Junge Welt 16.10.2010
/ Geschichte / Seite 15
»Der Alte«
Vor 115 Jahren gründeten Wladimir Iljitsch Uljanow und Julius Martow den
Petersburger Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterklasse
Von Nick Brauns
Am 19. September 1895 meldete der
Chef des Wershbolowoer Grenzpunktes der
Petersburg-Warschauer Eisenbahn-Gendarmerieverwaltung
an das Polizeidepartement die Rückkehr eines von den russischen Behörden mißtrauisch beäugten jungen Mannes: »Heute ist […] Uljanow angekommen […] und begibt sich, laut der gekauften
Fahrkarte, in die Stadt Wilna. Bei der sorgfältigsten
Untersuchung seines Gepäcks wurde nichts Ungebührliches entdeckt.« So gründlich war die Untersuchung wohl nicht, sonst
hätten die Grenzwächter herausgefunden, daß der
eigens von einem Kürschnermeister in der Berliner Mansteinstraße angefertigte gelbe Lederkoffer einen
doppelten Boden enthielt, unter dem sich zahlreiche illegale marxistische
Schriften verbargen. Der Rechtsanwaltsassistent Wladimir Iljitsch Uljanow, der später unter dem Pseudonym Lenin bekannt
werden sollte, war fünf Monate in Westeuropa gewesen, um Kontakte zu russischen
politischen Exilanten zu knüpfen. In der Schweiz hatte er sich mit dem »Vater
des russischen Marxismus«, Georgij Plechanow,
getroffen und die Herausgabe einer gemeinsamen Zeitschrift Rabotnik
(Arbeiter) vereinbart. Die Gespräche mit Plechanow
sowie dem ebenfalls im Schweizer Exil lebenden Pavel Axelrod bestärkten Uljanow in der Überzeugung, daß
es an der Zeit war, eine sozialdemokratische Partei in Rußland
zu gründen, um die spontane Arbeiterbewegung im Land anzuleiten. In Paris hatte
sich Uljanow mit der Geschichte der Pariser Kommune befaßt und Paul Lafargue, den
Schwiegersohn von Karl Marx, kennengelernt. Schließlich hatte Uljanow mehrere Wochen in Berlin verbracht, wo er in der
preußischen Staatsbibliothek Schriften von Marx und Engels studierte, an einer
SPD-Versammlung teilnahm und auf Empfehlung Plechanows
den Reichstagsabgeordneten Wilhelm Liebknecht besuchte.
Agitation und Praxis
Die problemlose Einreise nach Rußland gaukelte eine
trügerische Sicherheit vor. In Wirklichkeit war die zaristische Geheimpolizei Ochrana Uljanow von Anfang an auf
der Spur, als er zuerst Station in Wilna, Moskau und
Orechowo-Sujewo machte, um sich mit den dortigen marxistischen Zirkeln zu beraten,
bis er am 11. Oktober Petersburg erreichte. Schon als Bruder des 1887 wegen
seiner Beteiligung an einem gescheiterten Attentat auf Zar Alexander III.
hingerichteten Sascha stand Wladimir Iljitsch Uljanow
unter verschärfter Beobachtung.
Die Mehrzahl der Petersburger Marxisten waren Intellektuelle, die zwar sehr
engagiert in theoretischen Debatten, aber von der Arbeiterschaft isoliert
waren. Lediglich die vom jungen Julius Martow
geleiteten Zirkel hatten schon einen gewissen Einfluß
vor allem unter jüdischen Industriearbeitern gewonnen. Martow
vertrat – im Gegensatz zum stärker theorieorientierten Uljanow
– die Überzeugung, daß sich der Marxismus durch eine
praktische Führungsrolle der Sozialdemokraten bei Arbeiterkämpfen schneller und
wirksamer unter der Arbeiterklasse verbreiten ließe als durch langwierige
Erläuterungen von Marx’ »Kapital«. Trotz dieses anfänglichen Gegensatzes gelang
es Uljanow und Martow, die
auch persönlich Freunde wurden, die rund 20 marxistischen Zirkel der Stadt in
einem gemeinsamen »Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterklasse« unter einem
fünfköpfigen Leitungsgremium zu vereinen. Die Leiter des Kampfbundes waren V.
V. Starkov, G. M. Kschischanovskij,
A. L. Maltschenko, Uljanow , P. P. Zaporoschek, Martow und A. A. Vaneew. Martow und seine Anhänger
setzten sich in den gemeinsamen Verhandlungen mit ihrer praktischen
Orientierung durch, und der Kampfbund ging zur Agitation unter der
Industriearbeiterschaft über. Uljanow konnte nun
erstmals in seinem Leben praktische Politik außerhalb der intellektuellen
Diskussionszirkel betreiben. Er verfaßte ein
Flugblatt an fünfhundert streikende Textilarbeiter der Thornton-Fabrik, traf
sich mit den Streikführern und spendete 40 Rubel für verhaftete Arbeiter. Als
nächstes schrieb er eine Broschüre mit »Erläuterungen des Gesetzes über die
Geldstrafen, die den Arbeitern in den Fabriken und Werken auferlegt wird«. Für
den Druck der Broschüre hatte der Kampfbund Kontakte zu den an einem
bäuerlichen Sozialismus orientierten Volkstümlern
aufgenommen, die eine illegale Druckerei betrieben. »Er verblüffte uns mit der
Fülle statistischer Angaben, mit denen er seine Ausführungen illustrierte«,
schilderte ein Genosse den Eindruck, den der erst 25jährige Uljanow
mit dem rötlichen Bart und den etwas zugekniffenen schlauen Augen auf seine
Mitstreiter machte. »Seine kahle Stirn und seine große Gelehrsamkeit brachten
Wladimir Iljitsch den Spitznamen ›der Alte‹ ein.«
Bislang hatte die Geheimpolizei die Petersburger Sozialdemokraten zwar
beobachtet und den Zahnarzt Dr. Michailow als Spitzel eingeschleust, doch
wurden diese zuerst als weitgehend »harmlose Salonmarxisten« eingeschätzt. Dies
hatte sich mit der Bildung des Kampfbundes geändert. »Seit der Rückkehr Uljanows ist die Tätigkeit des Zirkels lebhafter geworden«,
meldete der Direktor des Polizeidepartements im Dezember dem Chef der
Petersburger Gendarmerieverwaltung. »Angesichts einer
Verstärkung der Propaganda und der Verbreitung der revolutionären Ausgaben hält
es das Polizeidepartement für an der Zeit, die unverzügliche Liquidierung der St.Petersburger sozialdemokratischen Gruppe in Angriff zu
nehmen...« Der Kampfbund hatte gerade den Druck der ersten Ausgabe seiner
Zeitung Rabotscheje Delo
(Arbeitersache) vorbereitet. Uljanow, der für die
erste Nummer mehrere Artikel verfaßt hatte, nahm am
20. Dezember einen Korrekturabzug mit nach Hause. Doch die Zeitung sollte
niemals erscheinen. Denn in dieser Nacht erfolgten Polizeirazzien bei 46
Sozialdemokraten, von denen 29 in Untersuchungshaft kamen. Weitere Aktivisten,
darunter Martow und Uljanows
spätere Ehefrau Nadeschda Krupskaja, wurden in den
folgenden Wochen verhaftet. »Ich bekenne mich nicht schuldig, der Partei der
Sozialdemokraten oder irgendeiner anderen Partei anzugehören«, erklärte Uljanow wahrheitsgemäß im ersten Verhör am 2. Januar 1896,
denn eine solche Partei existierte schließlich in Rußland
noch nicht.
Keimzelle der SDAPR
Bereits im Mai 1896 ging die Saat des kurzlebigen Kampfbundes auf. Aus einem
Protest von Petersburger Textilarbeitern wegen nicht ausgezahlter Löhne für
einen dreitägigen Urlaub anläßlich der Krönung des
neuen Zaren Nikolai II. wurde eine Streikwelle in 20 der größten Fabriken mit
über 30000 Beschäftigten für einen 10½-Stunden-Arbeitstag. Die in Freiheit
verbliebenen Mitglieder des Kampfbundes spielten eine zentrale Rolle bei diesem
ersten über ein einzelnes Industriewerk hinausgehenden Streik in Rußland. Erstmals in der Geschichte der revolutionären
Bewegung des Landes hatten die Revolutionäre die Massen zum Handeln bewegen
können. Von nun an traten die auf die Arbeiterklasse und den Klassenkampf
orientierten Sozialdemokraten aus dem Schatten der bislang in der
revolutionären Bewegung dominanten Volkstümler mit
ihrer einseitigen Propagierung bewaffneten Kampfes.
Der Kampfbund kann so als Keimzelle der späteren Sozialdemokratischen
Arbeiterpartei Rußlands (SDAPR) angesehen werden. An
deren Gründung im Jahre 1889 selber konnte Uljanow
allerdings nicht teilnehmen, da er nach 13monatiger Untersuchungshaft am 29.
Januar 1897 gemeinsam mit fast allen inhaftierten Kampfbundmitgliedern zu drei
Jahren »administrativer Verbannung« nach Sibirien verurteilt worden war.
Quelle: Aus Lenins erster Broschüre »Erläuterungen des
Gesetzes über die Geldstrafen«
Die Geldstrafen haben also vor nicht
gar so langer Zeit das Licht der Welt erblickt – sie kamen zusammen mit den
großen Fabriken und Werken auf, zusammen mit dem Großkapitalismus, zusammen mit
der vollständigen Scheidung in reiche Unternehmer und bettelarme Arbeiter. Die
Geldstrafen waren das Resultat der vollen Entwicklung des Kapitalismus und der
vollen Versklavung des Arbeiters. Aber diese Entwicklung der großen Fabriken
und der wachsende Druck der Unternehmer hatten noch andere Folgen. Die
Arbeiter, die sich den Fabrikanten gegenüber als völlig machtlos erwiesen,
begannen zu begreifen, daß sie völliger Ruin und ein
Bettlerleben erwarten, wenn sie sich nicht vereinigen. Die Arbeiter begannen zu
begreifen, daß es für sie nur ein Mittel zur Rettung
vor Hungertod und Degeneration gibt, mit denen der Kapitalismus sie bedroht –
sich zusammenzuschließen zum Kampf gegen die Fabrikanten, zum Kampf für höheren
Lohn und bessere Lebensbedingungen.«
Lenin, Werke, Band 2, S. 61f., Dietz Verlag, Berlin
1966