Junge
Welt 8./9.1.2011
Der Anfragenfeldzug
Vor 95 Jahren wurde Karl Liebknecht aus der
SPD-Reichstagsfraktion ausgeschlossen
Von Nick
Brauns
Karl
Liebknecht habe die Rechte aus seiner Fraktionszugehörigkeit verwirkt. Die
Fraktion werde sich künftig so verhalten, daß
Liebknecht für sie nicht mehr existiere. Diesem Antrag des Abgeordneten Wilhelm
Buck, der einem Ausschluß Liebknechts aus der
sozialdemokratischen Reichstagsfraktion gleichkam, stimmten am 12. Januar 1916
in einer namentlichen Abstimmung 60 SPD-Abgeordnete zu, 25 votierten dagegen,
Liebknecht selber hatte sich enthalten. Die Fraktion müsse sich von einem
Ballast befreien, hatte Buck den zuvor von der rechten Mehrheit vorbereiteten Ausschlußantrag begründet, denn ansonsten habe es den
Anschein, als ob Liebknecht der einzige Hüter der Volksinteressen sei.
Konsequent gegen Krieg
Daß dieser Eindruck tatsächlich
zumindest unter den mit zunehmender Kriegsdauer vom anfänglichen
Hurrapatriotismus abrückenden Teilen der Bevölkerung entstehen mußte, lag an der konsequenten Kriegsgegnerschaft Karl
Liebknechts. Nachdem er sich am 4. August 1914 ein letztes Mal der
Fraktionsdisziplin gebeugt und zusammen mit den anderen Abgeordneten im Namen
von »Burgfrieden« und »Vaterlandsverteidigung« für die Kriegskredite gestimmt
hatte, wagte er es bei der nächsten Abstimmung am 2. Dezember 1914 als
einziger, sein Nein zur Kriegsunterstützung im Plenarsaal des Deutschen
Reichstags zu verkünden. Bei einer weiteren Abstimmung am 20. März 1915 fand
sich auch der Abgeordnete Otto Rühle an seiner Seite. Trotz seiner Immunität
als Reichstagsabgeordneter mußte Liebknecht am
folgenden Tag seinen Kriegsdienst als Bausoldat an der Front antreten. So
hofften die Militärs, Liebknecht von seinen Kampfgefährten der marxistischen
Gruppe »Internationale«, deren bekannteste Vertreterin Rosa Luxemburg bereits
inhaftiert war, zu trennen und von den Massen zu isolieren.
Liebknecht war aufgrund der Militärgesetzgebung als Soldat jegliche politische
Betätigung außerhalb des Parlaments verboten. In der Reichstagssitzung am 20.
August 1915 verweigerte der Antimilitarist auch der vierten Kriegskreditvorlage
die Zustimmung. Zusätzlich stellte er gegen den Willen von Partei- und
Fraktionsvorstand, die eine Diskreditierung der SPD bei der Reichsregierung
befürchteten, erstmals eine Kleine Anfrage: »Ist die Regierung bei
entsprechender Bereitschaft der anderen Kriegführenden bereit, auf der
Grundlage des Verzichts auf Annexionen aller Art in sofortige Friedensverhandlungen
einzutreten?«
Daß der Staatssekretär des Äußeren, Gottlieb von Jagow, die Antwort verweigerte, interpretierte Liebknecht
als »Bekenntnis« der Friedensfeindlichkeit der Herrschenden. Nach wiederholten
Schwächeanfällen Ende Oktober in ein Lazarett überführt, nutzte Liebknecht die
Zeit zur Vorbereitung eines »Anfragenfeldzuges«. Da Anträge nur von einer
größeren Anzahl von Abgeordneten eingebracht und Reden vom Fraktionsvorstand
verhindert werden konnten, war dies das einzige noch verbliebene Mittel, den
Forderungen der Kriegsgegner öffentlich Gehör zu verschaffen.
Am 17. November wurde Liebknecht in ein Berliner Lazarett verlegt. Die Berliner
Neuesten Nachrichten berichteten, daß er weiterhin in
Uniform bei lebhafter politischer Diskussion in einem Lokal am Potsdamer Platz
beobachtet wurde. »Außerdem bleibt sein nicht bloß schreibender, sondern auch
handelnder Radikalismus ein für uns willkommenes warnendes Fanal draußen am
Kreuzweg der äußersten Linken«, heißt es in dem Blatt.
Mit der erneuten Frage nach Friedensverhandlungen ohne Annexionen leitete
Liebknecht am 14. Dezember 1915 von der Reichstagstribüne den Anfragenfeldzug
ein. Er fragte nach einer Veröffentlichung der amtlichen Dokumente über die
Kriegsursachen und die Übertragung der Entscheidungsbefugnis über Krieg und
Frieden an das Parlament. Die Anfragen bedienten sich zwar einer
parlamentarischen Sprache, doch sie knüpften direkt an die Gedankengänge der
kriegsmüden Teile der Bevölkerung an. »Weiß die Regierung, in welch schwerer
wirtschaftlicher Not sich die Masse des deutschen Volkes infolge des Krieges,
der Gewinnsucht kapitalistischer Interessengruppen und des Versagens der
Regierung befindet? – Ist die Regierung endlich bereit, zur Steuerung dieser
Not (…) die erforderlichen Schritte zur ausreichenden Versorgung der
Bevölkerung mit Lebensmitteln (…) zu tun, und zwar durch Regelung der
Produktion nach den Interessen der Allgemeinheit, durch Beschlagnahme der
Vorräte und ihrer gleichmäßigen Verteilung auf die Gesamtbevölkerung (…) ?« Die
Regierung blieb die Antworten schuldig, doch Liebknechts an die Front
geschickter Genosse Hermann Duncker bestätigte in einem Brief die Zustimmung
einfacherer Soldaten.
Klassenkampf ist Pflicht
Am 21. Dezember 1915 stimmten
erstmals 19 weitere sozialdemokratische Abgeordnete gegen die Kriegskredite.
Doch die Begründung dieser »Dezembermänner« um Georg Ledebour,
die Reichsgrenzen seien jetzt gesichert, »entbehrte
der aggressiven Schärfe und der prinzipiellen Klarheit«, kritisierte
Liebknecht. Ohne Unterstützung dieser halbherzigen Opposition setzte Liebknecht
am 11. Januar 1916 den Anfragenfeldzug fort. Ob dem Reichskanzler bekannt sei,
»daß während des jetzigen Krieges im verbündeten
türkischen Reiche die armenische Bevölkerung zu Hunderttausenden aus ihren
Wohnsitzen vertrieben und niedergemacht worden ist«, thematisierte Liebknecht
den unter den Augen deutscher Offiziere verübten Genozid. Diese und weitere
Fragen wurden durch heftige Zwischenrufe gestört. Schließlich wurde Liebknecht
durch den Parlamentspräsidenten zur Ordnung gerufen und ihm das Wort entzogen.
Im Anschluß an die Parlamentssitzung beriet der
Seniorenkonvent des Reichstages über eine Einschränkung des Fragerechts und
sprach sich mit großer Mehrheit für die Unzulässigkeit von Liebknechts Anfragen
aus.
Daß Liebknechts Vorgehen zur »Gefährdung eines
Parlamentsrechts« führte, war auch das Hauptargument für seinen Fraktionsausschluß. Liebknecht habe in sträflicher Weise
ein Recht mißbraucht, beklagte Gustav Noske. Kein Parlament könne es sich gefallen lassen, von
»Querulanten« in der Arbeit gehindert zu werden mit Anfragen, von deren
Schädlichkeit er überzeugt sei, so Noske, der drei
Jahre später als Kriegsminister die Verantwortung für die Ermordung Liebknechts
tragen sollte. »Klassenkampf gegen den Krieg, gegen die Regierung und die
bestehende Gesellschaftsordnung wäre die Pflicht der Partei, der Fraktion
gewesen«, verteidigte sich Liebknecht und endete mit der Versicherung, er werde
»eine Fraktionspolitik und Fraktionsbeschlüsse, die den wichtigsten
Parteigrundsätzen zuwiderlaufen (…) auch in Zukunft nicht befolgen, sondern mit
allen Mitteln bekämpfen«.
Quellentext: »Keine Illusionen mehr!«
Der parlamentarische Burgfrieden ist, wo immer sich
Gelegenheit bietet, zu entlarven und zu zerstören. […] Ob die Anfragen das
idealste Mittel für diesen Zweck sind, spielt keine Rolle, da einem einzelnen
jedenfalls kein besseres Mittel zur Verfügung steht und es ein Verbrechen wäre,
heute irgendein vorhandenes Mittel ungenutzt zu lassen. […] Erhoben sich nicht
stets, wenn das Proletariat von irgendeinem Rechte rücksichtslosen Gebrauch
machte, die reaktionären Gewalten, um ihm dieses Recht wegen »Mißbrauchs« zu rauben. Welche Antwort fand die Partei
früher auf solchen Attentatsgelüste und Drohungen? Sich dadurch vor der
Ausnutzung eines Rechts abschrecken zu lassen, heißt: dieses Recht aus Furcht, daß es künftig gewaltsam entrissen werde, schon für die
Gegenwart freiwillig preisgeben. Aber freilich, die Fraktionsmehrheit hat das
Kämpfen, den Kampf ums Recht mit dem Klassenkampf verlernt. Noch mehr: Sie hat ihm abgeschworen, sie will ihn nicht mehr. […] Wenn das
Recht der Anfragen nur wie ein rohes Ei behütet in die Friedenszeit
hinübergerettet werden kann, so mag es auch heute zerschlagen werden – und Sie
tragen die Verantwortung! Heute, für die Konflikte dieser Zeit, hat sich alles
zu bewähren, oder es breche zusammen. Das Morsche mag sinken. Illusionen über
Macht, die wir nicht besaßen, über Recht, das nur Scheinrecht war, über
Grundsätze von Papier und nicht Leben liegen im Haufen
zerfetzt am Wege der Politik des 4. August. Sie haben den jämmerlichen
Zusammenbruch der Internationale und vor allem der deutschen Partei mitverschuldet. Keine Illusionen mehr! Nackte
erbarmungslose Wahrheit allein kann der Zukunft des Sozialismus frommen.«
Aus Karl Liebknechts Verteidigung in der Sitzung der
sozialdemokratischen Reichstagsfraktion vom 12. Januar 1916. In Karl
Liebknecht: Gesammelte Reden und Schriften Band VIII, Berlin 1974, S.468ff.