junge Welt 18.09.2010
/ Geschichte / Seite 15
Moabiter Unruhen
Vor 100 Jahren kam es in
Berlin zu tagelangen Straßenkämpfen mit der Polizei
Von Nick
Brauns
Um Pfennige
kämpften wir damals – um Pfennige, die uns bitter zum Leben fehlten für Brot
und Margarine, für Milch für mein Sechstes. Wir wehrten uns mit nackten Fäusten
gegen die schießwütigen Streikbrecher und ihre säbelrasselnden Beschützer«, schildert
ein Arbeiter die tagelangen sozialen Unruhen im Berliner Stadtteil Moabit im
September 1910. Kaum ein anderes Berliner Viertel war so von Arbeitern
dominiert wie das westliche Moabit, wo sich im Beusselkiez
Großunternehmen wie der Waffenhersteller Loewe und der Elektrokonzern AEG
angesiedelt hatten.
Auslöser der »Moabiter Unruhen« war ein Streik von 136 Kohlearbeitern und
Kutschern bei der Kohlehandlung Kupfer & Co. in der Sickingenstraße
ab dem 19. September. Angesichts eines deutlichen Preisanstiegs für
Lebensmittel forderten die Arbeiter eine Anhebung ihres seit Jahren nicht
erhöhten Stundenlohns von 43 auf 50 Pfennig und die Kutscher ihres Wochenlohns
von 30 auf 33 Mark. Die Geschäftsführung verweigerte jegliche Verhandlungen mit
der Lohnkommission und hinterlegte die Arbeitspapiere der Streikenden bei der
Polizei. Angestellte wurden als Streikbrecher eingesetzt. »Die Kohlenwagen der
Firma werden von acht berittenen Schutzleuten eskortiert, zu denen sich noch
einige Schutzleute zu Fuß gesellen. Dienstag morgen
verließen sechs Kohlenwagen der Firma den Platz, die von etwa fünfzig
Berittenen und fünfzig Schutzleuten zu Fuß begleitet wurden«, berichtete die
sozialdemokratische Tageszeitung Vorwärts. Kupfer heuerte auch gewerbsmäßige
Streikbrecher an, die mit Pistolen bewaffnet wurden. »Ick
breche jeden Streik«, rühmte sich der Organisator der berüchtigten
»Hintze-Garde« seiner Schlägertrupps. »Wenn ick mir
meine Leute aussuche, seh’ ick
erst druff, det se ne jute Handschrift schreiben mit de Ballkelle, det ist die Hauptsache, denn keß
und kiebig missen wir sind.«
Nachts rissen die Streikenden das Straßenpflaster vor den Kohlenlagern auf, um
den Transport zu verhindern. Die Solidarität der Bevölkerung mit den
Streikenden war so groß, daß ein Kaufhaus an der
Turmstraße nach der Plünderung eines Schaukastens durch aufgebrachte junge
Frauen auf einem Plakat verkünden mußte, keine
Streikbrecher mit Lebensmitteln und Schlafdecken zu beliefern.
Als Streikposten am 24. September einem »Arbeitswilligen« die Kohlen vom Wagen
holten, zog dieser eine Pistole und schoß wild um
sich. Doch anstatt gegen den Schützen vorzugehen, schritt die anwesende Polizei
mit gezogenem Säbel gegen die empörte Bevölkerung ein, die sich mit Flaschen-
und Steinwürfen wehrte. Der Ruhrindustrielle Hugo Stinnes, zu dessen
Wirtschaftsimperium die Kohlenhandlung Kupfer gehörte, bat in einem Telegramm
an den preußischen Innenminister »dringend um Gestellung ausreichenden
polizeilichen Schutzes«. Die Zahl der eingesetzten Polizisten wurde auf 1000
erhöht. »Durch Moabit wurde ein dichter Polizeikordon gezogen. Die Sickingen-, Rostocker-, Berlichingenstraße waren
vollgepfropft mit Blauen«, schilderte ein Arbeiter. »Kriminalpolizei mischte
sich in Arbeiterkleidung unter die Ansammlungen.«
Exzessive Polizeigewalt
Nach
Zusammenstößen von Polizisten und Streikbrechern mit Arbeitern von Loewe und
AEG, die sich mit dem Kohlenarbeiterstreik solidarisiert hatten, eskalierten
die Auseinandersetzungen immer weiter. An den bis zum 29. September dauernden Straßenkämpfen,
bei denen es zu Plünderungen von Geschäften und Gastwirtschaften kam,
beteiligten sich nach polizeilichen Schätzungen 20000 bis 30000 Personen. Vor
allem bei der »Schlacht in der Rostockerstraße« ging in der Nacht auf den 28.
September ein Hagel von Blumentöpfen und Geschirr aus den Fenstern auf die
Polizei nieder, die den Belagerungszustand über den Beusselkiez
verhängt hatte. Ein Augenzeuge – ein Monarchist – schilderte später: »Zwischen
12 und ein Uhr nachts ertönte plötzlich auf der Straße lautes Schreien. (…) Wir
sahen mehrere Leute, die über den Straßendamm flüchteten und von Schutzleuten
mit gezogenem Säbel verfolgt wurden. An der Ecke wurde auf die Flüchtenden von
hinten mit dem Säbel eingeschlagen. Als sie zu Boden stürzten, schlugen und
stachen die Schutzleute auf die am Boden Liegenden wie toll ein.«
Verprügelt wurden auch vier britische und US-amerikanische Journalisten, die
das Vorgehen der preußischen Polizei anschließend international bekannt
machten. Auf ein erneutes Schreiben von Stinnes hin, der sogar den Einsatz der
Armee forderte, hatte Polizeipräsident Traugott von Jagow
Schießbefehl gegeben. »Und dann knallte es durch die Gegend, mitten hinein in
die erregten Menschen, die weiter nichts taten, als ihre Lebensrechte zu verteidigen.
Als es an diesem Abend still wurde, lagen zwei Arbeiter in ihrem Blute auf der
Straße, und einige hundert Männer und Frauen waren verletzt«, schilderte ein
Arbeiter.
Angesichts der polizeilichen Übermacht und der abwiegelnden Haltung des Transportarbeiterverbandes
ging der Streik der Kohlenarbeiter verloren. An dem massenhaften spontanen
Protest gegen Unternehmerwillkür und Polizeibrutalität hatten sich vor allem
unorganisierte Arbeiter beteiligt. Die Führung der Berliner Sozialdemokratie,
die sich gegenüber dem Kohlenarbeiterstreik passiv verhalten hatte, bot den
Behörden angesichts der militanten Proteste dagegen an, »an der sofortigen
Wiederherstellung der Ruhe mitzuarbeiten«.
Während der Vorwärts von »Polizeiunruhen« schrieb und Sozialdemokraten auf
reichsweiten Kundgebungen gegen Polizeiterror protestierten, wies die
Parteiführung zugleich jede Verantwortung für die Unruhen zurück. Karl
Liebknecht beschuldigte im preußischen Abgeordnetenhaus Lockspitzel der
politischen Polizei, und der rechte Sozialdemokrat Eduard David distanzierte
sich im Reichstag ausdrücklich vom »Janhagel« (norddt. für Pöbel).
Der Versuch, durch die Anklage gewerkschaftlich oder in der Partei
organisierter Arbeiter der Sozialdemokratie die Schuld zu geben, scheiterte. 14
von 18 wegen Landfriedensbruchs angeklagte Arbeiter erhielten in den folgenden
Monaten eine vergleichsweise geringe Gesamtstrafe von 67einhalb Monaten Haft.
Den Anwälten, darunter Theodor Liebknecht, Wolfgang Heine und Kurt Rosenfeld,
war es gelungen, mit Hilfe zahlreicher Zeugen das Gericht von den
Polizeiexzessen zu überzeugen. Der wegen eines Messerangriffs auf einen
Polizisten zu dreieinhalb Jahren verurteilte Arbeiter Bock erhängte sich im
Untersuchungsgefängnis – auf ihren Ruf bedacht, hatte die SPD sich geweigert,
ihr im Vorwärts als »geistig minderwertiger Mensch« tituliertes und mehrfach
vorbestraftes Mitglied durch ihre Anwälte zu verteidigen.
Die Witwe eines durch Säbelhiebe getöteten Arbeiters kämpfte jahrelang um
Schadensersatz. Die uniformierten Arbeitermörder galten als »nicht auffindbar«.
Wenn »Neugierige« zu Schaden gekommen seien, so sei das nicht zu vermeiden
gewesen, tönte Jagow: »Der Ehrenschild unserer
Schutzmannschaft ist rein. Sie hielt tadellose Manneszucht.«
95 Polizisten erhielten für ihren Einsatz gegen die Bevölkerung eine
Auszeichnung. Hugo Stinnes zeigte sich erkenntlich für die energische
Verteidigung seiner Profite und spendete der Berliner Polizei 10000 Mark.
Uns kann der Herr Reichskanzler nicht den Vorwurf machen,
daß wir den Janhagel (norddt. für Pöbel – d.Red.) nicht im Zaume hielten. Wir haben nicht die Macht
dazu; die Macht dazu hat die Behörde. Wenn die es nicht fertigbringt, so trifft
uns keine Schuld. Der Janhagel ist der Bodensatz der Gesellschaft, und daß sich ein solcher Bodensatz anhäuft in einer großen
Stadt wie Berlin, daran sind wir nicht schuld, das ist das Produkt der
bestehenden kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Tausende von Menschen kommen
da unter die Räder der Gesellschaft, zum Teil infolge erblicher Belastung,
Krankheit usw. Daß also in einer Großstadt
Saufbrüder, Radaubrüder usw. sich herumtreiben, ist nicht unsere Schuld. Diesen
Janhagel lassen wir uns nicht an die Rockschöße hängen, den behalten Sie
gefälligst, die Sie die Verantwortlichkeit für diese Zustände tragen! Ich will
nebenbei bemerken, unter diesen Radau- und Saufbrüdern befinden sich manche
Persönlichkeiten, die, wenn sie nicht als arme Teufel auf die Welt gekommen
wären, sondern als Söhne hochstehender Eltern, vielleicht in das Korps Borussia
eingetreten wären und dort eine hervorragende Rolle spielten; denn da würde man
dieses Radaumachen und Saufen als hohen Vorzug ansehen.«