Ausgehend von den Beschlüssen der Kommunistischen Internationale (Komintern)
zur Schaffung antifaschistischer Volksfronten unter Einschluß bürgerlicher Antifaschisten
war es dem kommunistischen Verleger Willi Münzenberg im September 1935 erstmals
gelungen, 51 kommunistische, sozialdemokratische und bürgerliche Hitlergegner
zusammenzubringen. Nach ihrem Tagungsort, dem Hotel Lutetia am Pariser
Boulevard Raspal, wurde dieser Kern einer deutschen Volksfront als
Lutetia-Kreis bekannt.
Eine im Dezember 1935 von Kommunisten und Sozialdemokraten unterzeichnete
Protesterklärung gegen die Hinrichtung des KPD- und Rote-Hilfe-Funktionärs
Rudolf Claus machte die zunehmende Bereitschaft zur Zusammenarbeit deutlich. Um
das Vorhaben auf breitere Füße zu stellen und – so ein Informant des Prager
Exilvorstandes der SPD – das Übergewicht von Literaten und Juden unter den
Interessenten zu reduzieren, wurden weitere Emigranten aus der Schweiz und
Westfrankreich nach Paris gebracht.
Am 1. Februar trafen sich Vertreter der Arbeiterparteien KPD, SPD, SAP und
der SPD-Oppositionsgruppe Revolutionäre Sozialisten zu einer Vorbesprechung.
Tiefen Eindruck machte die Erklärung Münzenbergs, er wolle eine Volksfront auf
der Grundlage völliger Glaubens- und Gewissensfreiheit. Die frühere Politik der
Kommunisten sei falsch gewesen. In Zukunft müsse eine deutsche Politik
betrieben werden, so Münzenberg. »Er legte eine Beichte ab, die unseren Genossen
furchtbar imponierte, es war so, als ob die Komintern das sagte«, schrieb ein
Berichterstatter an den SPD-Vorstand. Herbert Wehner als Kandidat des
Politbüros der KPD verdammte Münzenbergs Äußerungen dagegen als
»opportunistische Prinzipienlosigkeit«.
Auf Einladung des Schriftstellers Heinrich Mann und des saarländischen
SPD-Funktionärs Max Braun tagte am 2. Februar im Hotel Lutetia die erste
größere Volksfrontkonferenz mit 118 Teilnehmern. 23 von ihnen gehörten der KPD
an, darunter außer Münzenberg auch die Politbüromitglieder Franz Dahlem und
Philipp Dengel sowie Wilhelm Koenen, Peter Maslowski, Hermann Matern und der
Chefredakteur der Roten Fahne Alexander Abusch. Unter den 20
Sozialdemokraten waren zwar bekanntere Funktionäre wie Rudolf Breitscheid,
Albert Grzesinski, Erich Kuttner und Kurt Löwenstein. Doch keiner von ihnen
konnte offiziell im Namen der Sozialdemokratischen Partei sprechen. Kleinere
sozialistische Gruppen wie die Revolutionären Sozialisten, die Sozialistische Arbeiterpartei
(SAP) und der Internationale Sozialistische Kampfbund stellten acht,
bürgerliche Gruppierungen 37 und Katholiken vier Vertreter. Unter den
zahlreichen Schriftstellern und Intellektuellen befanden sich Heinrich und
Klaus Mann, Emil Ludwig, Lion Feuchtwanger, Ernst Toller, Ludwig Marcuse sowie
Leopold Schwarzschild.
Nach einem Referat von Erich Kuttner über den Amnestiekampf in Deutschland
wurde ein Appell an alle Menschen guten Willens verabschiedet, für die
Befreiung der Hitlergegner aus den faschistischen Kerkern einzutreten.
Während bürgerliche Vertreter auf Ausarbeitung eines Regierungsprogramms für
die Zeit nach Hitlers Sturz drängten, betonte Franz Dahlem, daß es vordringlich
um die Lösung der nächsten Aufgaben gehe. Ein Ausschuß unter Vorsitz Heinrich
Manns mit Münzenberg, Breitscheid und dem Journalisten Georg Bernhard als
ständigen Mitarbeitern wurde gebildet, um eine Plattform zur Sammlung aller
Oppositionsgruppen auszuarbeiten. Dieser später als Komitee zur Vorbereitung
einer deutschen Volksfront bezeichnete Ausschuß sollte sich aufgrund
prinzipieller Differenzen das ganze Jahr vergeblich mit programmatischen und
organisatorischen Fragen herumschlagen. Während bürgerliche und
sozialdemokratische Vertreter dem Bekenntnis der KPD zu einer »demokratischen
Republik« als taktischer Wendung kein rechtes Vertrauen entgegenbringen
wollten, kritisierten SAP und Revolutionäre Sozialisten die »Aufgabe des
Klassenkampfes und des Kampfes um den Sozialismus« zugunsten der Zusammenarbeit
mit bürgerlichen Kräften.
In einer »Kundgebung an das deutsche Volk« rief die Pariser Konferenz die
einzelnen Parteien und Gruppierungen auf, sich unter Achtung ihrer jeweiligen
Sonderziele für die Wiederherstellung der elementarsten Menschenrechte zu
vereinen. Die Veröffentlichung dieses Aufrufs am 20. Februar in den
Kominternorganen Rundschau und Inprekorr stieß auf heftigen
Einspruch der operativen Gruppe im Politbüro der KPD. Walter Ulbricht
kritisierte den Aufruf als verfrüht, da »die Beratung einer gemeinsamen Plattform
voraussetzt, daß die Vertreter der in Deutschland tätigen Organisationen, das
sind KPD, SPD und Zentrum, beteiligt sind. Bevor offizielle Vertreter der drei
Parteien sich zur Teilnahme an solchen Beratungen nicht zusammengefunden haben,
ist es zwecklos, sich mit Programmentwürfen zu beschäftigen.« Es sei zudem
schwierig, »unseren Genossen zu erklären, warum und wie wir für den Kampf um
demokratische Freiheiten sind«, gestand Ulbricht die Probleme vieler
Kommunisten mit der neuen Politik ein.
Erste Erfolge der Volksfrontbewegung waren die Bildung eines gemeinsamen
Flüchtlingskomitees unter dem Vorsitz des ehemaligen sozialdemokratischen
preußischen Innenministers Albert Grzesinski, Hilfskomitees in Straßburg und
Amsterdam sowie die ab März 1936 von Heinrich Mann, Rudolf Breitscheid, Max
Braun und Bruno Frei herausgegebenen Deutschen Informationen mit
Nachrichten über den faschistischen Terror und die Kriegsvorbereitungen des
Hitlerregimes.
»In gewissem Sinne konnte er sich eine Weile lang als repräsentative
Vertretung der deutschen Emigration betrachten, auch wenn der
sozialdemokratische Parteivorstand seinen Beitritt offiziell versagte«,
urteilte der Schriftsteller und ehemalige Münzenberg-Mitarbeiter Kurt Kersten
später über den Lutetia-Kreis. Doch im Gegensatz zur französischen
Volksfrontbewegung, die 1936 unter Léon Blum die Regierung bildete, gab es in
der deutschen Emigration keine Massenbasis. Vornehmlich auf Intellektuelle
gestützt, gelang es der Bewegung für eine deutsche Volksfront nicht, eine auch
nur annähernd umfassende Vertretung des ganzen Volkes zu werden.
»Sozialdemokraten und Kommunisten, beide von der bürgerlich gekleideten Seite,
veruneinigten sich über ihren Einfluß bei den Ärmsten – gesetzt sie wären
vorher eines Sinnes gewesen«, schrieb Heinrich Mann rückblickend in seiner
Autobiographie.
Schließlich waren die im August begonnenen Moskauer Schauprozesse genau ein
Jahr nach ihrem VII. Weltkongreß und dessen Volksfrontbeschlüssen ein Dolchstoß
in den Rücken der Komintern. So heißt es in Harald Wessels
Münzenberg-Biographie: »Mit den 16 zum Tode Verurteilten wurde auch der Geist
der Volksfront füsiliert. Denn welcher Sozialist, Sozialdemokrat, Anarchist,
christliche Humanist, Pazifist oder bürgerliche Antifaschist sollte Zutrauen
zum Bündnisangebot von Kommunisten haben, deren Moskauer Zentrale der Welt
solche Monstrositäten zumutete.«
Über hundert Vertreter des freiheitlichen deutschen Bürgertums und der
deutschen Arbeiterschaft aller Richtungen, die Anfang Februar 1936, drei Jahre
nach Beginn des gegenwärtigen deutschen Regimes, zu einer Tagung im Ausland
versammelt waren, beschließen ihre Prüfung und Aussprache einmütig wie folgt:
Sie stellen fest:
Die gegenwärtige deutsche Regierung hat die wirtschaftlichen und sozialen
Zustände durch Vergeudung, Rüstung, Zerstörung des Außenhandels und
Zertrümmerung der Kaufkraft zerrüttet. Unter diesem Regime ist fortschreitende
Verschlimmerung unausbleiblich.
Die gegenwärtige deutsche Regierung hat durch das undeutsche System der
Willkür, der Gewalt, des Gewissenszwanges und der persönlichen Bereicherung der
Machthaber eine tiefe und einheitliche Sehnsucht nahezu aller Deutschen,
ausgenommen der direkten Nutznießer des Systems, nach dem Ende dieses Terrors
und nach Wiederherstellung der elementarsten Menschenrechte ausgelöst.
Sie erklären und fordern:
1. Die Wiederherstellung dieser elementarsten Rechte geht in der Gegenwart
allem anderen voran. Die einzelnen Parteien und Gruppen werden aufgerufen, sich
zusammenzufinden und ohne Aufgabe ihrer programmatischen Ziele ihre ganze Kraft
auf die Verwirklichung folgender allgemeingültiger und fundamentaler Postulate
zu richten: Freiheit der Gesinnung, der Meinungsäußerung, der Forschung und der
Lehre, Freiheit des Glaubens und der Religionsausübung, Freiheit der Person,
Achtung der Heiligkeit des menschlichen Lebens, Rechtssicherheit und Gleichheit
vor dem Gesetz, Verantwortlichkeit und Absetzbarkeit der oberen Staatsorgane,
Kontrolle über die öffentlichen Einnahmen und Ausgaben, Ausrottung der
Korruption und der parasitären Parteiherrschaft. (...)
* Aus: Babette Groß, Willi Münzenberg. Eine politische Biographie, Stuttgart
1967, S. 293 f.