Aus: junge Welt Ausgabe vom 28.01.2015, Seite 6 / Ausland

Mythos gebrochen

»Islamischer Staat« nach 133 Tagen aus syrisch-kurdischer Stadt Kobani vertrieben. Verteidiger sehen Gefahr dennoch nicht gebannt

Von Nick Brauns

Als »Sieg der Freiheit über die Dunkelheit« bezeichnete das Generalkommando der kurdischen Volksverteidigungskräfte YPG am Montag abend die Befreiung der nordsyrischen Stadt Kobani (arabisch: Ain Al-Arab). 133 Tage lang hatte die Terrororganisation »Islamischer Staat« (IS) die hauptsächlich von Kurden bewohnte Stadt belagert und zeitweise große Teile erobert. Seit Montag ist das vorbei. In kurdischen Städten in der Türkei lösten die Siegesnachrichten spontane Jubelfeiern aus. Nun müsste noch das Umland von Kobani befreit werden, erklärte das YPG-Generalkommando.

Die Befreiung von Kobani habe bewiesen, dass ein gerechter Widerstand nicht zu besiegen sei, erklärte die Co-Vorsitzende der sozialistisch-kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD), Asia Abdullah, die während der Kämpfe in der Stadt geblieben war. »Der Widerstand in Kobani hat den Mythos der Unbesiegbarkeit des IS nun endgültig gebrochen Das werde allen Menschen, die in Syrien und im Irak gegen den IS kämpfen Hoffnung geben. Abdullah warnte zugleich, dass der Sieg nicht gleichbedeutend mit einem Ende der Gefahr sei. Der IS sammele seine Kräfte für weitere Angriffe auf die kurdische Selbstverwaltungsregion. Auch sei jetzt internationale Unterstützung beim Wiederaufbau der in weiten Teilen zerstörten Stadt erforderlich, damit die in die Türkei geflohene Zivilbevölkerung in ihre Häuser zurückkehren kann.

Kobani, der kleinste der drei Selbstverwaltungskantone im von Kurden Rojava genannten Norden Syriens, war schon mehrfach Ziel von Angriffen radikaler Dschihadisten, die stets zurückgeschlagen werden konnten. Doch beim letzten, Mitte September 2014 begonnenen, Großangriff setzte der IS schwere Waffen einschließlich Dutzender Panzer ein, die er zuvor im irakischen Mosul erbeutet hatte. Dem waren die nur leicht bewaffneten kurdischen Einheiten nicht mehr gewachsen. Unterstützung erhielten die Angreifer zudem aus der Türkei. So wurden ihnen in den Tagen vor der Offensive mit Zügen Waffen und Munition an die Grenze geliefert. Zudem konnten die IS-Kämpfer ihre Verwundeten in türkischen Krankenhäusern versorgen und in mindestens einem Fall ermöglichte ihnen die türkische Armee einen Angriff von türkischem Territorium aus auf Kobani.

Doch die Hoffnung des IS auf einen schnellen Sieg wurde durch die Guerillataktik der YPG verhindert. Nach einem auf drei Wochen ausgedehnten Rückzug aus den Dörfern des Kantons, der die Flucht der Zivilbevölkerung ermöglichte, verwickelten sie die Miliz im Stadtgebiet von Kobani in einen verlustreichen Häuserkampf. Sprecher des US-Verteidigungsministeriums hatten, zu dem Zeitpunkt, an dem die US-Luftwaffe bereits IS-Stellungen im Irak und in Syrien bombardierte, erklärt, der Fall Kobanis sei nicht auszuschließen. Erst in Reaktion auf den Widerstand in der Stadt begann die US-geführte Koalition, auch bei Kobani verstärkt Angriffe zu fliegen. Andernfalls hätte die Supermacht ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt. Die bald nur noch sporadisch geflogenen Luftangriffe stabilisierten zwar die Front der Verteidiger, doch sie verschonten die Nachschubrouten des IS weitgehend. So entstand der von Beobachtern kurdischer und sozialistischer Parteien vor Ort bekräftigte Eindruck, die USA zielten nicht auf Vernichtung des IS, sondern setzten auf ein gegenseitiges Aufreiben der Dschihadisten und der kurdischen Milizen.

Die militärische Wende brachten 150 Peschmerga-Kämpfer der irakisch-kurdischen Regionalregierung, die ab November mit dringend benötigten panzerbrechenden Waffen den YPG-Einheiten Feuerschutz gaben. Auf Seiten der YPG kämpften zudem mehrere hundert arabische Mitglieder der »Freien Syrischen Armee«, Internationalisten der Marxistisch-Leninistisch-Kommunistischen Partei (MLKP) aus der Türkei und Freiwillige aus aller Welt. Wie viele Menschenleben der Krieg in Kobani gekostet hat, ist noch unklar. Schätzungen gehen von bis zu 500 Gefallenen auf Seiten der Verteidiger und einer mindestens doppelt so hohen Zahl getöteter IS-Kämpfer aus.