Aus: junge
Welt vom 15.03.2021
Rache der Nemesis
Vor 100 Jahren wurde Talaat
Pascha, der Architekt des Armenier-Genozids, von einem armenischen Revolutionär
in Berlin erschossen
Von Nick Brauns
Am 15. März 1921 um viertel vor elf
verließ Talaat Pascha seine Wohnung in der Hardenbergstraße 4 in Berlin-Charlottenburg, um zum
Zeitungskiosk zu gehen. Auf der anderen Straßenseite wartete ein junger Mann.
Er zog einen Parabellum-Revolver (9 mm) aus der
Tasche und tötete den einstmals mächtigsten Mann des Osmanischen Reiches mit
mehreren Schüssen.
Der 1874 in Adrianopel
geborene Mehmet Talaat, der ursprünglich eine
Beamtenlaufbahn bei der osmanischen Post eingeschlagen hatte, gilt als
politischer Kopf des jungtürkischen Komitees für Einheit und Fortschritt. Unter
seinem Einfluss radikalisierte sich diese Partei, die in der jungtürkischen
Revolution 1908 noch mit liberalen Überzeugungen zur Rettung des maroden
Reiches angetreten war. 1913 putschte sich schließlich ein Triumvirat aus Talaat als Innenminister, Kriegsminister Enver und
Marineminister Djemal an die Macht. Unter dem
Eindruck des Verlustes der europäischen Gebiete in den Balkankriegen 1912/13
und der von anderen Großmächten ermutigten Separationsbestrebungen christlicher
Nationen wie der Armenier hatte sich bei den Jungtürken die Überzeugung
durchgesetzt, den weiteren Zerfall des Vielvölkerreiches nur durch dessen
ethnische Homogenisierung zu einem türkisch-muslimischen Nationalstaat
aufhalten zu können.
Die Chance zur Umsetzung ihrer in der
Konsequenz genozidalen Pläne bot sich im Weltkrieg,
dem die jungtürkische Regierung auf Seiten der Mittelmächte beigetreten war. Talaat ordnete 1915 die Deportation der Armenier, denen er
Kollaboration mit dem russischen Kriegsgegner vorwarf, »ins Nichts« an. Gemeint
war die mesopotamische Wüste, wo die Armenier – soweit sie nicht vorher
auf Todesmärschen von kurdischen Banden ermordet und ihre Frauen verschleppt
worden waren – an Hunger und Durst zugrunde gingen. Bis zu 1,5 Millionen
Christen fielen dieser Politik zum Opfer. Als Großwesir stand Talaat an der Spitze eines autoritär-zentralistischen
Einparteienstaates, der viele Züge späterer faschistischer Regime trug.
Angesichts der Kriegsniederlage und eines Auslieferungsersuchens der Alliierten
floh Talaat im Oktober 1918 mit einem deutschen
Torpedoboot nach Berlin. Dort lebte er, protegiert vom Auswärtigen Amt,
inkognito mit seiner Frau in einer Neunzimmerwohnung und bereitete seine
politische Rückkehr in die Türkei vor, als er Opfer des Attentats wurde.
»Ich habe einen Menschen getötet, doch
ein Mörder bin ich nicht«, erklärte der Attentäter, Soghomon
Tehlirian, am 2. Juni 1921 vor dem Moabiter
Landgericht. In erschütternden Worten schilderte der in Erzincan
geborene 24jährige Armenier die von Talaat zu
verantwortenden Greueltaten an seinen Landsleuten.
Dies sei »der erste wirkliche Kriegsverbrecherprozess«, befand die
sozialdemokratische Tageszeitung Vorwärts. »Nur mit der einen Einschränkung,
dass nicht der Kriegsverbrecher, sondern der Rächer unter Anklage stand. Aber
in Wirklichkeit saß in diesen zwei Tagen auf der Anklagebank der blutbefleckte
Schatten Talaat Paschas.«
Die deutsche Regierung hatte allerdings kein Interesse daran, das Schicksal der
Armenier vor den Augen der Weltöffentlichkeit in einem deutschen Gerichtssaal
zur Sprache kommen zu lassen. Denn als engster militärischer Verbündeter der
Türkei trug das deutsche Kaiserreich erhebliche Mitschuld an den Verbrechen. So
fiel nach nur zwei Tagen bereits das Urteil. Die Geschworenen befanden Tehlirian für »nicht schuldig«, da er zum Tatzeitpunkt
psychisch unzurechnungsfähig gewesen sei.
Das Gegenteil war der Fall. Zwar hatte Tehlirian Dutzende Verwandte im Genozid verloren. Doch er
war kein harmloser Student, der zufällig in Talaat
den Verantwortlichen für den Tod seiner Familie erkannt hatte, wie er vor
Gericht behauptete. Vielmehr war der junge Armenier ein Nationalrevolutionär,
der bereits im Krieg als Angehöriger eines armenischen Freiwilligenbattailons
auf Seiten der russischen Armee gekämpft hatte. Anschließend trat Tehlirian einer von Armeniern in den USA finanzierten und
geleiteten Verschwörerorganisation bei, die unter dem
Namen der griechischen Rachegöttin Nemesis operierte. Ziel war es, die von
einem Tribunal in Konstantinopel in Abwesenheit zum Tode verurteilten,
geflohenen Hauptverantwortlichen für die Ausrottung der Armenier ihrer Strafe
zuzuführen. Acht führende Jungtürken fielen zwischen 1920 und 1922 der Operation
Nemesis zum Opfer, drei davon in Berlin. Diesen Völkermordverantwortlichen zu
Ehren trägt die Moschee des türkischen Islamverbandes DITIB am Columbiadamm, wo
zwei der Toten begraben liegen, bis heute den Namen Sehitlik
Cami (Märtyrermoschee).
Die sterblichen Überreste Talaats wurden 1943 von den Nazis mit militärischen Ehren
in die Türkei überführt. Dort sind bis heue Straßen und Schulen nach Talaat benannt, den der Schweizer Historiker Hans-Lukas Kieser im Titel seiner fulminanten, nun auch auf Türkisch
erschienenen politischen Biographie als »Vater der modernen Türkei, Architekt
des Genozids« bezeichnet. Die Leugnung des Genozids gehört bis heute zur
Staatsräson der von Mustafa Kemal Atatürk auf dem Fundament von Talaats Regime errichteten Türkischen Republik, während die
von den Jungtürken begonnene Politik der erzwungenen ethnischen Homogenisierung
bis heute ihre Fortsetzung findet, – nunmehr gegen Kurden und Aleviten.