Aus: junge Welt
Ausgabe vom 27.10.2014,
Seite 1 / Titel
Mieses Spiel um Kobani
Trotz Erfolgsmeldungen im Kampf gegen Dschihadistenmiliz IS dauert deren Bombardement der
kurdischen Stadt an. Türkei will »Freie Syrische Armee« in Kobani
einsetzen
Von Nick
Brauns, Sanliurfa
Peschmerga-Kämpfer
der kurdischen Regionalregierung im Nordirak haben die irakische Stadt Zumar zurückerobert. Die Kämpfer der Miliz »Islamischer
Staat« (IS) hätten sich vollständig aus der strategisch wichtigen Stadt
zurückgezogen, meldete der Kommandant einer Peschmerga-Eliteeinheit, Scheich
Ahmad Mohammad, am Samstag. Zumar liegt zwischen der
größten von den Dschihadisten im Irak gehaltene Stadt
Mossul und den vom IS in Syrien kontrollierten
Gebieten,
Laut
Medienberichten konnten auch die Verteidiger der seit über 40 Tagen von IS
angegriffenen Stadt Kobani (arabisch: Ain Al-Arab) im Norden Syriens in
den letzten Tagen Boden gutmachen. »Die seit Wochen andauernden Luftschläge der
internationalen Koalition bringen die Terrormiliz Islamischer Staat in der
Stadt allmählich in Bedrängnis«, meldete der Sender NTV am Samstag.
Solchen Erfolgsmeldungen steht die für Beobachter vor Ort sichtbare Realität
entgegen, dass die Innenstadt von Kobani sowie das
Gebiet um den Grenzübergang zur Türkei in den letzten Tagen massiv aus Panzern,
Raketenwerfern und Mörsern des IS beschossen wurde.
»Weil sie angesichts des starken Widerstands ihre Hoffnung auf einen Sieg
verloren haben, bombardieren die IS-Banden die von Zivilisten bewohnten
Gebiete«, erklären die Volksverteidigungseinheiten (YPG) den Widerspruch
zwischen ihren Meldungen über schwere Verluste des IS einerseits und dem
massiven Bombardement andererseits. Über den Fernsehsender Nuce verbreitete
Aufnahmen aus Kobani zeigen ganze Straßenzüge in
Trümmern. Jeden Tag würden neue Leichen getöteter YPG-Kämpfer ins Krankenhaus
von Suruc gebracht, bestätigte ein Mitarbeiter der
Stadtverwaltung der grenznahen Stadt in der Türkei.
US-Luftangriffe reduziert
Die
Luftangriffe der US-geführten Allianz gegen den IS waren in den vergangenen
Tagen an einer Hand abzuzählen. So entsteht der Eindruck, die Kampfflugzeuge
schössen ihre Raketen rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit ab, solange die
Vertreter der internationale Presse noch im Grenzgebiet versammelt sind,
während die Artillerie des IS anschließend die ganze Nacht lang ungestört
weiterfeuern kann. »Die USA wollen den IS nicht vernichten, sondern lediglich
schwächen. Sie setzten darauf, dass sich die Kurden und der IS gegenseitig
aufreiben«, vermutet der Vorsitzende der prokurdischen Partei der
Demokratischen Regionen (DBP) von Sanliurfa, Celal Erkmen, gegenüber junge Welt.
Am Freitag abend hatte die türkische Armee unter Einsatz von Reizgas
zwei von der Presse, aber auch Bewohnern umliegender Dörfer zur Beobachtung
genutzte Hügel nahe Kobani aus angeblichen
Sicherheitserwägungen geräumt. Einwohner der Grenzdörfer vermuten allerdings,
dass so türkische Unterstützung für den IS vertuscht werden soll. Nahe der
Grenze aufgefahrene türkische Panzer hätten das Feuer auf die von der
YPG-kontrollierten Westseite von Kobani eröffnet,
behaupten Dorfbewohner. Vor der Räumung des »Pressehügels« war aber ein
türkischer Kampfpanzer dabei zu beobachten, wie er in eine Gefechtsstellung auf
einer Hügelkuppe fuhr - das Geschützrohr auf Kobani
gerichtet.
Warten auf Peschmerga
Weiter geht
das Verwirrspiel um Peschmergakräfte, die mit
panzerbrechenden Waffen Kobani zur Hilfe kommen
sollen. Der Zeitpunkt ihres Eingreifens sei militärisches Geheimnis,
dementierte das Verteidigungsministerium der kurdischen Regionalregierung im
nordirakischen Erbil Presseberichte, wonach sich die auf 150 bis 200 Mann
bezifferten Kämpfer am Sonntag über die Türkei auf den Weg machen würden.
Ankara beharre auf erkennungsdienstliche Behandlung der Peschmerga, damit sich
keine gesuchten PKK-Kämpfer darunter mischten, erfuhr junge Welt aus
Kreisen der DBP.
Offenbar
handelt es sich um ein Spiel auf Zeit, denn gleichzeitig machte sich der
türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan für den
Einsatz von 1.300 von der Türkei zum Kampf gegen die syrische Regierung
hochgerüsteten Kämpfern der Freien Syrischen Armee (FSA) in Kobani
stark. Auf kurdischer Seite wird das als vergiftetes Angebot verstanden, da die
FSA mehrheitlich der Selbstverwaltung in Rojava
feindlich gegenübersteht. »Wir stehen zwar mit der FSA in Kontakt, aber bislang
wurde kein Abkommen getroffen«, widersprach der Kovorsitzende
der in den syrischen Kurdengebieten politisch führenden Partei der
Demokratischen Union (PYD) Salih Muslim am Samstag Erdogans
Behauptung, wonach die PYD einem FSA-Einsatz zugestimmt habe. Anstatt in das
kurdische Selbstverwaltungsgebiet zu kommen, solle die FSA eine zweite Front
gegen den IS zwischen Aleppo und Kobani eröffnen,
forderte Muslim.
Eine
Kooperation mit der FSA müsste im Rahmen von »Euphrat-Vulkan« stattfinden,
erklärte die YPG unter Bezugnahme auf dieses im September mit einigen
FSA-Brigaden geschlossenen Verteidigungsbündnis gegen den IS.