Tageszeitung junge Welt

04.02.2006 / Wochenendbeilage / Seite 15


Mythos Volksfront

Vor 70 Jahren tagte im Pariser Hotel Lutetia die erste größere Konferenz für eine deutsche Volksfront

Nick Brauns

Ausgehend von den Beschlüssen der Kommunistischen Internationale (Komintern) zur Schaffung antifaschistischer Volksfronten unter Einschluß bürgerlicher Antifaschisten war es dem kommunistischen Verleger Willi Münzenberg im September 1935 erstmals gelungen, 51 kommunistische, sozialdemokratische und bürgerliche Hitlergegner zusammenzubringen. Nach ihrem Tagungsort, dem Hotel Lutetia am Pariser Boulevard Raspal, wurde dieser Kern einer deutschen Volksfront als Lutetia-Kreis bekannt.

Eine im Dezember 1935 von Kommunisten und Sozialdemokraten unterzeichnete Protesterklärung gegen die Hinrichtung des KPD- und Rote-Hilfe-Funktionärs Rudolf Claus machte die zunehmende Bereitschaft zur Zusammenarbeit deutlich. Um das Vorhaben auf breitere Füße zu stellen und – so ein Informant des Prager Exilvorstandes der SPD – das Übergewicht von Literaten und Juden unter den Interessenten zu reduzieren, wurden weitere Emigranten aus der Schweiz und Westfrankreich nach Paris gebracht.

Am 1. Februar trafen sich Vertreter der Arbeiterparteien KPD, SPD, SAP und der SPD-Oppositionsgruppe Revolutionäre Sozialisten zu einer Vorbesprechung. Tiefen Eindruck machte die Erklärung Münzenbergs, er wolle eine Volksfront auf der Grundlage völliger Glaubens- und Gewissensfreiheit. Die frühere Politik der Kommunisten sei falsch gewesen. In Zukunft müsse eine deutsche Politik betrieben werden, so Münzenberg. »Er legte eine Beichte ab, die unseren Genossen furchtbar imponierte, es war so, als ob die Komintern das sagte«, schrieb ein Berichterstatter an den SPD-Vorstand. Herbert Wehner als Kandidat des Politbüros der KPD verdammte Münzenbergs Äußerungen dagegen als »opportunistische Prinzipienlosigkeit«.

Streit um Ziele

Auf Einladung des Schriftstellers Heinrich Mann und des saarländischen SPD-Funktionärs Max Braun tagte am 2. Februar im Hotel Lutetia die erste größere Volksfrontkonferenz mit 118 Teilnehmern. 23 von ihnen gehörten der KPD an, darunter außer Münzenberg auch die Politbüromitglieder Franz Dahlem und Philipp Dengel sowie Wilhelm Koenen, Peter Maslowski, Hermann Matern und der Chefredakteur der Roten Fahne Alexander Abusch. Unter den 20 Sozialdemokraten waren zwar bekanntere Funktionäre wie Rudolf Breitscheid, Albert Grzesinski, Erich Kuttner und Kurt Löwenstein. Doch keiner von ihnen konnte offiziell im Namen der Sozialdemokratischen Partei sprechen. Kleinere sozialistische Gruppen wie die Revolutionären Sozialisten, die Sozialistische Arbeiterpartei (SAP) und der Internationale Sozialistische Kampfbund stellten acht, bürgerliche Gruppierungen 37 und Katholiken vier Vertreter. Unter den zahlreichen Schriftstellern und Intellektuellen befanden sich Heinrich und Klaus Mann, Emil Ludwig, Lion Feuchtwanger, Ernst Toller, Ludwig Marcuse sowie Leopold Schwarzschild.

Nach einem Referat von Erich Kuttner über den Amnestiekampf in Deutschland wurde ein Appell an alle Menschen guten Willens verabschiedet, für die Befreiung der Hitlergegner aus den faschistischen Kerkern einzutreten.

Während bürgerliche Vertreter auf Ausarbeitung eines Regierungsprogramms für die Zeit nach Hitlers Sturz drängten, betonte Franz Dahlem, daß es vordringlich um die Lösung der nächsten Aufgaben gehe. Ein Ausschuß unter Vorsitz Heinrich Manns mit Münzenberg, Breitscheid und dem Journalisten Georg Bernhard als ständigen Mitarbeitern wurde gebildet, um eine Plattform zur Sammlung aller Oppositionsgruppen auszuarbeiten. Dieser später als Komitee zur Vorbereitung einer deutschen Volksfront bezeichnete Ausschuß sollte sich aufgrund prinzipieller Differenzen das ganze Jahr vergeblich mit programmatischen und organisatorischen Fragen herumschlagen. Während bürgerliche und sozialdemokratische Vertreter dem Bekenntnis der KPD zu einer »demokratischen Republik« als taktischer Wendung kein rechtes Vertrauen entgegenbringen wollten, kritisierten SAP und Revolutionäre Sozialisten die »Aufgabe des Klassenkampfes und des Kampfes um den Sozialismus« zugunsten der Zusammenarbeit mit bürgerlichen Kräften.

In einer »Kundgebung an das deutsche Volk« rief die Pariser Konferenz die einzelnen Parteien und Gruppierungen auf, sich unter Achtung ihrer jeweiligen Sonderziele für die Wiederherstellung der elementarsten Menschenrechte zu vereinen. Die Veröffentlichung dieses Aufrufs am 20. Februar in den Kominternorganen Rundschau und Inprekorr stieß auf heftigen Einspruch der operativen Gruppe im Politbüro der KPD. Walter Ulbricht kritisierte den Aufruf als verfrüht, da »die Beratung einer gemeinsamen Plattform voraussetzt, daß die Vertreter der in Deutschland tätigen Organisationen, das sind KPD, SPD und Zentrum, beteiligt sind. Bevor offizielle Vertreter der drei Parteien sich zur Teilnahme an solchen Beratungen nicht zusammengefunden haben, ist es zwecklos, sich mit Programmentwürfen zu beschäftigen.« Es sei zudem schwierig, »unseren Genossen zu erklären, warum und wie wir für den Kampf um demokratische Freiheiten sind«, gestand Ulbricht die Probleme vieler Kommunisten mit der neuen Politik ein.

Keine Massenbasis

Erste Erfolge der Volksfrontbewegung waren die Bildung eines gemeinsamen Flüchtlingskomitees unter dem Vorsitz des ehemaligen sozialdemokratischen preußischen Innenministers Albert Grzesinski, Hilfskomitees in Straßburg und Amsterdam sowie die ab März 1936 von Heinrich Mann, Rudolf Breitscheid, Max Braun und Bruno Frei herausgegebenen Deutschen Informationen mit Nachrichten über den faschistischen Terror und die Kriegsvorbereitungen des Hitlerregimes.

»In gewissem Sinne konnte er sich eine Weile lang als repräsentative Vertretung der deutschen Emigration betrachten, auch wenn der sozialdemokratische Parteivorstand seinen Beitritt offiziell versagte«, urteilte der Schriftsteller und ehemalige Münzenberg-Mitarbeiter Kurt Kersten später über den Lutetia-Kreis. Doch im Gegensatz zur französischen Volksfrontbewegung, die 1936 unter Léon Blum die Regierung bildete, gab es in der deutschen Emigration keine Massenbasis. Vornehmlich auf Intellektuelle gestützt, gelang es der Bewegung für eine deutsche Volksfront nicht, eine auch nur annähernd umfassende Vertretung des ganzen Volkes zu werden. »Sozialdemokraten und Kommunisten, beide von der bürgerlich gekleideten Seite, veruneinigten sich über ihren Einfluß bei den Ärmsten – gesetzt sie wären vorher eines Sinnes gewesen«, schrieb Heinrich Mann rückblickend in seiner Autobiographie.

Schließlich waren die im August begonnenen Moskauer Schauprozesse genau ein Jahr nach ihrem VII. Weltkongreß und dessen Volksfrontbeschlüssen ein Dolchstoß in den Rücken der Komintern. So heißt es in Harald Wessels Münzenberg-Biographie: »Mit den 16 zum Tode Verurteilten wurde auch der Geist der Volksfront füsiliert. Denn welcher Sozialist, Sozialdemokrat, Anarchist, christliche Humanist, Pazifist oder bürgerliche Antifaschist sollte Zutrauen zum Bündnisangebot von Kommunisten haben, deren Moskauer Zentrale der Welt solche Monstrositäten zumutete.«

Quellentext: »Kundgebung an das deutsche Volk«

Über hundert Vertreter des freiheitlichen deutschen Bürgertums und der deutschen Arbeiterschaft aller Richtungen, die Anfang Februar 1936, drei Jahre nach Beginn des gegenwärtigen deutschen Regimes, zu einer Tagung im Ausland versammelt waren, beschließen ihre Prüfung und Aussprache einmütig wie folgt:

Sie stellen fest:

Die gegenwärtige deutsche Regierung hat die wirtschaftlichen und sozialen Zustände durch Vergeudung, Rüstung, Zerstörung des Außenhandels und Zertrümmerung der Kaufkraft zerrüttet. Unter diesem Regime ist fortschreitende Verschlimmerung unausbleiblich.

Die gegenwärtige deutsche Regierung hat durch das undeutsche System der Willkür, der Gewalt, des Gewissenszwanges und der persönlichen Bereicherung der Machthaber eine tiefe und einheitliche Sehnsucht nahezu aller Deutschen, ausgenommen der direkten Nutznießer des Systems, nach dem Ende dieses Terrors und nach Wiederherstellung der elementarsten Menschenrechte ausgelöst.

Sie erklären und fordern:

1. Die Wiederherstellung dieser elementarsten Rechte geht in der Gegenwart allem anderen voran. Die einzelnen Parteien und Gruppen werden aufgerufen, sich zusammenzufinden und ohne Aufgabe ihrer programmatischen Ziele ihre ganze Kraft auf die Verwirklichung folgender allgemeingültiger und fundamentaler Postulate zu richten: Freiheit der Gesinnung, der Meinungsäußerung, der Forschung und der Lehre, Freiheit des Glaubens und der Religionsausübung, Freiheit der Person, Achtung der Heiligkeit des menschlichen Lebens, Rechtssicherheit und Gleichheit vor dem Gesetz, Verantwortlichkeit und Absetzbarkeit der oberen Staatsorgane, Kontrolle über die öffentlichen Einnahmen und Ausgaben, Ausrottung der Korruption und der parasitären Parteiherrschaft. (...)

* Aus: Babette Groß, Willi Münzenberg. Eine politische Biographie, Stuttgart 1967, S. 293 f.