu verdrängen.

Kurdistan ist als Transitgebiet für schon bestehende oder erst geplante Öl- und Gaspipelines von enormer energiepolitischer Bedeutung für Deutschland und Europa. So soll die geplante Nabucco-Erdgaspipeline, mit der Europa seine Abhängigkeit von russischem Gas verringern will, mitten durch kurdisches Gebiet verlaufen. Die PKK, die bereits mehrfach Anschläge gegen Pipelines durchgeführt hat, wird dabei von EU-Seite als Gefährdung der europäischen Energiesicherheit wahrgenommen und Ankara entsprechend grünes Licht bei der „Terrorbekämpfung“ gegeben.

Die wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen der Türkei und Deutschland versetzten die Türkei in eine Position, die keineswegs nur eine Abhängigkeit als Bittsteller bedeutet. Die türkische Regierung kann durchaus selbstbewusst von Deutschland Maßnahmen gegen kurdische und türkische Exiloppositionelle einfordern.

 

Grenzüberschreitende Aufstandsbekämpfung

 

Als die PKK nach Beginn des bewaffneten Kampfes im Sommer 1984 zunehmend in Kurdistan Fuß fassen konnte und die kurdische Frage durch den Aufstand internationale Aufmerksamkeit erfuhr, sah die NATO die Stabilität der Türkei, die als Bollwerk gegen die Sowjetunion und antiimperialistische Entwicklungen im Nahen Osten diente, gefährdet. Im Rahmen der nun eingeleiteten NATO-Aufstandsbekämpfung fiel der politischen Justiz in Deutschland die Aufgabe zu, die kurdische Befreiungsbewegung als terroristisch zu kriminalisieren. Jede Tötung eines Kurden in Westeuropa wurde jetzt der PKK angelastet. Der türkische Geheimdienst MIT inszenierte einen Anschlag auf das türkische Generalkonsulat in Hamburg, für den der PKK die Verantwortung zugeschoben werden sollte. Generalbundesanwalt Kurt Rebmann, der mit Vertretern der türkischen Militärdiktatur eine enge Zusammenarbeit gegen den internationalen Terrorismus vereinbart hatte, erklärte die Kurdische Arbeiterpartei PKK zum ”Hauptfeind der inneren Sicherheit”.[5] Rund 20 kurdische Politiker wurden nach Paragraph 129a Strafgesetzbuch angeklagt, Angehörige einer terroristischen Vereinigung innerhalb der PKK zur Liquidierung von Parteifeinden zu sein. In einem unterirdischen Gerichtssaal wurden die Angeklagten ab dem 24. Oktober 1989 in einem Plexiglaskäfig wie wilde Tiere präsentiert - in den Augen der Verteidiger die „hygienisch einwandfreie mitteleuropäische Variante der berüchtigten Massenschauprozesse türkischer Militärgerichte“. Gegen die Mehrzahl der Angeklagten musste das Verfahren „wegen Geringfügigkeit“ eingestellt werden. Aufgrund der Aussagen eines Kronzeugen wurden im März 1994 lediglich zwei Angeklagte zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt, zwei weitere Verurteilte kamen sofort frei, da ihre Strafen durch die Untersuchungshaft vergolten waren. Der Versuch der Bundesanwaltschaft, die gesamte kurdische Befreiungsbewegung als Terroristen zu brandmarken, war gescheitert.

 

Als die türkische Armee am 22. Oktober 1993 die kurdische Stadt Lice in der Provinz Diyarbakır bombardierten, griffen in Europa aufgebrachte Kurden türkische Vertretungen, Cafés und Reisebüros an. Obwohl der PKK keine Urheberschaft an den Protestaktionen, bei denen ein Kaffehausbesitzer getötet wurde, nachgewiesen werden konnte, verfügte Bundesinnenminister Manfred Kanther (CDU) am 26. November 1993 ein Betätigungsverbot für die PKK, die Nationalen Befreiungsfront Kurdistans ERNK sowie 29 örtlicher Vereine. ”[...] die Tätigkeit der PKK sowie ihrer Teilorganisationen verstößt gegen Strafgesetze, richtet sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung, gefährdet die innere Sicherheit, die öffentliche Ordnung und sonstige erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland [...]”, heißt es in der Verbotsverfügung. ”Die Straftaten stören das friedliche Zusammenleben zwischen Kurden und Türken sowohl in der Türkei als auch in Deutschland [...]. Die gewalttätigen politischen Aktionen [...] gefährden die außenpolitischen Belange der BRD. Sie stören erheblich das Verhältnis zum türkischen Staat [...]. Die politische Agitation der PKK und ihr nahestehender Organisation hat zwischenzeitlich ein außenpolitisch nicht mehr vertretbares Ausmaß erreicht. [...] die deutsche Außenpolitik und die Außenpolitik der gesamten westlichen Welt tritt für (die) Integrität eines wichtigen NATO-, WEU- und Europapartners im Interesse des Friedens in der gesamten Region ein. Eine weitere Duldung der PKK-Aktivitäten in Deutschland würde diese deutsche Außenpolitik unglaubwürdig machen und das Vertrauen eines wichtigen Bündnispartners, auf das Wert gelegt wird, untergraben. Darüber hinaus werden dadurch diejenigen Kräfte in der Türkei gestärkt, die die Bindungen an Europa und dran die westliche Welt lockern wollen [...].”[6]

Durch das von einer Hetzkampagne der Medien gegen die ”Terrorkurden” unterstützte PKK-Verbot wurde Hunderttausende Bürger kurdischer Abstammung in Deutschland unter Generalverdacht gestellt. Tausende Ermittlungsverfahren wurden eingeleitet. Eine Vielzahl Demonstrationen, Feste und selbst Fußballspiele und Hochzeiten wurden seit 1993 verboten, Hunderte Kulturvereine und Privatwohnungen gestürmt. Schon das Zeigen von Öcalan-Bildern auf Demonstrationen führt regelmäßig zu Festnahmen und Geldstrafen. Wie in der Türkei wurden 1994 die Feierlichkeiten zum Newroz-Fest am 21. März verboten. Anreisende Busse wurden noch auf der Autobahn gestoppt. Mit Autobahnblockaden versuchten die Insassen die Weiterfahrt zu erzwingen. Am 1. Juli 1994 erschoss in Hannover ein Zivilpolizist den 16-jährigen Halim Dener beim Kleben von ERNK-Plakaten von hinten. Der Schütze wurde vor Gericht freigesprochen. Weil sich die Losung „Politische und demokratische Lösung in Kurdistan” positiv auf einen Waffenstillstand der PKK beziehe und eine Steuerung durch die PKK vermuten lasse, wurde eine für den 12. März 1996 in Dortmund geplante Großdemonstration verboten. Nordrheinwestfalen wurde polizeilich abgeriegelt, ausländisch aussehende Menschen am Aussteigen aus Zügen gehindert und Fahrzeuge mit kurdischen Insassen durch Farbkreuze auf den Reifen kenntlich gemacht. Es kam zu den bis dahin größten polizeirechtlichen Massenfestnahmen der Nachkriegsgeschichte. An mehreren Orten eskalierte die Lage in Straßenschlachten mit der Polizei. Erzürnt drohte der PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan mit Selbstmordanschlägen in Deutschland, sollten Kurden mit Abschiebungen bedroht und dem „faschistischen türkischen Staat” ausgeliefert werden. ”Deutschland liefe Gefahr, zu unserem zweiten Kriegsgegner zu werden”, so Öcalan. ”Jeder Kurde wird dann eine lebende Bombe werden.”[7] Außenminister Kinkel behauptete nun, der PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan habe einen Mordbefehl gegen ihn in Auftrag gegeben und die Boulevardpresse wusste von PKK-Mordplänen gegen Rennfahrer Michael Schumacher. Schließlich ruderte Öcalan zurück und erklärte: ”Es wäre politisch und moralisch falsch, wenn wir die Sache der Kurden durch Gewaltaktionen in Deutschland lösen wollten. Ich bin eindeutig für Gewaltverzicht.”[8] Die Zusicherung, PKK-Anhänger würden sich fortan an deutsche Gesetze halten, führte tatsächlich zu einer gewissen Entspannung. Während weiterhin Razzien in Vereinen durchgeführt und bei kleineren örtlichen Veranstaltungen Teilnehmer wegen PKK-Parolen festgenommen wurden, konnten nun einmal im Jahr kurdische Festivals mit bis zu 100.000 Teilnehmern störungsfrei durchgeführt werden.

Bei Gerichtsverfahren gegen angebliche Führungsfunktionäre der PKK werden die Angeklagten nach dem seit den 90er Jahren beibehaltenen immer gleichen Schema als ”Rädelsführer” einer ”kriminellen Vereinigung” – vor 1998 sogar einer „terroristischen Vereinigung“ - angeklagt und in der Regel zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Die Beteiligung an konkreten Straftaten muss ihnen dazu nicht nachgewiesen werden. Bei den Verfahren zeigen deutsche Gerichte eine beharrliche Ignoranz gegenüber allen Wandlungen der PKK oder den in langen Prozesserklärungen ausgeführten politischen Motiven der Angeklagten. So wurde am 10.April 2008 auch der seit 2002 in Deutschland lebende Europa-Vertreter der mittlerweile in der Türkei verbotenen kurdischen Parteien HADEP und DEHAP sowie der DTP, Muzaffer Ayata, der in der Türkei bereits 20 Jahre inhaftiert war, vom Oberlandesgericht Frankfurt am Main zu einer 3 ½ jährigen Freiheitsstrafe verurteilt.

Seit 2008 erfolgte eine neuerliche Verschärfung der Repression in Deutschland und anderen europäischen Ländern. Diese geht zurück auf die am 5.November 2007 in Washington erfolgte Einigung zwischen US-Präsident George W. Bush und dem türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan  auf eine gemeinsame Strategie zur Bekämpfung der PKK. Die USA sicherten zu, mit Hilfe der europäischen Partner die zivile Infrastruktur der Befreiungsbewegung in Europa ins Visier zu nehmen. „Die Europäer seien nachdrücklich gedrängt worden, gegen die PKK vorzugehen, erklärte Shari Villarosa, Chefberaterin in Sachen Terrorbekämpfung im US-Außenministerium im März 2010.[9] So seien die Polizeiaktionen von PKK-nahen Einrichtungen und die Verhaftungen von kurdischen Politikern in Frankreich, Italien Belgien und Deutschland auf Druck der US-Behörden erfolgt.

Im Rahmen dieser von den USA angestoßenen Kooperation erfolgte im Juni 2008 das von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) verhängte Betätigungsverbot für den kurdischen Satellitensender Roj TV. Roj TV erreicht mit seinen Programmen in türkischer, kurdischer, arabischer und assyrischer Sprache Millionen Zuschauer in Europa und im Nahen Osten und ist für viele kurdischstämmigen Bürger in Deutschland die einzige Möglichkeit, in ihrer Muttersprache authentische Informationen aus Kurdistan zu bekommen. Der Sender richte sich gegen den »Gedanken der Völkerverständigung«, heißt es im Verbotsbescheid. Wesentlicher Sendeinhalt sei eine »Glorifizierung des bewaffneten Kampfes gegen die Türkei« und das »Schüren eines Personenkultes um den inhaftierten PKK-Führer Abdullah Öcalan«, so das Innenministerium. Vor dem Hintergrund des »verschärften Vorgehens des türkischen Staates gegen PKK-Guerillastellungen« – gemeint sind die völkerrechtswidrigen Luftangriffe auf Ziele im Nordirak – erforderten »Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland« das Verbot des »PKK-Haussenders«.[10] Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig nannte die Verbotsgründe zutreffen, hob aber das Verbot am 26.Februar 2010 mit der Begründung auf, dass es unklar sei, ob ein deutsches Verbot gegen einen in Dänemark lizensierten Sender mit europäischen Recht vereinbar sei. Eine Woche später überfielen vermummte Antiterroreinheiten der Polizei die Senderstudios im belgischen Denderleeuw, zerschlugen Sendeeinrichtung in Höhe von über einer Million Euro und verhafteten mehrere Mitarbeiter.

Das Verbot von Roj TV war der Anlass für ein regionales Kommando der PKK-Guerilla, am 8. Juli 2008 drei Mitglieder einer Bergsteigergruppe des Deutschen Alpenvereins aus ihrem Camp in 3200 Metern Höhe am Berg Ararat gefangen zunehmen. ”Die Merkel-Regierung muss zusammen mit der türkischen Regierung aufhören, den Freiheitskampf des kurdischen Volkes im Namen wirtschaftlicher Interessen zu opfern”[11], forderte die Guerillaeinheit. Nach zehn Tagen kamen die bayerischen Bergsteiger unversehrt wieder frei. Einen Bärendienst hat die auf eigene Faust handelnde Guerillaeinheit der kurdischen Sache auf jeden Fall erwiesen. So zog die Bundestagsfraktion DIE LINKE einen erst wenige Tage vorher eingebrachten Antrag ”Friedliche Lösung der kurdischen Frage stärker ins Zentrum der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei stellen” wieder zurück, weil darin ”die Aufhebung der Einstufung von kurdischen Organisationen als kriminelle Vereinigung, insbesondere der Arbeiterpartei Kurdistans PKK” als ein ”Beitrag der Bundesregierung für den Frieden in der Region" gefordert wurde. "Wir können uns nicht für die PKK in einer Phase einsetzen, in der sie Geiseln nimmt", begründete Fraktionsvize Bodo Ramelow diesen Kotau vor der medial aufgepeitschten öffentlichen Meinung.[12]

 

Die grenzüberschreitende Kurdenverfolgung der 80er und 90er Jahre diente als Schrittmacher beim Abbau der Rechte von Flüchtlingen und Migranten. Bereits Ende der 80er Jahre hatte Generalbundesanwalt Kurt Rebmann eine Einschränkung des Asylrechts gefordert: ”Dies sollten die führenden Mitglieder der PKK zur Kenntnis nehmen. [...] In diesem Zusammenhang muss auch bedacht werden, dass eine zu großzügige und an unseren Sicherheitsbedürfnissen nicht orientierte Asyl- und Ausländerpolitik auf weitere Sicht zu einem Faktor der Instabilität in unserem Staate werden kann.”[13] Insbesondere kurdische Flüchtlinge aus der Türkei haben seitdem in Deutschland unter Verweis auf die Westtürkei als angeblich sichere Binnenfluchtmöglichkeit kaum noch Chancen auf eine Anerkennung und sind einer rigiden Abschiebepraxis ausgesetzt. Dazu kommt die ausufernde Asyl-Widerrufspraxis des Nürnberger Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gegen bereits anerkannte Flüchtlinge. ”In den letzten Jahren wurden in der Türkei insbesondere unter der AKP-Regierung durch Gesetzes- und Verfassungsänderungen sowie andere Reformmaßnahmen markante Fortschritte besonders im Bereich der Wahrung der Menschenrechte erzielt. Übereinstimmend wird von Beobachtern der sich durch große Teile der Gesellschaft ziehende Mentalitätswandel gewürdigt”, heißt es in einem Schreiben des BAMF unter Bezugnahme auf einen Lagebericht des Auswärtigen Amtes. Gegnern des türkischen Staates, die in Deutschland innerhalb des „linksradikalen Spektrums” eine herausragende Position eingenommen haben, drohe bei ihrer Abschiebung nur „in besonders gelagerten Einzelfällen staatliche Verfolgung.”[14] Abschiebehindernisse lägen daher nicht vor. Zum Zeitpunkt dieser Lageeinschätzung waren bei der gewaltsamen Niederschlagung großer Demonstrationen in mehreren kurdischen Städten Ende März 2006 gerade über ein Dutzend Zivilisten, darunter Kinder, von der Polizei erschossen worden.

2009 hat die Bundesregierung mit Syrien ein Abkommen zur Rückübernahme von Flüchtlingen geschlossen, die mit ungesichertem Aufenthaltsstatus in Deutschland leben. Betroffen davon sind bundesweit ca. 7.000 Menschen, darunter staatenlose Kurden, obwohl Kurden in Syrien systematisch verfolgt und entrechtet werden.

 

Auch kurdischstämmige Bürgerinnen und Bürger, die volles Aufenthaltsrecht in Deutschland erlangt haben, sind Diskriminierungen ausgesetzt. Wenn sie aus der Türkei stammen und noch keine deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, werden sie bis heute als Türken „verwaltet”. So wurde einer Familie im Sommer 2009 von den Berliner Behörden verweigert, ihren Sohn nach dem berühmten kurdischen Schriftsteller Cigerxwîn zu nennen, da dieser Name die nicht im türkischen Alphabet enthaltenen und daher in der Türkei verbotenen Buchstaben X und W enthält. Zahlreiche Einrichtungen und Maßnahmen zur Förderung der Integration von Migranten ignorieren die Tatsache, dass Kurdinnen und Kurden als zweitgrößte Migrantengruppe in Deutschland mit von den türkischen Migranten verschiedenen, spezifischen Integrationsproblemen bilden. So hat beispielsweise die Nichtanerkennung ihrer Muttersprache in Deutschland kognitive und psychosoziale Folgen, die die Persönlichkeitsentwicklung und Bildungschancen für kurdische Kinder nachhaltig beeinträchtigen.

Auf der Konferenz „Kurden in Deutschland – Geschichte, Gegenwart, Perspektiven für Gleichstellung“, die von der Föderation kurdischer Vereine in Deutschland - Yek Kom gemeinsam mit Flüchtlings-, Friedens- und Menschenrechtsorganisationen veranstaltet wurde, verabschiedeten die rund 150 teilnehmenden Politiker, Wissenschaftler und Verbandsvertreter am 9. September 2009 im Berliner Abgeordnetenhaus einem Forderungskatalog für einen Paradigmenwechsel der deutschen Politik gegenüber den Kurden. Der zentrale Punkt lautete: „Die Anerkennung der kurdischen Migrantinnen und Migranten als eigenständige Migrantengruppe und Gleichstellung mit den anderen Migrantengruppen.“ Weiterhin gefordert wird u.a. muttersprachlicher Ergänzungsunterricht, die Aufhebung PKK-Verbots, ein Abschiebestopp für kurdische Flüchtlinge und ein verstärkter Einsatz der Bundesregierung für die friedliche und demokratische Lösung der Kurdenfrage.

 

Gerade der letzte Punkt erscheint angesichts einer rund 150-jährigen Kontinuität der deutschen Türkei- und Mittelostpolitik unwahrscheinlich. So, wie im Ersten Weltkrieg das Schicksal des armenischen Volkes der strategischen deutsch-türkischen Waffenbrüderschaft geopfert wurde, wird heute das Schicksal des kurdischen Volkes geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen des deutschen Imperialismus im Nahen und Mittleren Osten untergeordnet. Dass nicht humanitäre Appelle sondern nur handfeste Tatsachen wie eine wirkliche Demokratisierung der Türkei einschließlich der Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Kurden zu einem grundsätzlichen Wandel der deutschen Kurden-Politik führen werden, zeigt das folgende Beispiel: Noch ein Jahr nach dem Sturz des Baath-Regimes listete der deutsche Innenminister Otto Schily im Frühjahr 2004 im Verfassungsschutzbericht des Inlandsgeheimdienstes für das Jahr 2003 die Patriotische Union Kurdistans PUK und die Demokratische Partei Kurdistans KDP unter „sicherheitsgefährdende und extremistische Bestrebungen von Ausländern“ auf.[15] Ein Jahr später wurden der PUK-Vorsitzende Jalal Talabani zum Staatspräsidenten des Irak und der KDP-Vorsitzende Massoud Barzani zum Präsidenten der Region Kurdistan-Irak gewählt und die Bundesregierung hofierte die gerade noch als „extremistisch“ gescholtenen Politiker. So kann also gehofft werden, das irgendwann einmal auch Abdullah Öcalan als Staatsgast in Berlin empfangen wird. Doch der Wandel muss von innen, von den demokratischen Kräften innerhalb der Türkei und Nordkurdistans, kommen.

 

 

Der Autor ist Historiker und Journalist in Berlin und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bundestagsabgeordneten Ulla Jelpke. Gemeinsam mit Brigitte Kiechle hat er gerade das Buch „PKK – Perspektiven des kurdischen Freiheitskampfes: Zwischen Selbstbestimmung, EU und Islam“ veröffentlicht.

 

Der Artikel erschien auf kurdisch in der Le Monde diplomatique kurdi im Juni 2010

http://www.lemonde-kurdi.com/siyaseta-alman-kurd-u-tirkiye

 



[1] Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke Bd.4, Berlin 1990, S.83.

[2] Paul Rohrbach, Die Bagdad-Bahn – Vom deutschen Weg zur Weltgeltung, Berlin 1902, S.16.

[3] Richard Albrecht: „Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?“ – Hitlers Geheimrede am 22.August 1939, Herzogenrath 2007.

[4] Die Welt 5.Oktober 1981.

[5] Eberhard Schultz: Zehn Jahre grenzüberschreitende Kurdenverfolgung, Köln 1998, S.17

 

[6] Verbotsverfügung des Bundesinnenministers gegen die PKK, ERNK und kurdische Vereine vom 26.November 1993, zit. nach Bürgel, Türkeipolitik, 472.

[7] Interview mit Abdullah Öcalan, Süddeutsche Zeitung 30./31.März 1996.

[8] Interview mit Abdullah Öcalan, Der Spiegel 46/1996.

[9] Todays Zaman 20.März 2010.

[10] Bundesministerium des Inneren, Verbotsverfügung, Berlin 13.Juni 2008.

[11] Junge Welt 15.9.2008.

[12] Spiegel-Online 16.7.2008.

[13] Schultz, Zehn Jahre, 17.

[14] Junge Welt 19.4.2006.

[15] Bundesministerium des Inneren: Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2003, Berlin 2004, S.228.