Aus: junge Welt Ausgabe vom 23.07.2016, Seite 15 / Geschichte

Hüterin des Kapitals

Die türkische Armee verstand sich einst als Schutzmacht einer laizistischen Republik. Doch lange schon verfolgt sie eigene ökonomische Zwecke

Von Nick Brauns

 

Die von der türkischen Armee lange beanspruchte Rolle als Hüterin der Republik geht auf ihr Wirken als Geburtshelferin der modernen Türkei im Jahr 1923 zurück. An der Spitze der Republik standen mit Mustafa Kemal Atatürk und seinem Nachfolger Ismet Inönü Generäle aus dem vorangegangenen Befreiungskrieg. Mangels einer entwickelten nationalen Bourgeoisie wurden die in die Politik gewechselten Militärs zur treibenden Kraft der unvollendet gebliebenen bürgerlichen Revolution der Kemalisten, die zum Aufbau eines säkularen Nationalstaates auf den Trümmern des Osmanischen Reiches führte.

Als 1950 die konservative Demokratische Partei (DP) von Ministerpräsident Adnan Menderes die Alleinregierung der kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP) beendete, büßten die Militärs an Ansehen ein und verloren wirtschaftliche Privilegien an emporgekommene Unternehmer. Doch bis zum Ende des Jahrzehnts hatte die DP mit ihrer antidemokratischen, einseitig die Großgrundbesitzer begünstigenden Politik weite Teile der Bevölkerung gegen sich aufgebracht. Bevor die Massenproteste im Land in eine revolutionäre Stimmung umschlagen konnten, putschte sich die Armee am 27. Mai 1960 im Namen der Restauration des Kemalismus an die Macht. Die DP wurde verboten, Menderes und zwei Minister hingerichtet.

Das vornehmlich aus unteren und mittleren Dienstgraden des Offizierskorps gebildete »Komitee der Nationalen Einheit« bekräftige umgehend seine Loyalität zur NATO. Es ließ eine neue Verfassung ausarbeiten, die mit der Festschreibung demokratischer und sozialer Rechte die bislang fortschrittlichste der türkischen Geschichte war. Dahinter stand die Intention der kemalistischen Eliten, sich fortan ihre Privilegien durch die Ausweitung ihrer Unterstützerbasis auf neue städtische Schichten einschließlich der Arbeiterklasse zu sichern. Weitere Umsturzversuche eines radikalen Flügels der Militärs um Oberst Talat Aydemir, der einen Verrat an den Idealen der »Revolution vom 27. Mai« beklagte, scheiterten 1962 und 1963.

Solderhöhungen und die Gründung des innerhalb weniger Jahre zu einem der größten Konzerne der Türkei aufgestiegenen Pensionsfonds der Streitkräfte (Oyak) ließen die oft aus armen Elternhäusern stammenden Offiziere zur privilegiertesten Kaste innerhalb der Staatsbürokratie aufsteigen. So wandelte sich das Offizierskorps von einem Hort reformorientierter Links­intellektueller in den 50er Jahren zu einer konservativen, in das kapitalistische System eingebundenen Gruppe, der es um Besitzstandswahrung ging.

Geblendet von der Verfassung, die erstmals die Bildung sozialistischer Vereinigungen zuließ, verkannte ein Großteil der Linken den Charakter der Armee. So forderten die Anführer der türkischen 68er Studentenbewegung, die »Schicht der Intellektuellen aus Militär und Zivilleben« sollte die Führung einer antiimperialistischen und antifeudalen »Nationaldemokratischen Revolution« übernehmen.

Entsprechend applaudierte fast die gesamte Linke dem Generalstab, als dieser am 12. März 1971 den Rücktritt der konservativen Regierung von Süleyman Demirel erzwang. Doch innerhalb weniger Tage zerschlug sich der Mythos vom »revolutionären Potential« der Armee, als die Organisationen der Linken und der Arbeiterbewegung verboten und ihre Aktivisten verhaftet, gefoltert und hingerichtet wurden.

Nach einem halben Jahrzehnt politischer Instabilität, bürgerkriegsähnlicher Auseinandersetzungen und wirtschaftlicher Zerrüttung konnte der nächste Militärputsch vom 12. September 1980 auf die Unterstützung weiter Teile der verunsicherten Bevölkerung zählen. Mit dem vom Putschistenchef General Kenan Even geführten »Amt für besondere Kriegführung« als türkischem Ableger der NATO-Geheimarmee Gladio hatte die Armeeführung selbst durch Massaker, Pogrome und Überfälle der faschistischen Grauen Wölfe für diesen Zustand der Spannung gesorgt. Der NATO ging es darum, angesichts einer Millionen Anhänger zählenden radikalen Linken in der Türkei die Stabilität an ihrer östlichen Flanke herzustellen. Zudem sollten die vom Internationalen Währungsfonds geforderten neoliberalen Reformen mit harter Hand gegen eine widerständige Arbeiterklasse umgesetzt werden. Entgegen ihrem Anspruch, Hüterin der säkularen Ordnung zu sein, förderten die Militärs nun religiöse Strömungen als Gegengewicht zur Linken. Sie ließen Moscheen bauen und den Religionsunterricht einführen.

Bis heute hat die 1982 von den Militärs oktroyierte Verfassung Gültigkeit. Eine Extraklausel stellte sicher, dass »Empfehlungen« des aus den Spitzen der Streitkräfte gebildeten Nationalen Sicherheitsrat (MGK) im Parlament Priorität haben. Entsprechend reichte am 28. Februar 1997 ein Memorandum des Militärs, um die Regierung von Ministerpräsident Necmettin Erbakan, der die Türkei in einen Gottesstaat verwandeln wollte, zum Rücktritt zu zwingen.

Die 2002 an die Regierung gewählte Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) des Erbakan-Schülers Recep Tayyip Erdogan wagte im Bündnis mit der in Polizei und Justiz einflussreichen Bewegung des Predigers Fethullah Gülen die Auseinandersetzung mit dem Militär. Zwischen 2007 und 2013 wurden Hunderte Offiziere und Generäle einschließlich des früheren Generalstabschefs Ilker Basbug aufgrund gefälschter Beweise verhaftet und wegen Bildung einer angeblichen Putschistenloge namens Ergenekon zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Der MGK wurde um Repräsentanten der zivilen Staatsführung erweitert.

Diese Säuberung der Streitkräfte wäre ohne grünes Licht aus Washington nicht möglich gewesen. In der NATO hatte sich die Überzeugung durchgesetzt, dass die verknöcherten, staatsfixierten säkularen Staatsbürokraten die der Türkei zugedachte Rolle als Trojanisches Pferd des Westens in der islamischen Welt nicht mehr erfüllen konnten. Statt dessen wurde die AKP als neoliberale »muslimisch-demokratische Alternative« beworben.

Nach dem Zerwürfnis zwischen AKP und Gülen-Bewegung 2013 suchte Erdogan das Bündnis mit dem Militär. Die verurteilten angeblichen Mitglieder der Putschloge kamen frei. Das Wohlwollen der weitgehend auf AKP-Kurs gebrachten Armeeführung erkaufte sich Erdogan mit Vollmachten im Krieg gegen die Kurden einschließlich der Straffreiheit für Soldaten, denen Kriegsverbrechen vorgeworfen werden.

Zwar wurde bei der neokonservativen Strategieschmiede American Enterprise Institute bereits im Frühjahr über einen Sturz des aus US-Sicht unberechenbaren türkischen Präsidenten nachgedacht. Doch solange Erdogan die materiellen Privilegien der Offiziere nicht antastet, lässt sich nur noch eine Minderheit in der mit 600.000 Soldaten zweitstärksten NATO-Armee für solche Pläne gewinnen. Denn längst sieht die Truppe den Schutz der kapitalistischen Ordnung und nicht mehr der säkularen Republik als ihre primäre Aufgabe an.

 

Militärs als Kapitalisten

Auf Empfehlung US-amerikanischer Berater wurde neun Monate nach dem Putsch von 1960 der »Fonds für gegenseitige Hilfe der Streitkräfte« (Oyak) geschaffen. Offizielle Aufgabe des Fonds, in den alle Berufs- und Reserveoffiziere zehn Prozent ihres Soldes einzahlen müssen, ist der Aufbau eines sozialen Sicherungssystems für Armeeangehörige. So soll Familien der im Dienst getöteten Soldaten ein Auskommen gesichert und durch Einmalzahlung der Übergang von Berufssoldaten in den Ruhestand unter dem Motto »Ein Haus und ein Auto« ermöglicht werden. Dank staatlicher Zuschüsse und Steuerbefreiung wuchs Oyak, in dessen Vorstand aktive Militärs laut Gesetz die Mehrheit stellen müssen, innerhalb weniger Jahre zu einer der mächtigsten Holdings der Türkei heran. »Der einstige soziale Revolutionseifer der türkischen Militärs ist dahin. Der Grund: Die Armee ist zweitgrößter Konzernchef des Landes«, erkannte der Spiegel Anfang 1979 besser als viele Linke in der Türkei den Klassencharakter der Truppe. Zur Oyak gehören heute Dutzende Unternehmen mit 30.000 Beschäftigten, darunter das türkische Partnerunternehmen des französischen Automobilherstellers Renault ebenso wie Bergwerke, Stahlbetriebe, Lebensmittelfirmen sowie eine eigene Bank. So viel Reichtum weckt Begehrlichkeiten. Im Mai dieses Jahres traten der Vorstandsvorsitzende Coskun Ulusoy und weitere Führungskräfte mit militärischem Hintergrund überraschend zurück. Ulusoys Nachfolger wurde mit Süleyman Savas Erdem ein Erdogan nahestehender Beamter.


Nick Brauns